| # taz.de -- Gentrifizierung in Hamburg: In der Stadt wird es eng | |
| > Hamburg hat 70.000 Einwohner mehr als vor zehn Jahren. Die Stadt muss | |
| > bauen, stößt aber auf Widerstand - vom Szeneviertel Ottensen bis zum | |
| > dörflichen Rand. | |
| Bild: All dies ist Hamburg: Umwelthauptstadt Europas, "wachsende Stadt", Szenev… | |
| HAMBURG taz | In die winzige Küche würde nicht einmal mehr eine | |
| Waschmaschine hineinpassen. Trotzdem drängt ein halbes Dutzend Leute in den | |
| Raum. An den Türrahmen und auf der Spüle füllen sie Fragebögen aus. "Wie | |
| hoch ist Ihr Nettoeinkommen? Haben Sie in den vergangenen fünf Jahren eine | |
| eidesstattliche Versicherung abgegeben?" - "Was ist denn das?", fragt | |
| Rebecca Müller. Wie die anderen Interessenten ist auch sie zu neu im | |
| Berufsleben, als dass sie sich schon mit dem Thema "Offenbarungseid" hätte | |
| auseinandersetzen müssen. | |
| Um viel Geld geht es nicht: Alles in allem 315 Euro pro Monat soll die | |
| Einzimmererdgeschosswohnung im Hamburger Szenestadtteil Ottensen kosten. Im | |
| Viertelstundentakt schleust ein Makler je acht Wohnungssuchende durch die | |
| 25-Quadratmeter-Butze. Sonne scheint nur selten hier hinein, aber dafür ist | |
| es Ottensen: hübsche Straßen, nette Kneipen, ein Ökomarkt, St. Pauli und | |
| die Elbe um die Ecke. | |
| Müller ist PR-Freelancerin. Vor allem will sie es nicht weit haben zu ihren | |
| wechselnden Arbeitsstellen. Um nach 14 Monaten in wechselnden WGs endlich | |
| was Eigenes zu haben, würde sie glatt hier einziehen. | |
| Hamburg hat sich während der zehnjährigen, jetzt wohl zu Ende gehenden | |
| CDU-Herrschaft wieder ein Wohnungsproblem zugezogen, für das Ottensen | |
| exemplarisch ist. Der damalige Bürgermeister Ole von Beust und sein | |
| Finanzsenator Wolfgang Peiner (beide CDU) riefen die "wachsende Stadt" aus | |
| - und sie wuchs: Heute wohnen in Hamburg 70.000 Menschen mehr als vor gut | |
| zehn Jahren. Der Neubau hielt mit rund 3.000 Wohnungen pro Jahr nicht | |
| Schritt. Einstige Schmuddelquartiere wie das Schanzenviertel, die mit Müh | |
| und Not vor dem Abriss bewahrt wurden, sind schick und teuer geworden. | |
| So teuer, dass die angestammte Bevölkerung verdrängt zu werden droht - und | |
| mit ihr das bunte Volk der Künstler, Studenten und Tagträumer, das sich | |
| jetzt wehrt: "Gentrifizierung" lautet ihr Kampfbegriff. Bürgerinitiativen | |
| haben sich zum Bündnis "Recht auf Stadt" zusammengefunden. Darunter sind | |
| die Künstler, die das historische Gängeviertel gerettet haben, ebenso die | |
| Kleingärtner, die sich dagegen wehren, dass sie zum Segen des Wohnungsbaus | |
| und der Stadtentwicklung auf den Tunneldeckel über der Autobahn A 7 | |
| umziehen sollen. | |
| Diese zusätzlichen Wohnungen wären in Altona sofort weg, doch mit den | |
| Gartenparzellen, auf die sie gebaut werden sollen, würde auch ein Stück | |
| Lebensqualität verschwinden. Die Politik steckt in einem Dickicht | |
| widerstreitender Interessen und Vorschriften. Der Senat möchte bauen | |
| lassen, hat seine eigenen Grundstücke aber bis vor kurzem nur an den | |
| Meistbietenden verkauft. | |
| Auf einer als Golf-Abschlagplatz genutzten Brache haben sich inzwischen | |
| Kiebitze niedergelassen. Damit hier gebaut werden kann, müssten sie | |
| umgesiedelt werden. Hamburg ist europäische Umwelthauptstadt und will | |
| Passivhäuser bauen lassen. Wohnungswirtschaft und Mietervereine wehren | |
| sich. Das sei für die Bauherren und Mieter unbezahlbar, behaupten sie. | |
| ## Idylle am Hinsenfeld | |
| Am Hinsenfeld in den sogenannten Walddörfern im Norden lassen sich die | |
| widerstreitenden Interessen studieren. Der weite, frei liegende Höhenzug | |
| soll mit Reihenhäusern bebaut werden. Die Anwohner haben schon 7.000 | |
| Unterschriften für einen Bürgerentscheid gegen das Vorhaben gesammelt. Sie | |
| stoßen sich daran, dass so ein kompaktes Viertel nicht zu den Einzelhäusern | |
| in der Umgebung passe. | |
| Sie fürchten, dass 300 zusätzliche Autos den Verkehr auf der Lemsahler | |
| Landstraße mit jetzt schon 30.000 Autos täglich vollends zum Erliegen | |
