# taz.de -- Revolution in Ägypten: "Der Westen verpasst eine Chance" | |
> Nicht die Demonstranten, sondern das ägyptische Establishment blockiert | |
> einen demokratischen Übergang. Das sagt der ägyptische | |
> Politikwissenschaftler Amr Hamzawy. | |
Bild: "Das Militär regiert derzeit das Land", sagt Amr Hamzawy. Panzer inmitte… | |
taz: Herr Hamzawy, wer regiert derzeit Ägypten? Präsident Husni Mubarak, | |
der neue Vizepräsident Omar Suleiman, die Armee oder niemand so recht? | |
Amr Hamzawy: Wir haben es mit vier zentralen Figuren zu tun: dem | |
Präsidenten und dem Vizepräsidenten, außerdem mit dem Premierminister Ahmad | |
Schafik und dem Verteidigungsminister Hussein Tantawi. Sie alle entstammen | |
dem Militär und setzen die Vorgaben des Militärs in die Tat um. Das Militär | |
regiert derzeit das Land. | |
Suleiman hat am Mittwoch gesagt, dass man die Proteste nicht länger dulden | |
werde. Ist damit zu rechnen, dass die Bewegung mit Gewalt niedergeschlagen | |
wird? | |
Noch am selben Tag haben sich die Proteste ausgeweitet: In verschiedenen | |
Städten streikten Arbeiter. Das hatte es in den Wochen zuvor nicht gegeben. | |
Außerdem gab es erstmals Kundgebungen in Oberägypten. Die Drohung hat die | |
Menschen nur dazu gebracht, an diesem Tag besonders aktiv zu werden. | |
Die Drohung steht dennoch im Raum. | |
Ja, aber es ist zu spät, um diese Bewegung mit Gewalt zu unterdrücken. | |
Was macht Sie so sicher? Immerhin hat Suleiman auch vor einem Putsch | |
gewarnt. | |
Ausschließen kann ich das natürlich nicht. Aber es gibt Indizien: In ihrer | |
Geschichte hat sich die ägyptische Armee nie an Gewalt gegen Bürger | |
beteiligt, deshalb genießt sie in der Bevölkerung auch hohes Ansehen. Und | |
die übrigen Sicherheitskräfte sind in einem desolaten Zustand. | |
Der "Rat der Weisen", dem Sie angehören, hat sich zu Gesprächen mit dem | |
Vizepräsidenten und dem Premierminister getroffen. Wie beurteilen Sie den | |
Verlauf der Gespräche? | |
Unser Eindruck ist, dass das Establishment versucht, seine Macht zu | |
konsolidieren. Sie wollen das System nicht aufgeben und sind nur zu | |
minimalen Zugeständnissen bereit. Diese gehen zwar in die richtige | |
Richtung, aber der große Wurf, um Ägypten zu reformieren und zu | |
demokratisieren, den wir uns alle wünschen, ist noch nicht da. | |
Ein umkehrbarer Übergang ist also noch nicht eingeleitet? | |
Nein. Was das Establishment, der Vizepräsident und der Premierminister, | |
bislang angeboten haben, reicht nicht, um uns davon zu überzeugen, dass wir | |
bereits in einer demokratischen Übergangsphase sind. | |
Werden die Demonstranten vom Tahrir-Platz und die jungen Leute in diese | |
Gespräche einbezogen? | |
Nein. Die ernsthaften Gruppen vom Tahrir-Platz haben deutlich gemacht, dass | |
sie diese Gespräche als autoritäre Veranstaltung erachten und dass sie sie | |
ablehnen. Sie sagen: Wir wollen nicht verhandeln, wir wollen, dass unsere | |
Forderungen erfüllt werden. | |
Die dringendste davon ist für sie der Rücktritt Mubaraks. Wie sehen Sie | |
das? | |
Ich halte das im Moment nicht für die zentrale Frage. Es geht nicht um den | |
schnellen Sturz Mubaraks, sondern um eine ernsthafte und dauerhafte | |
demokratische Öffnung Ägyptens. | |
Was schlagen Sie vor? | |
Als "Rat der Weisen" haben wir einen Kompromiss vorgeschlagen: Der | |
Präsident soll das Parlament um die Verfassungsänderungen bitten, die | |
notwendig sind, um demokratische Wahlen zu ermöglichen. Danach soll er das | |
