# taz.de -- Sexualisierte Gewalt in Ägypten: Ein weiblicher Platz | |
> Vor fünf Jahren stürmten Zehntausende Ägypter den Tahrirplatz in Kairo. | |
> Kurz schien alles möglich, selbst die Befreiung der Frau. Und dann? | |
Bild: Januar 2011 auf dem Tahrirplatz: „Wir waren eins: Frauen und Männer, R… | |
Als ich ein Kind war, ein Teenager, dachte ich, ich hätte verschiedene | |
Körper, weil alles an meinem Körper so stets in Veränderung war, | |
wechselhaft und wachsend. Dieses Bild von meinem Körper ist bis heute | |
geblieben, auch wenn er sich nicht mehr durch mein Erwachsenwerden | |
verändert. Mein Körper verändert sich dadurch, wie er angesehen wird. Meine | |
Körper, es sind ja viele, verändern sich dadurch, wie sie angesehen werden. | |
Die Haare sind wichtig. An den Haaren begreifen wir, wer wir sind. An den | |
Haaren sehen wir auch, wer die anderen sind. Mein dunkles, lockiges Haar | |
positionierte mich in Deutschland stets bei den Fremden, es löste Ängste | |
aus. Ich ließ es glätten. Mit meinen Locken verlor ich einen Teil von mir. | |
Ich bin elegant geworden, vielleicht sogar schön. | |
Der Körper der arabischen Frau steht in der Öffentlichkeit, in der | |
arabischen wie in der westlichen, immer allein: Dieser Körper ist ein | |
Minenfeld der Konnotationen, eine Projektionsfläche für Imaginationen und | |
Vorurteile, für Beschuldigungen und Erniedrigungen. Der weibliche arabische | |
Körper kann überall nur verlieren, gegen Kodierungen verstoßen, um | |
schließlich selbst verstoßen zu werden. | |
Damals, als Kind, ging ich einmal mit meiner Mutter über den Tahrirplatz in | |
Kairo. Sie trug einen knielangen Rock, ich erinnere mich an ihre langen | |
Beine. Dieses Bild, die Weiblichkeit, die Luft, die Offenheit dieses Tages | |
trug ich mein Leben lang mit mir. Der Tahrirplatz war für mich beides: | |
Ägypten und Mutter. Es war für mich ein weiblicher Platz. So wollte ich | |
sein. | |
## Die Codes waren gebrochen | |
Im Januar 2011 stand die ägyptische Bevölkerung auf, um ihre menschliche | |
Unantastbarkeit zu reklamieren. Dieses Land sollte unser Land werden. Es | |
sollte nicht mehr dem Regime gehören, sondern uns. [1][Wir waren eins]: | |
Frauen und Männer, Reiche und Arme, Kinder und Erwachsene, alles wurde auf | |
dem Tahrirplatz und auf den vielen Plätzen Ägyptens zu einem. | |
In einem Moment dieser Revolution habe ich jene unschuldige | |
Kindheitserfahrung zurückgewonnen: Ich ging wieder, Hand in Hand, mit | |
meiner Mutter über die Straßen, wir fühlten uns mächtig. Frauen standen auf | |
den Straßen, neben den Männern, mit den Männern, und plötzlich schien es, | |
als sei all die Geschichte, all die gelernte Unterwerfung und Unterdrückung | |
nur ein Moment gewesen, der verschwinden könnte. Die Codes waren gebrochen, | |
die Geschlechterzuweisungen aufgehoben. Es war ein Moment, in dem wir | |
Hoffnung hatten. | |
Ich war neun Jahre alt, als ich das erste Mal öffentlich sexuell belästigt | |
wurde. Und so wie es mir erging, ergeht es vielen Mädchen und Teenagern, | |
die mit dem Eintritt in die Öffentlichkeit einen Teil ihrer bis dahin | |
vielleicht sicher geglaubten Identität ablegen: Die Öffentlichkeit, das ist | |
die Straße, der Spielplatz, der Bus, wird für sie zum Ort einer Panik. Ihre | |
Identität wird ergänzt um Angst, um Verlust an Selbstbewusstsein und Stolz. | |
In dieser Gesellschaft, die die Vergewaltigung innerhalb einer Ehe nicht | |
als solche anerkennt, spielt Aggression eine entscheidende Rolle im | |
Sexualempfinden der Menschen. Ein Mann, der nicht aggressiv agiert, gilt | |
nicht als Mann. Diese Männlichkeit aber sichert doch seinen Platz in der | |
ägyptischen Öffentlichkeit. | |
## Angefasst, beleidigt, benutzt | |
Eine Frau soll passiv und unterwürfig sein, auf der Straße, im Haus, im | |
Bett. Diese Frau lernt früh, ihre Knie zusammenzupressen, aber irgendwann, | |
im Alter zwischen sieben und neun Jahren, werden ihre Knie dann | |
auseinandergepresst von Verwandten, und ihr werden, das gilt noch immer für | |
Tausende Mädchen in Ägypten, die Schamlippen abgeschnitten. | |
Ihr Körper wird [2][angefasst, angeschaut, beleidigt und benutzt]. Was | |
dabei passiert, geht über den Körper hinaus: Es wird zur Unterwerfung. Und | |
