# taz.de -- Isolationshaft in Deutschland: Lebendig begraben | |
> Kein Geräusch. Kein Gespräch. Keine Berührung. Kein Leben. Bald 16 Jahre | |
> verbringt Günther Finneisen im Isolationstrakt der JVA Celle. Ein Besuch | |
> hinter Panzerglas. | |
Bild: "Man kriegt einen an die Waffel. Die Konzentration - es fehlen die Worte"… | |
CELLE taz | Finneisen möchte sein Leben niemanden zumuten, nicht einmal für | |
eine Stunde. Sein Bruder, der ihn zehn Jahre nicht besucht hat, meint, wie | |
Finneisen hause, das sei pervers. Denn Finneisen - wohnhaft Im Trift 14, | |
29221 Celle - ist der womöglich einsamste Mensch in Deutschland. Er sitzt | |
in einer Anstalt der höchsten Sicherheitsstufe Niedersachsens und dort noch | |
im Hochsicherheitstrakt. Die JVA Celle hält ihn zudem in strenger | |
"Absonderung" von anderen Inhaftierten, Laien sagen "Isolationshaft". | |
Finneisen, seine Zelle und die Zeit, mehr ist da nicht, seit sechzehn | |
Jahren. | |
Das Verbrechen, das so bestraft wird, findet am Morgen des 23. Mai 1995 | |
statt. Der ehemalige Autodieb und Inhaftierte der JVA Celle, Günther | |
Finneisen, und sein Kumpane Peter Strüdinger bringen den Vollzugsbeamten | |
Dietmar K. mit einer Waffenattrappe in ihre Gewalt. Um 20.48 Uhr fliehen | |
sie in einem silbergrauen Porsche 928 und 200.000 D-Mark aus der Anstalt in | |
die Freiheit. Nach 51 Stunden fasst sie in Osnabrück ein | |
Sondereinsatzkommando. | |
15 Jahre danach, im April 2010, ist Finneisen trotz seiner Bedenken zu | |
einem Treffen bereit. Ein Besuch, schreibt er in seinem Brief, werde "mit | |
vollem sicherheitswahn sein, also auch hinter panzerglas und so". Auf die | |
Rückseite des Umschlages hat er mit Kugelschreiber eine blaue Zielscheibe | |
gezeichnet und daneben: "29221 Celler Loch" geschrieben. Dieses Loch, 40 | |
mal 50 Zentimeter groß, wird am 25. Juli 1978 in die Mauer der Anstalt | |
gesprengt. Zunächst heißt es, Sympathisanten hätten den RAF-Terroristen | |
Sigurd Debus befreien wollen. Später jedoch offenbart sich die Fluchthilfe | |
als fingiert - eine Intrige des Verfassungsschutzes. | |
Finneisen sitzt noch heute im selben Trakt wie Debus und die | |
RAF-Terroristen Karl-Heinz Dellwo und Knut Folkerts. Jeder, der ihn | |
besuchen möchte, gilt wohl als verdächtig. Zur Begrüßung schnellt aus der | |
Anstaltspforte eine Metallzunge hervor, mit dem Personalausweis schnappt | |
das Maul wieder zu. "Lassen Sie alles, was Sie nicht brauchen, hier", sagt | |
der Mitarbeiter des allgemeinen Vollzugsdienstes. Im Vorraum ist eine Wand | |
mit Schließfächern. "Brauchen tun Sie hier gar nichts", fügt er hinzu. | |
Das Schloss einer Glastür surrt. Ein Vollzugsbeamter übergibt wortlos eine | |
Besucherplakette. Es geht durch den Rahmen eines Metallscanners, zusätzlich | |
wird mit einem Stabdetektor abgetastet. Leibesvisitation mit weißen | |
Gummihandschuhen, Desinfektionsspray steht griffbereit. Schuhe ausziehen. | |
Mit ihnen verlässt der Mann den Raum. Womöglich werden sie geröntgt. Alles, | |
obwohl der Gefangene hinter einer Panzerglasscheibe sitzen wird. | |
Es geht einen kurzen Gang entlang, helle Neonröhren an der Decke, | |
Stahltüren, die auf- und zugeschlossen werden, ein Innenhof, vielleicht von | |
