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# taz.de -- taz-Serie Berlin 2020 (Teil 9): Eine Dystopie: Auf der Arschgeigenb…
> Zuerst die gute Nachricht, zumindest für Nostalgiker: Auch im Jahr 2020
> existiert Berlin noch. Die schlechte Nachricht: Die Stadt hat sich in
> fast sämtlichen Bereichen monströs fehlentwickelt.
Bild: Einkaufen in Berlin 2020.
In der Liste der EU-Städte mit der höchsten Lebensqualität ist
"Spree-Pristina" auf Platz 213 zurückgefallen, noch hinter Lodz und
Liverpool. "Be Berlin" heißt der neue, erweiterte Slogan der
Tourismuswerber "- and you die!" Auch das vielzitierte "Arm, aber sexy" hat
seine Gültigkeit für niemanden verloren, der die morbide Resterotik eines
flächendeckenden Drogenstrichs zu schätzen weiß. Der ehemalige
Schaumschlagwortwart Wowereit wäre stolz auf seine Schöpfung, würde er noch
leben.
Die Stadtentwicklung ist - dieser Vergleich ist des Berliner Fußballs
würdig - ein Eigentor mit Ansage. Pünktlich zum Jahresbeginn steht das
Stadtschloss wieder. Nach dem Vorbild Braunschweigs, das Architekten
weltweit als Musterbeispiel für das gelungene Zusammenspiel zwischen
Tradition und Moderne gilt, wurde der Kasten innerhalb weniger Wochen aus
Fertigbauteilen hochgezogen. Viel zu spät merkt der Bürger, dass an dieser
prominent platzierten Filiale eines amerikanischen Klopsbraters außer dem
"King" im Sponsorennamen nicht das Geringste an ein Schloss erinnert.
Eine wird hingegen nie wieder zu spät kommen, denn im Frühjahr 2020 ist
endgültig klar: Die S-Bahn fährt überhaupt nicht mehr. Nachdem im Winter
(Schnee, Eis, Kälte), Sommer (Speiseeis, Hitze) und Herbst (Laub, Regen)
schon seit Jahren nichts mehr geht, hat sich nun auch der Lenz in den
Reigen der widrigen Jahreszeiten eingereiht. Eine üble Pollenallergie
bremst das tapfere, kleine Verkehrsmittel ein für alle Mal aus. Nicht
erwartungsgemäß verläuft auch die Entwicklung des Flugverkehrs: Der neue
Großmaulflughafen Berlin Brandenburg International "Ikarus Juhnke" ist ein
kleiner Regionalairport geblieben, der allein vom Billigfluggeschäft lebt.
Über der weitgehend leerstehenden Riesenanlage hängt überdies das
Damoklesschwert eines drohenden Tagflugverbots. Der Zehlendorfer braucht
seinen Mittagsschlaf.
Noch weiter (unten) ist bereits die Berliner Wirtschaft. So orientiert sich
selbst die neue Bezirksreform am letzten lebenden Wirtschaftszweig der
Stadt, dem Tourismus. Zu den neugebildeten Verwaltungseinheiten Ballermann
I (Kastanienallee), Ballermann II (Simon-Dach-Straße) und Ballermann III
(Schlesisches Tor) kommt "Kreuzkölln" als achtzehnte autonome Region des
Königreichs Spanien hinzu. Auf der berühmten Arschgeigenbrücke ("Lonely
Planet": "Where to go") am Landwehrkanal hängen ("Where to relax") rund um
die Uhr zehntausend junge Menschen Wein trinkend ("Where to drink") und
Instrumente übend ("Dangers & Annoyances") quer über die Fahrbahn ("Getting
there and away"). Nur zweihundert Meter von hier entfernt überragt der
Müll, den schreiende, kleine Schlumpfmützen aus aller Herren Länder am
Urbanhafen liegen lassen, die Traufhöhe des benachbarten Krankenhauses. Die
Stadt stinkt zum Himmel. Alles ist voller Ratten, was jedoch kaum auffällt,
da der Unterschied zwischen Mensch und Ratte sich nach zahlreichen
Bildungs- und Sozialreformen längst verwischt hat. Im Spätsommer 2020 kann
endlich Vollzug gemeldet werden: Die Pest ist da!
Ruhig und sauber bleibt nur die Gegend um den Helmholtzplatz. Mit seinen
rund vier Quadratkilometern bildet das Areal die größte, halbüberdachte
Elitekita der Welt. Sogar für umfangreiche Erwachseneneinrichtungen wie
Frühstückscafés, Tinnefläden und Büros ist gesorgt, in denen die Eltern
sicher aufgehoben sind, während die Kids ihrer Ausbildung nachgehen:
Frühchinesisch, Frühkarate, Früh-HTML.
Weitgehend abgeschlossen ist der Gesundschrumpfungsprozess der Berliner
Kulturlandschaft. In der Deutschen Oper eröffnet ein Baumarkt, die einstige
Staatsoper beherbergt die bei Marzahner Teenies und britischen Touristen
beliebte Event-Disco "Furzhaus" und in der Komischen Oper ist irgendwas
Komisches untergebracht. Das BE wiederum kann sich trotz Schließung seinen
Charakter bewahren - die Räumlichkeiten teilen sich nun ein Schlaflabor und
zwei Bestattungsinstitute. Nur in der Volksbühne bleibt alles beim Alten.
Aus einer Glasvitrine im Foyer heraus lenkt der mumifizierte Frank Castorf
weiterhin mit ungeheurer Verve die Geschicke seines Hauses. Früher
Höhepunkt der Spielzeit 20/21 ist die per Videoinstallation in den
gefluteten Heizungskeller übertragene Inszenierung von "Tod eines
handlungsreisenden Hamsters".
Trotz der Pest verzeichnen wir leichte Fortschritte im Bereich Forschung
und Gesundheitswesen: Turnusgemäß tauschen zum Ende des Jahres 2020 die
Exponate aus der Präparatesammlung der Charité sowie deren Anstaltsleitung
die Sessel beziehungsweise Einmachgläser. Auf Anhieb macht sich eine
spürbare Verbesserung des Arbeitsklimas bemerkbar. Die Lehre erfährt jedoch
einen kleinen Dämpfer: Alle Berliner Universitäten werden entkernt und
innen mit Schienen versehen. Irgendwo muss man schließlich die ganzen
S-Bahn-Züge unterstellen.
Auch die Lage des Berliner Fußballs ist ein Abbild der kläglichen
Gesamtsituation. Noch einmal mobilisiert der frischgebackene Verbandsligist
Union Berlin seine letzten siebzehn Anhänger, um die Alte Försterei auf
Bolzplatzformat zurückzubauen. Anlässlich des Traditionsderbys gegen den
Köpenicker SC werden die neuen Holztorpfosten feierlich eingeweiht. Vom
ehemaligen Rivalen Hertha BSC wiederum bleibt nach Abstieg, Insolvenz,
Liquidation und Tilgung aus dem Vereinsregister nur noch eine
Tipp-Kick-Runde zusammen tausend Jahre alter Herren, die sich jeden
Samstagnachmittag bei "Hannes Donut am Zoo" trifft. Damit ist Berlin die
einzige Hauptstadt des Sonnensystems, die mit keinem Club in den fünf
höchsten Landesligen vertreten ist.
7 Jan 2011
## AUTOREN
Uli Hannemann
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