Parlament auflösen - zu einer solchen Maßnahme ist nur er befugt - und alle | |
Befugnisse dem Vizepräsidenten übertragen, um den Übergang zu gestalten. | |
Was sagen denn die Leute vom Tahrir-Platz dazu? | |
Aus den vielen Gesprächen, die ich tagtäglich dort mit Menschen führe - mit | |
den unterschiedlichen Gruppen, aber auch mit den vielen unorganisierten | |
Bürgerinnen und Bürgern -, glaube ich, dass ein solcher Kompromiss für sie | |
akzeptabel wäre. Es ist das Establishment, das sich dagegen sperrt. | |
Die westlichen Staaten scheinen Mubarak so lange wie möglich im Amt halten | |
zu wollen. Wie kommt das in Ägypten an? | |
Die Leute sind enttäuscht von der wechselhaften Politik der Amerikaner und | |
der Unklarheit der Europäer. Aber irgendwo ist ihnen das auch egal. Denn im | |
Moment spielt sich alles hier in Ägypten ab, es ist ein Kampf zwischen dem | |
Establishment und den Bürgern, die in Millionen auf die Straße gegangen | |
sind, um für Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu demonstrieren. Externe | |
Akteure spielen derzeit höchstens eine Nebenrolle. | |
Verpasst der Westen derzeit eine Chance? | |
Ja, so wie er sie schon in Tunesien verpasst hat. Selbst wenn die | |
westlichen Staaten sich jetzt auf die richtige Seite schlagen würden, | |
könnten sie es nicht wiedergutmachen, dass sie so lange an autokratischen | |
Herrschern festgehalten haben. Und mit ihrem ambivalenten Verhalten | |
verpassen sie die Chance, die Fehler der Vergangenheit wenigstens ein | |
bisschen zu korrigieren. | |
In Kairo scheint allmählich wieder der Alltag einzukehren. Ist das gut oder | |
schlecht für die Protestbewegung? | |
Den demokratischen Kräften schadet es nicht, wenn der Alltag zurückkehrt, | |
im Gegenteil. Das befreit die Bewegung vom Druck der Gesellschaft, dass die | |
Menschen sagen: Wir wollen unsere Gehälter ausbezahlt bekommen, wir wollen | |
in die Krankenhäuser etc. Wenn diese alltäglichen Dinge wieder | |
funktionieren, kann das Regime die Protestbewegung - die Revolution - nicht | |
als etwas darstellen, das vom großen Teil der Gesellschaft nicht | |
unterstützt wird. Die Herausforderung für die Oppositionsbewegung besteht | |
darin, wie sie ihre Aktivitäten weiter ausbaut und ausweitet. Die Streiks | |
und die Proteste in Oberägypten zeigen, dass es mehr Möglichkeiten gibt, | |
als nur am Tahrir-Platz zu demonstrieren. | |
Bei einer Umfrage gaben 52 Prozent der Deutschen an, dass die Aufstände in | |
der arabischen Welt ihnen überwiegend Sorge bereitet. Verstehen Sie das? | |
Wenn jetzt selbst ernannte Experten davor warnen, dass die | |
Muslimbruderschaft die Macht übernehmen könnte, verkennen sie den | |
demokratischen Charakter der Entwicklung in Ägypten. Die Muslimbrüder sind | |
eine Kraft, eine organisierte, aber nicht die entscheidende Kraft. Die | |
meisten Menschen, die jetzt auf der Straße sind, sind Vertreter der | |
Mehrheit, die so lange geschwiegen hat. Sie sind unideologisch und | |
demokratisch. Natürlich sind Übergangsphasen instabil, und sie können lange | |
dauern und verunsichern. Aber wenn sie gelingen und am Ende zu einer | |
demokratischen Gesellschaft führen, ist das nicht nur für Ägypten, sondern | |
für die Welt besser als das veraltete, autokratische, undemokratische | |
Regime, das wir in den letzten drei Jahrzehnten hatten. | |
10 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
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