# taz.de -- Proteste in Ägypten: Die Töchter der Revolution | |
> Frauen sind mittlerweile fester Teil der Demonstrationen auf dem | |
> Tahrir-Platz in Kairo. Sie fühlen sich befreit und respektiert. Und auch | |
> die Männer sind positiv überrascht. | |
Bild: Auf dem Tahrir-Platz wird nicht nur Politik gemacht, es ändert sich auch… | |
KAIRO taz | Männer rechts, Frauen links, lautet die Anweisung am Eingang | |
zum Tahrir-Platz an alle, die versuchen, von der Qasr-Nil-Brücke auf den | |
Platz zu kommen. Es ist das erste und das letzte Mal, dass die Geschlechter | |
hier getrennt werden. Denn auf dem Platz selbst herrscht | |
Gleichberechtigung. Auf dem Tahrir wird nicht nur Politik gemacht, hier | |
verändert sich die ägyptische Gesellschaft. Zum Beispiel die Rolle der | |
Frau. | |
Links, dort wo die Frauen abgebogen sind, steht Sahla Fawzi, eine | |
23-jährige Anwaltsreferendarin. Ihre Aufgabe ist es, die ankommenden Frauen | |
nach Waffen zu untersuchen, ihre Taschen zu überprüfen und nach ihrem | |
Ausweis zu fragen. Sie macht das sehr höflich, und auch die Frauen, die | |
sich durchsuchen lassen, bleiben freundlich. "Das ist ja zu unserem eigenen | |
Schutz", sagt eine von ihnen. | |
Sahla gehört den konservativen Muslimbrüdern an, sichtbar auch an ihrer | |
Kleidung, einem rosenfarbenen Umhang, der nur ihr Gesicht und ihre Hände | |
frei lässt. Sie hat sich freiwillig zum Überwachen der Eingänge gemeldet. | |
Vor vier Tagen kam sie aus einer Kleinstadt im Nildelta. Sie übernachtet | |
auf dem Platz, entweder in einer Moschee oder in einem Zelt. | |
Gleich hinter dem Eingang steht eine Gruppe von Frauen. Sie schwenken | |
ägyptische Fahnen und singen als eine Art revolutionäre Cheerleader ein | |
Willkommenslied. Die meisten von ihnen sind westlich gekleidet, einige | |
tragen Goldschmuck. Sie gehören eher der Oberschicht an. | |
Eine Gruppe junger, ebenfalls westlich gekleideter Studentinnen mit | |
offenen, im Wind wehenden Haaren kommt über den Platz, bepackt mit mehreren | |
Plastiktüten. "Darin befindet sich Proviant für diejenigen, die hier | |
übernachten", sagt Rana Essam. "Wir haben uns über Facebook organisiert und | |
bringen jeden Tag in mehreren Schichten Essen hierher", berichtet die | |
Ingenieursstudentin. Das Geld für die Einkäufe sammeln sie in ihren | |
Familien und bei Freunden. | |
200 Menschen hören ihr zu | |
Hinter ihr, auf einer improvisierten Bühne steht eine in Schwarz gekleidete | |
ältere Frau und erzählt ins Mikrofon die Geschichte ihres Sohnes, den die | |
Staatssicherheit vor zwei Jahren in der Oase Fayoum abgeholt hat. Es ist | |
die übliche Geschichte von Folter, Misshandlung und einem Menschen, der | |
ohne jegliche faire Gerichtsverhandlung in den Kerkern Mubaraks | |
verschwunden ist. Sie ringt nach Worten, aber eine Menge von gut 200 | |
Menschen steht vor der Bühne und hört ihr geduldig zu. | |
Schräg gegenüber befindet sich das Lazarett des Tahrir, der neue | |
Arbeitsplatz von Hind Fathi. Sie ist für die Medikamentenausgabe zuständig. | |
Gekommen ist sie, weil sie sich nützlich machen wollte. Jeder könne hier | |
das einbringen, was er oder sie gelernt habe. Sie kommt um sieben Uhr | |
morgens und geht erst spät nachts nach Hause, um ein paar Stunden zu | |
schlafen, erklärt sie, entschuldigt sich und dreht sich wieder um, um | |
weiterzuarbeiten. Sie hat wenig Zeit. | |
Die Fotografin Amria Koutan ist gekommen, um das alles zu dokumentieren. An | |
diesem Mittwoch konzentriert sie sich vor allem auf die selbst gemalten | |
Plakate und andere Ausdrucksformen der Demonstranten. "Das ist eine | |
spontane Kreativität, wie ich sie noch nie erlebt habe", meint sie. Neben | |
ihr steht eine Gruppe um eine selbst gebastelten Marionette des von Mubarak | |
beauftragten Vizepräsidenten Omar Suleiman. | |