so wurde der Körper der Frau selbst zum Teil der Öffentlichkeit; allerdings | |
zu einem, auf das der männliche Teil der Gesellschaft Zugriff beansprucht. | |
In der Öffentlichkeit zu stehen, erfordert, sich stets schützen zu müssen. | |
Das war all die Jahre so. Und der Sturm auf den Tahrirplatz konnte das | |
ändern. Dachten wir. | |
Es gab eine Zeit, in der auf diesem Platz Hierarchien verschwanden, in der | |
die Menschen miteinander waren und umgingen, zugewandt und schrankenlos. In | |
dieser kurzen Zeit konnten Frauen ihre Ängste verlieren. Sie konnten zur | |
Idee einer echten Freiheit finden; sie konnten sich erproben und erfühlen: | |
Wie ist denn das, in einem Leben zu stehen jenseits der Antastbarkeit? | |
Ich spielte in dieser Zeit in 30 ägyptischen Städten Theater, mit 600 | |
Menschen, und ich vergaß in dieser Zeit, dass ich eine Frau war und was ich | |
zu befürchten hatte: Ich war einfach nur da, ich war ich, unterwegs und in | |
Hoffnung. Wie gelang es diesem kleinen, verängstigten, neun Jahre alten | |
Mädchen, sich so zu befreien? | |
## Verbannt aus dem öffentlichen Raum | |
Eine Revolution kann niemals eine echte Revolution sein, wenn sie nicht die | |
Rechte der Frauen und die Gleichheit aller mit erkämpft. | |
Im November 2012 und auch schon zuvor kam es [3][auf dem Tahrirplatz zu | |
Gruppenvergewaltigungen]. Verschiedene Frauen wurden von Männergruppen auf | |
dem Platz und in seiner Umgebung öffentlich vergewaltigt. In einem Fall | |
vergingen sich 70 Männer an einer Frau. Die Frauen, die es traf, waren | |
aktiv während der Revolution. Diese Vergewaltigungen geschahen in | |
systematischer Form. Es war ein politisches Zeichen: Die arabische Frau | |
sollte die Öffentlichkeit wieder verlassen. | |
Manche Männer hielten die Frauen fest, andere vergewaltigten sie, dann | |
wurden die Positionen gewechselt. Einige nutzten Werkzeuge oder scharfe | |
Waffen, anderen ihre Finger. Inmitten unseres Platzes, inmitten der | |
hupenden Autos, der Passanten, der Stadt, wurde der Körper der arabischen | |
Frau wieder aufgelöst, so als gehöre er einfach zum öffentlichen Raum, so | |
als sei er beliebig bespielbar, benutzbar, betastbar. | |
## Nackt über den Platz | |
Wie konnte es diesen Männer gelingen, so organisch, so gemeinsam, fast wie | |
die Wellen eines Ozeanes miteinander zu harmonieren, während sie eine Frau | |
vergewaltigten? Sie wurden alle eins in diesem Moment: Sie gewannen ihre | |
verlorene Männlichkeit zurück, und vor den Augen der Welt, in aller | |
Öffentlichkeit, am Tahrirplatz, stellten sie sie zur Schau. | |
Es gibt ein Youtube-Video, das eine nackte Frau zeigt, die neben einem | |
Polizisten über den Tahrirplatz geht, wo sie zuvor vergewaltigt worden ist. | |
Der Mann, der dieses Video ins Internet stellte, wurde von allen | |
angegriffen. Er habe, hieß es, diese Vergewaltigung noch verlängert, habe | |
die Frau durch das Video entblößt, zur Schau gestellt, vernichtet. Für mich | |
stimmt das nicht. | |
Die öffentliche Hinrichtung dieser Frau geschah auf dem Tahrirplatz. Das | |
Video gab dieser Überlebenden ein Gesicht, es machte sie zu einer Heroin. | |
Diese Heroin läuft mit ihrem nackten Körper über den Platz, während ihr | |
niemand eine Decke reicht oder Kleidung, um sich zu bedecken. | |
## Sie war ich, sie war wir | |
Diese Heroin kann nicht beschämt werden. Es sind alle anderen, die durch | |
dieses Video beschämt wurden; so beschämt, dass sie versuchten, die Bilder | |
wieder zu löschen, aus dem Archiv der Öffentlichkeit. Die Bilder sollten | |
verschwinden, weil durch den starken Körper dieser Frau die jämmerlichen | |
Körper all ihrer Peiniger so bedrückend sichtbar wurden. | |
Ich fühlte mich so nackt wie diese Frau. Ihre nackten Füße brachten die | |
Spuren aller ägyptischen Frauen auf den Tahrirplatz zurück. Sie hat uns | |
vorangetragen und uns mit sich genommen. Sie war ich, sie war wir, und das | |
Bild dieser Heroin bleibt in mir. | |
Das ist der Grund, warum ich glaube, dass der Tahrirplatz ein weiblicher | |
Platz war, dass er es ist und dass er es auch wieder sein wird. | |
Übersetzt aus dem Englischen von Martin Kaul | |
25 Jan 2016 | |
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## AUTOREN | |
Nora Amin | |
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