| # taz.de -- TAZ-SERIE BERLIN 2020 (Teil 6): Bewegung: Die Rückkehr der Bürger… | |
| > Der Bürgeraufstand wird auch in Zukunft nicht nachlassen, prognostizieren | |
| > Protestforscher. Wird künftig über jeden Baum geschlichtet, so wie heute | |
| > schon am Landwehrkanal? | |
| Bild: Auch sie sind wieder aufgelebt: Anti-Atomkraft-Proteste vor dem Kanzleram… | |
| Achim Appel sitzt vor seinem Kaffee und überschlägt. Mehr als 200 Stunden | |
| habe er für das Mediationsverfahren zum Landwehrkanal in den letzten drei | |
| Jahren investiert. "200 jährlich." Plenum, Vorbereitung, Arbeitsgruppen, | |
| Ortstermine. Mit Freizeit sei da nichts mehr, schüttelt der 57-jährige | |
| Kreuzberger seine langen, grauen Haare. Und doch, es lohne sich. | |
| Seit November 2007 sitzt Appel, Online-Redakteur und selbst ernannter | |
| Stadtnaturschützer, mit seiner Bürgerinitiative "Bäume am Landwehrkanal" im | |
| Schlichtungsverfahren "Zukunft Landwehrkanal" - dem größten und längsten | |
| Prozedere dieser Art in Deutschland. Es war im Frühsommer 2007, als in | |
| Kreuzberg ein 50 Meter breiter Uferstreifen in den Landwehrkanal sackte. | |
| Auch an anderer Stelle bröckelte das Ufer. Das Wasser- und Schifffahrtsamt | |
| (WSA) kündigte zur Sicherung massive Baumfällungen an. Appel und viele | |
| weitere Anwohner wollten eben dies verhindern. Sie hielten Mahnwachen, | |
| sammelten 26.000 Unterschriften, kletterten auf Bäume. | |
| Dem WSA blieb nicht mehr übrig, als ein Mediationsverfahren einzuberufen. | |
| Rund 25 Initiativen sitzen seitdem an einem Tisch - Anwohner, Reederei, | |
| Landesdenkmalamt, WSA, Umweltverbände sowie Vertreter aus fünf Bezirken. | |
| Alle ein, zwei Monate sitzt man zusammen, alles ehrenamtlich. "Sachlich und | |
| in partnerschaftlichem Dialog" werde über jeden Baum diskutiert, immer im | |
| Konsens entschieden, erzählt Appel. "Das hat erstaunliche Erfolge." Von | |
| ursprünglich rund 200 Bäumen fielen am Ende nur 38. Spundwände statt | |
| baumschädliche Betonklötze stützen heute die Pappeln und Weiden. Ein | |
| eigener "Bauleiter Baumschutz" wurde installiert, der die Ufersanierung | |
| begleitet. Selbst das Wasser- und Schifffahrtsamt attestiert der | |
| Kanal-Schlichtung heute bundesweiten Vorbildcharakter. | |
| Mediationen, Runde Tische, Volksentscheide - in Zeiten der Bürgeraufstände | |
| sind es diese Modelle, die die Berliner Politik 2020 bestimmen könnten. | |
| Kein Großprojekt mehr ohne aufwändige Schlichtung, kein Haushalt ohne | |
| direktdemokratisches Bürgervotum? Appel hätte nichts dagegen. "Ich sehe | |
| keinen anderen Weg als das direkte Zusammensetzen von Verwaltung und | |
| Bürgern, wenn Transparenz und Partizipation echt sein sollen." | |
| Es ist kein krawalliger Radikalenprotest, der sich momentan in der Stadt | |
| multipliziert, sondern Empörung aus der Mitte: gegen Mediaspree, gegen die | |
| A100, gegen BBI-Flugrouten, gegen geheime Wasserverträge. Strukturell | |
| spreche einiges dafür, dass dieser Protest in den nächsten zehn Jahren | |
| Bestand habe, sagt Dieter Rucht, Protestforscher am Wissenschaftszentrum | |
| Berlin (WZB). Die Bildungsorientierung und sozialen Kompetenzen in der | |