der Fläche einer Turnhalle. Ein weiteres Hafthaus steht da, mit einer Art | |
Eisenkäfig als Vorbau. Zwei Mitarbeiter des Vollzugsdienstes unterhalten | |
sich. Mit ihnen geht es hinein. Erst nachdem alles von innen verriegelt | |
ist, öffnet sich die nächste Tür zum Besucherzimmer im | |
Hochsicherheitstrakt. | |
Als Deutschland in der Verlängerung der 95. Minute im Wembleystadion | |
Fußballeuropameister wird, sitzt Finneisen gerade ein Jahr in Isolation. Es | |
ist der 30. Juni 1996, und auf Finneisen warten rund 8 Millionen Minuten in | |
diesem Trakt. | |
Hier im Besucherzimmer steht ein Tisch, ein Stuhl, es gibt ein Fenster. Die | |
Wand ist von einer Panzerglasscheibe in einem grauen Strahlrahmen | |
durchbrochen. An der Seite ist ein Lautsprecher eingelassen, eine runde | |
perforierte Stelle im Rahmen ist das Mikrofon. Durch die Scheiben kann man | |
in einen weiteren Raum mit spiegelbildlicher Einrichtung sehen. Dort öffnet | |
sich die Tür. | |
Als Lady Diana bei einem Autounfall verunglückt - Paris, 31. August 1997, | |
0.25 Uhr - hat Finneisen seit fast zwei Jahren keinen anderen Gefangenen | |
mehr zu Gesicht bekommen. Und als Gerhard Schröder dann am 27. Oktober 1998 | |
zum 7. Bundeskanzler gewählt wird, mit 351 von 666 abgegebenen Stimmen, hat | |
Finneisen das dritte Jahr Einsamkeit bald überstanden. Er kennt nur Helmut | |
Kohl. | |
Finneisen betritt das Besucherzimmer, lächelt und hebt zum Gruß die Hand. | |
Er ist ein großer und dürrer Mann, eher ein Gerippe. Seine Wangen sind | |
gelblich, blass und stark eingefallen, sehr tiefe, schmale Furchen | |
zerschneiden sein Gesicht. Das lange Haar, das er zu einem Zopf gebunden | |
hat, ist schütter. Finneisen trägt blaue Anstaltskleidung, sein Hemd hat er | |
hochgekrempelt, blassblaue Tätowierungen ranken sich um beide Unterarme. | |
Ab dem 24. März 1999 befinden sich deutsche Tornados über der | |
Bundesrepublik Jugoslawien. Operation Allied Forces. Der erste Krieg der | |
Bundeswehr, verfassungsrechtlich zulässig, rund 500 Einsätze der Luftwaffe. | |
Den Himmel kann Finneisen zu diesem Zeitpunkt schon seit vier Jahren nicht | |
mehr sehen. | |
Das Fenster seiner Zelle, berichtet er, sei mit einem Lochblech versehen | |
und lasse sich nur eine Handbreit öffnen, darauf folge das Gitter und | |
schließlich ein engmaschiger Draht. Alle Räume, die er nach einem | |
Aufschluss betreten könne, seien videoüberwacht, sagt er. Seine Zelle | |
nicht. | |
Am 24. November 2000 sucht der erste BSE-Fall Deutschland heim. Finneisen | |
darbt seit fünf Jahren in alttestamentarischer Einsamkeit. | |
Das Essen im Knast sei mäßig, sagt er. Freitags gebe es Fisch, immer. | |
Ein Vollzugsmitarbeiter sitzt hinter Finneisen auf einen Stuhl. Er soll | |
beim Gespräch zuhören, starrt aber müde ins Leere und träumt sich weg. Nach | |
einer halben Stunde erlöst ihn ein ebenfalls geistig abwesender Kollege. | |
Die Mitarbeiter des Gefängnisses sind Finneisens einzige Ansprechpartner. | |
Zwischen ihm und dem Anstaltspersonal verläuft ein Graben: hier die Justiz, | |
dort der Kriminelle. In seiner Zelle gebe es Lautsprecher und | |
Gegensprechanlage. | |
