# taz.de -- taz-Serie Berlin 2020 (Teil 3): Arbeit: "Der Kapitalismus kann aus … | |
> In Zukunft wird es mehr Arbeit geben. Aber um von den Freiheiten der | |
> Selbstständigkeit zu profitieren, brauchen Arbeitnehmer mehr | |
> Qualifikation und Flexibilität, sagt der Sozialhistoriker Jürgen Kocka. | |
Bild: Hat auch in den nächsten Jahren genug zu schrauben: Berliner Arbeiter. | |
taz, Herr Kocka, frühere Utopien hatten uns versprochen, dass wir in | |
Zukunft weniger arbeiten müssen. Weil die Maschinen alles für uns | |
erledigen. Doch auch der Computer hat diese Hoffnung nicht erfüllt. Was | |
können Sie uns Gutes versprechen für die nächsten zehn Jahre? | |
Jürgen Kocka: Über weniger Arbeit nachzudenken, halte ich jetzt nicht für | |
vordringlich. Schließlich hat die durchschnittliche Wochen-, Jahres- und | |
Lebensarbeitszeit in den letzten 100 Jahren stetig abgenommen. In Berlin | |
arbeitete ein Arbeitnehmer 1998 noch durchschnittlich 1.501 Stunden pro | |
Jahr, im Jahr 2009 waren es nur noch 1.332. Allerdings hat die | |
Arbeitsintensität zugenommen und dadurch der gefühlte Stress - was sich | |
auch im Anstieg psychischer Krankheiten äußert. Wichtiger für die Zukunft | |
ist es, sich zu überlegen, wie eine Gesellschaft der guten Arbeit aussehen | |
könnte. | |
Was verstehen Sie unter guter Arbeit? | |
Für mich ist das eine Arbeit, von der es sich auskömmlich leben lässt und | |
die ein Minimum an sozialer Sicherheit und Berechenbarkeit gewährleistet. | |
Erwerbsarbeit, die sich mit anderen Lebenssphären wie Familienarbeit, | |
Ehrenamt oder Bildung vereinbaren lässt. Mehr Eigenverantwortlichkeit bei | |
der Zielsetzung und Durchführung und mehr Mitbestimmung in der | |
Organisationsstruktur gehören dazu. Und eine Aufhebung der scharfen | |
Trennung des Lebens in drei Phasen: Statt einer erwerbsfreien Kindheit und | |
Jugend, einer darauf folgenden Erwerbstätigkeit und dem Ruhestand sollte in | |
jeder Lebensphase Platz für alles sein. Schließlich wäre es notwendig, eine | |
gerechtere Verteilung hinsichtlich Aufstiegschancen, Arbeitszeit und | |
Entlohnung zwischen den Geschlechtern hin zu bekommen. Das gilt erst recht | |
für die verschiedenen Zuwanderergruppen, die gleichberechtigten Zugang in | |
alle Sektoren des Arbeitsmarktes finden müssten. Da gibt es noch viel zu | |
tun. | |
Eine recht bodenständige Utopie - Sie glauben also nicht, dass wir künftig | |
mit den Füßen auf dem Couchtisch Telearbeit erledigen und zwischendrin das | |
Kind füttern, zum Friseur gehen oder mit der Oma spazieren gehen? | |
Denken Sie an frühere Voraussagen über die Arbeitswelt der Zukunft, die | |
nicht eingetreten sind. Etwa die in den 20er und 30er-Jahren verbreitete | |
Negativvorstellung einer durchnormierten Fließbandarbeitswelt, in der der | |
Einzelne nur ein unbedeutendes Rädchen ist. So ist es zum Glück nicht | |
gekommen, im Gegenteil. Auch die Massenarbeitslosigkeit ist nicht | |
eingetreten - obwohl man das noch vor 10, 20 Jahren befürchtete. Wir nähern | |
uns ja wieder der Vollbeschäftigung an. Der Arbeitsgesellschaft geht nicht | |
die Arbeit aus, der demografische Wandel wird die Nachfrage nach | |
Arbeitskräften weiter steigern. In Berlin ist die Arbeitslosigkeit zwar | |
weiter überdurchschnittlich hoch, doch auch hier ist sie gesunken, das wird | |
wohl auch weiter anhalten. Das Problem der Zukunft wird allerdings sein, | |