| Gesellschaft nähmen weiter zu - und damit auch das politische Engagement. | |
| Viele Bürger, vor allem die aufstrebende Mittelschicht, würden die sie | |
| betreffenden Probleme selbst lösen wollen, statt auf Entscheidungen von | |
| Politik und Verwaltung zu hoffen, so Rucht. | |
| Ob die Politik auf dieses Drängen tatsächlich mit mehr substanzieller | |
| Partizipation für alle reagieren wird, da ist Rucht skeptisch. Aber den | |
| Parteien und Amtsträgern wird kaum eine Wahl bleiben. Die Unterstützung für | |
| die Parteien-Demokratie bröckelt zusehends.80,8 Prozent der Berliner gingen | |
| 1990 noch zur Abgeordnetenhauswahl - 2006 waren es noch 58,0 Prozent. Auch | |
| die Parteien befinden sich auf dem Weg in die Marginalisierung: Mehr als | |
| 11.000 Mitglieder verlor allein die Berliner SPD seit 1990. Heute sind | |
| weniger als 2 Prozent aller Deutschen Parteimitglieder - Tendenz fallend. | |
| Von den heutigen Parteien, sagt Protestforscher Rucht, werden in zehn | |
| Jahren nur mehr "hochprofessionelle Kampagnenapparate" übrig sein. "Das | |
| Fußvolk dürfte dann abgestorben sein." | |
| Von Politikverdrossenheit kann dennoch keine Rede sein. Vielmehr findet | |
| eine Verschiebung statt. 31 Bürger-und 23 Volksbegehren zettelten die | |
| Berliner seit 2005 an, sammelten hunderttausende Unterschriften. 2.364 | |
| Demonstrationen zogen 2010 durch die Stadt. Und immer öfter stellt der | |
| Berliner vor Ort seine Politiker auf die Probe - von der Kastanienallee bis | |
| nach Lichtenrade, von den Bühnen am Kürfürstendamm bis zu den Bäumen am | |
| Gendarmenmarkt. | |
| So viel Misstrauen war selten: Laut einer Infratest-Umfrage zeigen sich | |
| heute 51 Prozent der Deutschen mit der Demokratie in ihrem Land | |
| unzufrieden. 85 Prozent erklären, dass die Politik den Kontakt zum | |
| "wirklichen Leben" verloren habe. Dagegen halten 71 Prozent | |
| Bürgerbeteiligungen wie die Stuttgarter Schlichtung als Zukunftsmodell für | |
| künftige Bauprojekte. | |
| Franz Schulz kennt diese Zahlen. Der grüne Bürgermeister von | |
| Friedrichshain-Kreuzberg sitzt an einem kargen Tisch in seinem Rathaus. | |
| "Die Zeit der rein repräsentativen Demokratie beginnt langsam abzulaufen", | |
| sagt der 62-Jährige nüchtern. Die Bürger seien heute wesentlich | |
| selbstbewusster, ihr Protest habe eine Qualität wie selten zuvor. "Die | |
| Leute fragen nicht mehr nach mehr direkter Demokratie, sie nehmen sie sich | |
| einfach." | |
| Schulz selbst hat das zu spüren bekommen: das Mediaspree-Bürgerbegehren, | |
| der Protest gegen die A100, der Landwehrkanal-Streit - alles in seinem | |
| Bezirk. Dabei setzt der promovierte Physiker schon länger auf Runde Tische. | |
| "Das Forum der Zukunft", ist Schulz überzeugt. Moderation im Vorfeld statt | |
| Schlichtung im Nachhinein. Großprojekte - das habe ihn Mediaspree gelehrt - | |
| müssten künftig in kleine Teile zerlegt werden. Damit sie überschaubar | |
| bleiben. Noch vor dem konkreten Bauverfahren müssten "Rahmenentscheidungen" | |
| dem Bürger zum Entscheid vorgelegt werden. Wie viel Grünanteil soll in das | |