Fingerfertig lässt sie der Marionettenspieler über den Platz tanzen. Um den | |
Hals der Puppe hängt ein Schild: "Habt keine Angst, ich bleibe nicht mehr | |
als 30 Jahre", steht darauf. Ein Trommler hat sich dazugesellt, um der | |
Puppe den Takt anzugeben. "Weder Mubarak noch Suleiman", singt die | |
Menschengruppe, die dem bizarren Tanz der Puppe zusieht. | |
Stolz, Ägypterin zu sein | |
Amira drückt immer wieder auf den Auslöser ihrer professionellen | |
Spiegelreflexkamera. "Ich möchte den Leuten zeigen, was hier los ist. Das | |
möchte ich weitergeben an Freunde via Facebook, damit alle das sehen | |
können", sagt sie. "Als Frau habe ich mich erst davor gefürchtet, | |
hierherzukommen, wegen der Mubarak-Schläger", blickt sie zurück. Über die | |
Szene auf dem Platz ist sie überrascht. Als Frau wurde sie kein einziges | |
Mal belästigt und immer in ihrer Arbeit als Fotografin bestärkt. "Ich bin | |
heute einfach stolz, Ägypterin zu sein", beendet sie das Gespräch. | |
Auch um die Schriftstellerin Samia Serageddin hat sich eine Gruppe von | |
Menschen versammelt und hört ihr aufmerksam zu. "Ich bin gekommen, um zu | |
zeigen, dass wir keine Angst haben und uns nicht einschüchtern lassen", | |
sagt sie und formuliert klare politische Forderungen: Der Präsident muss | |
weg, das Parlament, das seine Sitze durch Wahlbetrug gewonnen hat, muss | |
aufgelöst und die Verfassung geändert werden. Alles müsse fortan den Willen | |
des Volkes widerspiegeln. Die Zeit der politischen Monopole sei vorbei, | |
erklärt sie. Jetzt gehe es darum, faire und transparente Wahlen zu | |
organisieren. Die Menschen um sie herum klatschen. | |
Auch Molzin Hassan ist auf dem Platz. Sie leitet Nazra - zu Deutsch: | |
"Sichtweise" -, eine ägyptische Organisation für feministische Studien. | |
"Nicht nur hier auf dem Platz, in ganz Ägypten haben Frauen mit dieser | |
Revolution einen neuen Platz im öffentlichen Raum eingenommen", sagt sie | |
begeistert. Sie hätten nicht nur traditionell den Demonstranten Essen | |
gebracht oder sie medizinisch versorgt, sie hätten auch für die Sicherheit | |
der Demonstranten gesorgt, den Platz verteidigt und Führungsrollen | |
eingenommen, sagt sie. | |
Die übliche Anmanche ist vorbei | |
Sogar die übliche Anmache habe vollkommen aufgehört, und nicht nur auf dem | |
Platz. "Wenn wir mit unseren Plakaten und Fahnen zum Platz fahren, grüßen | |
uns die Leute mit einem ,Seid stark, ihr Töchter der Revolution' ", | |
berichtet sie. Das Tolle sei, dass Frauen jeglicher politischen Coleur auf | |
dem Platz seien und dort übernachten, auch sehr traditionelle und | |
konservative, führt sie enthusiastisch aus und schlussfolgert: "Diese | |
Gewinne aus der Revolution können sie uns Frauen nie wieder wegnehmen." | |
Und die Männer? Was sagen sie dazu? Konservative wie der 40-jährige Abdel | |
Gawad Haggag, der islamistischen Muslimbruderschaft angehört. Seit elf | |
Tagen ist er auf dem Platz, hat ihn gegen die Schläger verteidigt. Nachts | |
schläft er vor den Panzerketten, damit die Armee den Spielraum der | |
Demonstranten nicht einengen kann. An diesem Morgen führt er Besucher gut | |
gelaunt über den Platz. | |
Auf die Frage, wie er sich in den letzten Tagen als Muslimbruder persönlich | |
verändert habe, denkt er länger nach. "Ich habe immer gedacht, Frauen | |
könnten nur bestimmte Berufe ergreifen, als Lehrerinnen oder als Ärztinnen | |
beispielsweise", beginnt er zu antworten. In den letzten Tagen habe er aber | |
gesehen, wie mutig die Frauen Seite an Seite mit den Männern den Platz | |
gegen die Schläger verteidigt, Steine auf diese geworfen und die Verletzten | |
abtransportiert hätten. "Heute bin ich davon überzeugt", sagt er, "dass | |
Frauen alles können." | |
9 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
## TAGS | |
Sexualisierte Gewalt | |
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