# taz.de -- SERIE BERLIN 2020 (TEIL 1): Wohnen: Willkommen im urbanen Dorf | |
> Wie wir in zehn Jahren wohnen, weiß die Immobilienwirtschaft offenbar am | |
> besten. In den Innenstädten wird das Wohnen zur begehrten Ware, in | |
> anderen Quartieren rückt man enger zusammen. Die Kluft wächst. | |
Bild: Wird vielleicht im Jahr 2200 hip: Plattenbau in Marzahn | |
Wie schnell sich die Welt, auch die des Wohnens, verändern kann, zeigte bis | |
vor Kurzem eine Schau an der TU über die Berliner Städtebauausstellung von | |
1910. Zentrales Thema war, wie Berlin, aber auch London, Paris und Chicago | |
das rasante Wachstum zur Metropole vor hundert Jahren bewältigten. Doch | |
schon zehn Jahre und einen Weltkrieg später war alles anders. Statt | |
Mietskasernen baute man Reformsiedlungen, die staatliche | |
Wohnungsbewirtschaftung ersetzte den "freien Markt" der | |
Terraingesellschaften, die Regionalplanung schuf aus sechs Städten und 59 | |
Landgemeinden "Groß-Berlin". | |
Die Aussagekraft von Zukunftsszenarien ist also begrenzt. Auch deshalb legt | |
Harald Bodenschatz Wert darauf, dass es neben Kontinuitäten in der | |
Wohnungspolitik immer auch Diskontinuitäten gegeben habe. Soll heißen: Es | |
ist zwar wahrscheinlich, dass sich 2020 in Berlin nicht allzu viel | |
gegenüber 2010 geändert haben wird. Es kann aber auch ganz anders kommen. | |
Die Immobilienwirtschaft ist da weniger skeptisch. Was heute geplant und | |
morgen gebaut wird, muss sich übermorgen verkaufen. Trends sind nicht nur | |
empirisch messbare Marktanalysen, sondern auch ein Verkaufsargument. Wer | |
etwas auf sich hält, will dazugehören. Der Megatrend des Wohnens heißt | |
heute "Zurück in die Stadt". Dort entstehen die Must-haves des urbanen | |
Trendsets: Townhouses, Wohngärten, urbane Dörfer am Puls der Zeit und den | |
angesagten Kiezen. Zwar bezweifeln Stadtsoziologen, ob diese "Renaissance | |
der Innenstadt" tatsächlich ein mehr an Stadt bedeutet - oder aber den | |
Einzug der Provinz ins städtische Leben. Den Projektentwicklern kann derlei | |
Spitzfindigkeit egal sein. Selbst in Städten wie Berlin, in denen die | |
Bevölkerungsentwicklung stagniert, verkauft sich alles, was Dazugehörigkeit | |
verspricht. | |
Will man wissen, wie das Wohnen der Zukunft aussieht, muss man also in den | |
Katalogen der Projektentwickler blättern. Jedes Neubauprojekt ist ein | |
Versprechen auf die Zukunft und zugleich ein Bild von ihr. Schaut man sich | |
die Bilder an, sehen wir ein Maß an Gediegenheit, Behaglichkeit und | |
unaufdringlichem Luxus, das in einer Stadt wie Berlin noch immer fremd | |
anmutet. Doch das Wohnen 2020 ist, wie vieles andere auch, keine | |
Durchschnittsgröße mehr. Vielmehr ist es Teil einer wachsenden | |
Ungleichheit. Das zeigt schon der Flächenverbrauch. Und da ist die | |
Entwicklung alarmierend. | |
Die durchschnittliche Wohnfläche pro Einwohner in Berlin erhöhte sich von | |
37,9 m(2) im Jahr 1999 auf 38,7 m(2) im Jahr 2004. So steht es in einer | |
Antwort der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung auf eine Kleine Anfrage | |
der Abgeordneten Jutta Matuschek (Linke). Damit hatte sich, wenn auch | |
abgeschwächt, ein Trend fortgesetzt, der seit Jahrzehnten in beiden Teilen | |
der Stadt messbar ist, und der, auch ohne Bevölkerungswachstum, zu einer | |
wachsenden Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt führte. | |
Interessant aber ist, dass dieses Wachstum seit 2004 stagniert. Mehr noch: | |
In manchen Bezirken sinkt der Wohnflächenanteil sogar. So hatte jeder | |
Bewohner in Friedrichshain-Kreuzberg 2002 noch 37,5 m(2) Wohnraum für sich, | |
2008 hingegen waren es nur noch 35,7 m(2) - fast zwei Quadratmeter weniger. | |
Weil es aber auch in Kreuzberg immer mehr Singlehaushalte (und damit einen | |
weiter steigenden Flächenverbrauch gibt), warnen Experten bereits vor | |
ersten Ansätzen einer Überbelegung bei den weniger Wohlhabenden. | |
Überbelegung? Eigentlich ein Begriff aus dem Kaiserreich. 1910 lässt | |
grüßen. | |
Megatrend Energie | |
Die Schere, die sich beim Wohnflächenverbrauch auftut, ist neben der | |
"Renaissance der Innenstädte" einer der Megatrends, die auch die Zukunft | |
des Wohnens bestimmen werden. Ein dritter ist die energetische Sanierung. | |
Armin Hentschel, der Leiter des Potsdamer Instituts für soziale | |
Stadtentwicklung, hat sich einmal die Mühe gemacht, den energetischen | |
Sanierungsbedarf bestimmter Gebäudetypen mit der sozialen Struktur der | |
Bewohner abzugleichen. Sein Ergebnis: Gerade die einkommenschwachen | |
Bewohner Berlins lebten überdurchschnittlich oft in den energetisch | |
unsanierten Beständen. Eine Modernisierung mit Wärmedämmung und neuer | |
Heizungsanlage würde diese Bewohner also besonders hart treffen - | |