Er sitzt bewegungslos an seinem Tisch hinter der durchsichtigen Mauer aus | |
Panzerglas. Warten beherrscht Finneisen. | |
11. September 2001, New York, einsackende Zwillingstürme, bröckelnde | |
Weltordnungen. | |
Finneisen befindet sich in absoluter Sicherheit, Stufe 3. Seit 6 Jahren ist | |
er in einem Trakt, der ausgetüftelt wurde, um Menschen derart zu isolieren, | |
dass sie jahrelang nebeneinander leben können, ohne sich je zu sehen. | |
1. Januar 2002, Einführung des Euro. | |
Finneisen kann kein Geld verdienen - 7 Jahre auf der Sicherheitsstation der | |
Stufe 1. Das Rauchen hat er aufgegeben. | |
20. März 2003, dritter Golfkrieg. | |
Finneisen schlägt seit 8 Jahren die Zeit tot. Er zeichne Karikaturen und | |
dürfe zwar Bleistifte besitzen, aber keinen Anspitzer. Im | |
Hochsicherheitstrakt gefährdet die Klinge eines Bleistiftanspitzers die | |
Integrität der Anstalt. | |
Wer Finneisen heute sieht - Arme kaum dicker als Besenstiele - kann sich | |
unmöglich vor ihm fürchten. | |
Im April 2004 sendet der US-Fernsehkanal CBS in seinem Magazin "60 minutes" | |
einen Bericht über die Erniedrigung von Gefangenen im US-Militärgefängnis | |
Abu Ghraib. | |
Wenn Finneisen - 9 Jahre emotionale, intellektuelle und sensorische | |
Reizarmut - auf den gesonderten Hof geht, müsse er sich davor und danach | |
komplett umziehen. Die Anstaltskleidung, die er tragen müsse, passe dann | |
manchmal nicht. Dies diene mitunter der Erheiterung der Mitarbeiter des | |
allgemeinen Vollzugsdienstes. | |
22. November 2005, Deutschland bekommt mit Angela Merkel die erste | |
Bundeskanzlerin, 397 der 611 gültigen Stimmen. | |
Finneisen dürfte politisch eher dem linken Spektrum zuzuordnen sein. | |
Interessiert das noch nach über 10 Jahren des inneren Monologs? "Hier ist | |
nichts, keine Lautstärke, nur Stille. Das ist bestimmt nicht das Bild, das | |
man sich von einem Sicherheitsknast macht." | |
2006 Hussein: gehängt, Kampusch: befreit, Finneisen: 11 Jahre. | |
Er sagt: "Ich lebe von Montag bis Freitag. Das Zeitgefühl verliert sich." | |
Immer folgender Tagesablauf: 5.30 Uhr aufstehen, 6 Uhr Briefe abgeben, 7 | |
Uhr Hofgang bis 8.30 Uhr, 11.30 Uhr Mittagessen, 14 Uhr Hofgang, 18 Uhr | |
Küche, dann wieder in die Zelle; Montag, Mittwoch, Freitag: duschen; 30 | |
Euro Taschengeld im Monat. | |
Finneisen spricht die wenigen Sätze mit norddeutschem Einschlag aus. Ob ein | |
Ende seiner Isolation absehbar sei? "Ich habe keine Ahnung. Ich denke da | |
auch gar nicht drüber nach. Da wird man nur verrückt." | |
Verrückt? Ein Gefangener, der 1970 in Isolationshaft kam, schreibt: | |
"Häufige Schwindelgefühle, plötzlich auftretend, ziemlich verschwommen, | |
erinnert ein bisschen an Seekrankheit? Starkes Schlafbedürfnis, nicht in | |
der üblichen Form, sondern jede einzelne Zelle scheint ausgebrannt, ohne | |
daß man dann tatsächlich Schlaf finden könnte … Blut rauscht, Herzschlag | |
durch den ganzen Körper fühlbar, Schläge sind ungleichmäßig, kurzes | |
Aussetzen, dann Trommelwirbel … Das Ganze kam immer in Wellen, in einem | |
Wellental krabbelte ich meistens die zwei Meter bis zum Klo, weil die Beine | |
ein bisschen wacklig waren, und verbrachte dort manch muntere Nacht." | |