dass der Arbeitsmarkt immer uneinheitlicher wird. Leute mit guten, | |
speziellen Kenntnissen werden verstärkt gesucht, aber schlechter | |
Qualifizierte immer weniger gebraucht. Der Dienstleistungssektor wächst | |
weiter. | |
In Berlin heißt das vor allem Tourismus - wird der in zehn Jahren immer | |
noch Berlins größter Wachstumsmarkt sein? | |
Mit dem Tourismus wird die Nachfrage nach Genuss, Kultur und Unterhaltung | |
steigen. Ein zweiter Trend ist der Mehrbedarf an personennahen | |
Dienstleistungen wie Helfen, Pflegen, Heilen, Begleiten, Beraten und | |
Spielen. Aber Dienstleistungen allein machen es nicht. Genauso wichtig ist | |
die Förderung zukunftsfähiger Industrie, zum Beispiel im Gesundheitssektor | |
und in anderen wissenschaftsnahen Branchen. Berlin ist da auf sehr gutem | |
Weg. Und eine vierte Entwicklung wird weitergehen, die für Berlin besonders | |
typisch ist: Die Wiederzunahme der Selbstständigen. Das sind bundesweit 11 | |
Prozent der Arbeitnehmer und in Berlin 14 Prozent. Hierbei ist Berlin | |
Vorreiter. | |
Es wird also noch mehr prekäre Freiberufler in der Stadt geben, die | |
"Projekte" machen und keine Versicherung haben? | |
Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis, also eine unbefristete, sozial | |
abgesicherte, die Familie ernährende Vollzeitbeschäftigung, wird weiter | |
abnehmen, befristete, wechselnde, geringfügige und Teilzeitbeschäftigungen | |
werden zunehmen. Aber als Historiker lege ich Wert auf die Feststellung, | |
dass das Normalarbeitsverhältnis niemals das Normale war, sondern immer nur | |
für (männliche) Minderheiten galt und auch heute noch für 60 bis 70 Prozent | |
aller Beschäftigungsverhältnisse. Und Selbstständigkeit bedeutet nicht | |
automatisch prekär: Unter den Berliner Selbstständigen befinden sich auch | |
viele Händler, Gastronomen, Makler, kreative Gewerbetreibende und | |
gutverdienende Kulturschaffende. Bedenklich ist allerdings, dass auch der | |
Niedriglohnsektor und die Leiharbeit zunehmen werden: Hier werden dringend | |
neue Formen der sozialen Absicherung gebraucht, um Elend abzumindern, | |
einschließlich des Mindestlohns. | |
Glauben Sie, dass eine schöne neue Arbeitswelt für alle realistisch ist? | |
Ich bin immer wieder beeindruckt davon, wie vielfältig und bunt Lebensläufe | |
heutzutage geworden sind. Etwa Kassiererin an der Supermarktkasse zu sein, | |
ist kein lebenslanges Los mehr, es kann ein Übergang sein, um eine | |
Doktorarbeit zu finanzieren. Oder der Job steht vor einer Weiterbildung zu | |
einem neuen Beruf. Durch die Flexibilisierung entstehen für die | |
Arbeitnehmer auch Freiheitsgewinne, etwa eine bessere Vereinbarung von | |
Arbeit, Freundschaften und gesellschaftlichem Engagement. Diese Freiheit | |
kann aber nur genießen, wer über ein Minimum an Existenzsicherung verfügt. | |
Die Kehrseite ist ein Kampf ums Überleben mit extremer Unsicherheit, die | |
krank macht. Es liegt an Politik und Gesellschaft, die Chancen zu erhöhen | |
und Risiken zu minimieren. Eine weitere Deregulierung darf es dabei nicht | |
geben. Angesichts der letzten Wirtschaftskrise bin ich aber optimistisch, | |
dass Wirtschaft und Politik begriffen haben, wie wichtig staatliche | |
Interventionen sind. Der Kapitalismus kann aus seinen Fehlern lernen, mit | |
Hilfe von Gesellschaft und Politik. | |
29 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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