vorausgesetzt, der Ölpreis bleibt stabil. | |
Sollten die Energiepreise hingegen in die Höhe schnellen, würden die | |
Nebenkosten explodieren. Für die Bewohner energetisch sanierter Gebäude | |
wäre das dann weniger problematisch als für die einkommensschwachen | |
Bewohner der unsanierten Bestände. Auch hier gilt also: Nicht alle | |
Stellschrauben sind vorhersehbar, und manche, wie der Ölpreis, entziehen | |
sich dem Einfluss der Politik. Das führt freilich dazu, dass die einen die | |
Zukunft des Wohnens im "Verpacken der Bestände" sehen, während andere | |
bereits vor eben dieser "Verpackung" als einer Fehlentwicklung warnen, die | |
mit der der autogerechten Stadt der siebziger Jahre vergleichbar sei. | |
Spätestens an dieser Stelle ist nach der Zukunft nicht nur des Wohnens, | |
sondern auch der Wohnungspolitik zu fragen. Für Harald Bodenschatz wäre | |
eine solche auch ein Neuanfang. "Was wir in den letzten Jahren erlebt | |
haben, war keine Wohnungspolitik", sagt er, "es war vielmehr die | |
Abwesenheit von Wohnungspolitik." Das hat für den Professor für | |
Architektursoziologie an der TU auch damit zu tun, dass der Spielraum für | |
ein staatliches Eingreifen in den Wohnungsmarkt begrenzt ist. Und es auch | |
bleiben wird. Bodenschatz plädiert daher für einen anderen Einsatz der | |
finanziellen Mittel. "Der Wohnungsmarkt ist noch immer voller verdeckter | |
Subventionen. Das gibt uns die Möglichkeit zu prüfen, was wir weiter | |
subventionieren wollen - und was nicht." | |
Bodenschatz Plädoyer ist auch ein Versuch, die soziale Komponente mit der | |
ökologischen zu verbinden. "Wenn die Ressourcen an fossiler Energie | |
begrenzt sind, muss man auch über eine Begrenzung der Wohnfläche | |
nachdenken", gibt er zu bedenken, wohl wissend, dass das als dirigistischer | |
Eingriff missverstanden werden kann. Eine Zahl will Bodenschatz daher nicht | |
nennen. Aber er meint: "Wenn der Staat die energetische Sanierung fördert, | |
kann er mit dieser Förderung auch bestimmte Vorgaben verknüpfen." Nicht nur | |
gegen den wachsenden Verbrauch und damit die Versiegelung weiterer Flächen | |
richtete sich eine solche Politik. Es wäre auch die Möglichkeit, sozial | |
schwache Mieter bei den Modernisierungskosten stärker zu unterstützen als | |
bisher. | |
Allerdings geht der Trend in eine andere Richtung. Die schwarz-gelbe | |
Bundesregierung will vor allem die Mieter stärker belasten - von einer | |
sozialverträglichen Umverteilung der öffentlichen Mittel ist bislang nichts | |
zu erkennen. So wird also vor allem der Markt weiter bestimmen, wo und wie | |
wir in Zukunft wohnen. Immerhin: Zu diesem Markt gehören nicht mehr nur die | |
Investoren, sondern auch die Nachfrager. Auch das hat Armin Hentschel vom | |
Institut für Soziale Stadtentwicklung herausgefunden. So hätten Immobilien | |
nur noch dann Erfolg, wenn sie nicht von der Stange gebaut würden, sondern | |
sich mit ihrer städtischen Umgebung auseinandersetzten. | |
Terrassen, Balkone, Loggien | |
Dabei könnten die Projektentwickler in der Innenstadt durchaus von den | |
Einfamilienhaussiedlungen lernen. "Wir müssen diese Eigenheimqualitäten | |
intelligent auf den Geschossbau übersetzen", fordert Hentschel. "Dafür | |
brauchen wir eine viel stärkere Verzahnung von Haus und Außenraum." | |
Hentschels Stichworte dabei: Terrassen, Balkone, Loggien, Freiflächen. | |
Empirische Untersuchungen hätten ergeben, dass "die Qualität des Freiraums | |
und die intelligente Verbindung von privater Wohnung und Freiraum stets | |
Wohnwertmerkmal Nummer eins war". | |
Nicht nur ungleicher wird die Stadt der Zukunft also, sondern auch ungleich | |
hübscher. Zumindest in den In-Vierteln der urbanen Gewinner. Was die | |
Quartiere der Verlierer betrifft, fehlt es an Prognosen - und an | |
politischen Ideen. Auch das unterscheidet die Situation in Berlin 2010 von | |
der im Jahre 1910. Vor hundert Jahren noch waren in der | |
Städtebauausstellung zahlreiche Konzepte zur Lösung der sozialen Frage zu | |
sehen - von der Gartenstadt bis zur staatlichen Fürsorge in den | |
Armenvierteln. Offenbar war die Angst vor Unruhen und der Eigentumsfrage | |
größer als der Wille zur sparsamen Haushaltspolitik. Heute gibt es diese | |
Angst nicht mehr. Genauso wenig, wie Rebellion droht. | |
Oder doch? Als die "Hedonistischer Internationale" letztens wieder mal zur | |
kollektiven Wohnungsbesichtigung einlud, reagierte der Eigentümer mit einer | |
Strafanzeige. "Die sozialen Spannungen rund ums Thema Wohnen", glaubt auch | |
Wohnungsforscher Bodenschatz, "werden in Zukunft wieder zunehmen." | |
27 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
Uwe Rada | |
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Zukunft | |
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