Dieser Gefangene war zweieinhalb Jahre isoliert. | |
Finneisen sagt: "Man kriegt einen an die Waffel. Die Konzentration - es | |
fehlen die Worte." | |
Am 9. März 2007 wird die Rente mit 67 eingeführt. Finneisen befindet sich | |
seit 12 Jahren in Isolation. Eingeweckt wie Sauerfleisch. | |
Das Justizministerium Niedersachsen schreibt: "Bei der Unterbringung in | |
Sicherheitsstationen des Landes Niedersachsen handelt es sich nicht um | |
,Isolierhaft', sondern um die unausgesetzte Absonderung eines Gefangenen | |
(Einzelhaft). […] Die Diskussion über die mit dem Vollzug langjähriger | |
Freiheitsstrafen verbundenen psychischen Belastungen bzw. Veränderungen | |
wird seit Jahren kontrovers geführt." Verschiedene Studien ließen keine | |
eindeutigen Rückschlüsse auf Schäden zu, sondern deuteten "auf eine mit den | |
Jahren ansteigende Fähigkeit der Inhaftierten hin, sich an die | |
Haftbedingungen anzupassen". | |
Ob er sich manchmal vorstelle, durch die Celler Innenstadt zu flanieren, | |
keine 500 Meter von hier? "Eine Berg-und-Tal-Bahn wäre das." | |
Seine dunkel umschatteten Augen liegen in tiefen Höhlen. Beim Hofgang sei | |
er mittlerweile schnell müde. Sein Körper spiele nicht mehr mit. | |
Sjef Teuns, Psychiater, schreibt zu den Folgen der Isolation: "Die | |
Herstellung und Aufrechterhaltung einer künstlichen Umgebung, die sich | |
einerseits durch ihre Konstanz und Unveränderlichkeit und andererseits | |
durch willkürlich dosierte Reize - auch im Schlaf - auszeichnet, legt im | |
Laufe der Zeit die Sinnesorgane lahm und führt zu einer Desintegration und | |
extremen Desorientierung des so isolierten Individuums, so wie etwa lang | |
andauernde, erzwungene Bewegungslosigkeit zu einer Erschlaffung der | |
Muskulatur, zu Gelenkversteifungen und Knochenverformungen führen kann." | |
Der Artikel steht im Kursbuch 32. Die Ausgabe hat den Titel: "Folter in der | |
BRD. Zur Situation der Politischen Gefangenen". Erschienen 1973, die | |
RAF-Terroristen Meinhof, Ensslin, Baader und Meins prangern mit einem | |
Hungerstreik öffentlichkeitswirksam die "Isolationsfolter" an. Sie haben | |
Kontakte zu Journalisten, Amnesty International schaltet sich ein. | |
Finneisen kennt niemanden von Bedeutung, einen Anwalt hat er nicht. Sein | |
Pech. | |
Am 15. September 2008 beantragt die New Yorker Investmentbank Lehman | |
Brothers Insolvenz. Beginn der Weltfinanzkrise. | |
Finneisen tangiert das nicht, seine Habseligkeiten passen in einen Karton | |
und eine Plastiktüte. Er lächelt asiatisch sanft, wenn er von seiner | |
Tristesse erzählt. | |
Wie gefährlich muss einer sein, damit man ihn hier vergammeln lässt? Im | |
"Einheitlichen Niedersächsischen Vollzugskonzept" heißt es: "In den | |
Sicherheitsstationen werden vor allem besonders gewaltbereite | |
beziehungsweise erhöht fluchtgefährdete Gefangene untergebracht. […] Die | |
Gründe für die Unterbringung und deren Dauer sind vielfältig. Sie reichen | |
von der kurzzeitigen Krisenintervention nach selbst- oder fremdgefährdenden | |
Vorfällen bis hin zur unumgänglichen langjährigen Unterbringung eines | |
potenziellen und gefährlichen Geiselnehmers." Dort steht auch: "Ziel jeder | |