| neue Viertel? Wie hoch darf gebaut werden? "Gut vorstellbar", dass dies in | |
| zehn Jahren die Regel sei, sagt Schulz. Denn auch für die Politik seien die | |
| Bürgerbefragungen wertvoll. Weil am Ende eine Währung steht: Legitimation. | |
| Auch Stadtnaturschützer Achim Appel sieht nicht das Ende aller Großprojekte | |
| durch künftigen Dauerprotest wie derzeit in Stuttgart. "Natürlich haben die | |
| Bürger auch ein Interesse an Bahnhöfen und Nahverkehr", sagt Appel. "Und | |
| nicht jede Brache ist ökologisch wertvoll." Es ein pragmatischer Protest, | |
| der sich in Berlin erhebt. Die Forderungen der Mitte haben viel mit | |
| Besitzstandsverteidigung und wenig mit Revolte zu tun. Gegen Flugrouten | |
| über meinem Dach, aber nicht für den BBI-Baustopp. | |
| Auch Appel redet heute von "Primärsanierungsmethodenfamilie" und | |
| "Grüntangentenqualifizierung". Längst ist er zum Experten geworden. Beim | |
| BBI-Protest zitieren Bürgerengagierte heute selbstverständlich | |
| Lärmgutachten, bei Anti-A100-Kundgebungen werden Schadstoffprognosen | |
| vorgetragen. Auch das wird Berlin 2020 prägen: professionelle, medial | |
| geschulte Protestspezialisten. Schon heute etwa finanziert die | |
| Bewegungsstiftung neun Aktivisten ihren Vollzeitprotest. "Die Bürger werden | |
| in zehn Jahren schneller, informierter und stärker auf gleicher Augenhöhe | |
| mit der Politik agieren", glaubt auch Bürgermeister Schulz. | |
| Und, so der Grüne: Über das Internet werde sich der Protest künftig noch | |
| leichter mobilisieren und vernetzen lassen. Auch der Wiener Protestforscher | |
| Christoph Virgl bezeichnet informationelle Webpräsenzen heute als | |
| "Überlebensbedingung von Protestbewegungen". Und als eine Erweiterung des | |
| Protestrepertoires - wenn neben Straßen auch zunehmend Server lahmgelegt | |
| werden. Dennoch, so Virgl: "Der Straßenprotest ist durch das Internet | |
| keinesfalls zu einem anachronistischen Auslaufmodell verkommen, | |
| wahrscheinlich ist sogar das Gegenteil der Fall." Denn nur der öffentliche | |
| Massenprotest sei massenmedial vermittelbar und damit wirkmächtig. | |
| Bleibt also doch vieles wie gehabt? "Nicht unbedingt", bemerkt | |
| WZB-Professor Rucht. Denn die Schlichtung in Stuttgart habe gezeigt, was | |
| Runde Tische auch bedeuten können: ein Verheddern in Kleinstfragen, ein | |
| Einbinden und Lahmlegen der außerparlamentarischen Opposition. "Irgendwann | |
| könnten die Menschen dieses Dauerverhandelns und der kleingehackten | |
| Lösungen überdrüssig werden", vermutet Rucht. "Dann würde der Protest | |
| wieder radikaler und utopistischer." Noch aber sei man davon weit entfernt. | |
| Auch Achim Appel stellt sich auf weitere Jahre des Verhandelns in der | |
| Landwehrkanal-Mediation ein. Über 22 Kilometer erstreckt sich das Ufer des | |
| Kanals. Saniert wurden über das Mediationsverfahren erst einige dutzend | |
| Meter. Er habe viel Ausdauer, verspricht Appel. Auch weil er über die | |
| Schlichtung endlich etwas von der Politik zurückbekommt: "Wir werden wieder | |
| ernst genommen." | |
| 4 Jan 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
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