| bringen würden, und sie beklagen, dass eine Verbindungsachse zwischen zwei | |
| Naturschutzgebieten verbaut würde. | |
| Zu ihrem "Hinsenfeld-Stammtisch" haben sie an einem Februarabend die | |
| Vertreter der örtlichen SPD in Krögers Gasthaus an der Lemsahler Landstraße | |
| eingeladen. Der Bürgerschaftsabgeordnete Andreas Dressel, der | |
| möglicherweise bald neuer Innensenator wird, muss erklären, wie er die | |
| Zielgröße seiner Partei von 6.000 neuen Wohnungen pro Jahr mit den Wünschen | |
| der jetzigen Hinsenfeld-Anwohner in Einklang bringen will. Über seinem | |
| Haupt hängt eine hölzerne Mangel als Schmuck an der Wand. | |
| Wolfgang Schröder vom Stammtisch schwärmt von der Zeit, als er vor 20 | |
| Jahren hergezogen ist. "Bei uns jagte in der Dämmerung die Schleiereule. | |
| Und die erste Grassaat haben die Rebhühner gefressen." Seither seien viele | |
| Grundstücke geteilt worden. Er befürchtet, dass weiterer Freiraum | |
| verschwindet und er viele neue Nachbarn bekommt. | |
| Der direkt an die vorhandene Siedlung anschließende Teil des Hinsenfeldes | |
| könne ja bebaut werden, aber bitte unter Wahrung des dörflichen Charakters, | |
| also mit frei stehenden Einfamilienhäusern. Die Initiative zeigt sich | |
| kompromissbereit. Dem SPD-Kandidaten Dressel erspart das eine direkte | |
| Konfrontation, denn er sieht sich an einen Beschluss der SPD in der | |
| Wandsbeker Bezirksversammlung gebunden, der einen Bebauungsverzicht | |
| ausschließt. | |
| "Eine Variante, dass man ganze Bereiche Hamburgs vom Wohnungsbau frei hält, | |
| gibt es nicht", sagt Dressel, und fügt an, dass er sich wundere, dass es | |
| manchmal leichter sei, die grüne Wiese in Anspruch zu nehmen, als | |
| Konversionsflächen zu bebauen. | |
| 18 Kilometer weiter südlich, im Herzen der Stadt, gibt es so eine | |
| Konversionsfläche. Die Bahn will ihre Fernzüge künftig nicht mehr in Altona | |
| abfahren lassen. Ein großes Areal würde frei werden für Leute wie die | |
| PR-Freelancerin Rebecca Müller. Auf dem großen grauen Fleck auf dem | |
| Stadtplan könnten im ersten Abschnitt 4.000 Wohnungen entstehen, über | |
| mehrere Jahre hinweg, versteht sich. | |
| Zwar nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, zudem eine Planung mit | |
| aufwändiger Bürgerbeteiligung - doch das Misstrauen der linken Aktivisten | |
| vermochte auch das kaum auszuräumen. Viele befürchten, dass die Bahn ihren | |
| Profit erhöhen wird und doch nur ein neues Yuppieviertel entsteht. | |
| ## Hajduks letzter Coup | |
| Anja Hajduk, bis November 2010 grüne Stadtentwicklungssenatorin, hatte auf | |
| das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum reagiert und zwei | |
| "Wohnungsbauoffensiven" gestartet. Doch sie waren nicht so erfolgreich wie | |
| erhofft. Umso schlimmer, dass das städtische Wohnungsunternehmen Saga-GWG - | |
| mit 130.000 Wohnungen der größte Vermieter Hamburgs - im vergangenen Jahr | |
| gar keine Wohnungen gebaut hat. | |
| Stattdessen überweist die Saga fünf Jahre lang jeweils 100 Millionen Euro | |
| pro Jahr an den Senat. Das Geld wäre besser im Neubau untergebracht, sagt | |
| die Linkspartei. Als letzten Coup hat Hajduk den ehemaligen GWG-Chef | |
| Michael Sachs als Wohnungsbaukoordinator eingesetzt. Ohne Weisungsbefugnis, | |
| aber mit viel Sachkenntnis und Redegewandtheit versucht er die Vertreter | |
| der verschiedenen Belange zusammenzubringen. | |
| In Ottensen überlegte sich Rebecca Müller, wie sie aus der Masse der | |
| Wohnungssuchenden herausragen kann. In der kleinen Wohnung, nicht weit vom | |
| Bahnhof Altona, versucht sie es mit solidem Nettoeinkommen. Um jeden | |
| Zweifel zu beseitigen, trägt sie "4.000 Euro" in den Fragebogen ein. Eine | |
| Gehaltsbescheinigung kann sie als Selbstständige ohnehin nicht vorlegen. | |
| Bekommen hat sie die Wohnung nicht. Vielleicht war die Summe bei dem | |
| schlichten Appartement doch übertrieben - Szeneviertel hin oder her. | |
| 18 Feb 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Gernot Knödler | |
| ## TAGS | |
| Stadtentwicklung Hamburg | |
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