Unterbringung ist es, den Gefangenen so schnell wie möglich (wieder) in den | |
Normalvollzug zu integrieren." | |
Mangels Alternativen hat sich Finneisen eine Verbrecheridentität zugelegt. | |
Er äußert sich nicht besonders strategisch: "Wenn die mich in den Hof | |
schicken, dann suche ich den Notausgang." | |
26. Januar 2009 eine 7 Minuten und 54 Sekunden andauernde ringförmige | |
Sonnenfinsternis, sichtbar im südlichen Afrika, in Südostasien, in der | |
Antarktis und in Australien. | |
Bei Finneisen scheint seit 14 Jahren fahles Kunstlicht. Er sagt: "Mit sich | |
selbst beschäftigen war schon immer meine Stärke." Er findet es sonderbar, | |
dass die Menschen in Freiheit ständig telefonieren würden. Wundersam sei | |
auch die Vorstellung, dass Leute sich von einem Navigationsgerät im Auto | |
zur Arbeit geleiten lassen. Wenn er mal die Sicherheitsstation verlassen | |
müsse - das passiere so gut wie nie -, dann kann er sich kaum verlaufen; er | |
sei stets gefesselt. | |
Zur Verwendung der Sicherheitsstationen steht im Vollzugsplan des Landes | |
Niedersachsen aus dem Jahr 2010: "Die bundeseinheitliche | |
Verwaltungsvorschrift zu § 89 StVollzG (vgl. Erlass vom 17. 12. 2007, 4403 | |
- 305.83) wird für nicht anwendbar erklärt." In Paragraf 89 steht: | |
"Einzelhaft von mehr als drei Monaten Gesamtdauer in einem Jahr bedarf der | |
Zustimmung der Aufsichtsbehörde." | |
Am 20. April 2010 sterben bei einer Explosion auf der Bohrinsel "Deepwater | |
Horizon" im Golf von Mexiko elf Menschen. | |
Einen Monat später lebt Finneisen seit 15 Jahren in einem Standbild. 6.000 | |
Tage eingefroren in einem Quader aus Stahl und Beton, Grundfläche rund 9 | |
Quadratmeter. Immer dieselben Abläufe, dieselbe Umgebung, dieselben Farben, | |
immer der gleiche Geruch, immer Gleichheit, immer Monotonie, keine Freunde, | |
keine Liebe, immer nur Finneisen. Finneisen in Aspik. | |
Ein Geräusch. Die Tür im Besucherzimmer des Hochsicherheitstraktes der JVA | |
Celle öffnet sich. Ein Beamter sagt: "Die Zeit ist um." Eine Stunde von | |
rund 15 Jahren, die Finneisen bis zu diesem Zeitpunkt wartet. Er winkt, | |
lächelt aus seinem geisterhaften Gesicht. Dann verschluckt ihn der Trakt. | |
"Sie wollen das doch nicht aufschreiben?", sagt der Beamte, "das stimmt | |
hinten und vorne nicht." | |
Finneisen schweigt. Am 14. Juli 2010 kommt eine Postkarte, als Motiv ein | |
grünes Hanfblatt. Mit wacklig gekrakelten Großbuchstaben entschuldigt er | |
sich für die verstrichene Zeit: "das hat sicher nix mit dir zu tun, sondern | |
ich hab hier sooo meinen Blues. Und den in ernste worte zu bringen? Etwas | |
geduld, brief folgt baldmöglichst. Fini." | |
Mehrfache Nachfragen, monatelang keine Post. "baldmöglichst" wird der 9. | |
Februar 2011. | |
Finneisen sitzt jetzt seit fast 16 Jahren allein im Kerker, eine | |
Zeitspanne, in der Menschen erwachsen werden, bei ihm bedeutet Entwicklung | |
Degeneration. In seinem Brief fragt er, was wohl draußen aus ihm werde. Er | |
schreibt, sein Gespartes belaufe sich auf 232 Euro. | |
Wer verantwortet den Umgang mit Finneisen - seit fast 16 Jahren in | |
"Absonderung"? Georg Weßling, Pressesprecher des Justizministeriums | |
Niedersachsen, schreibt im Februar 2011, dass Fragen zu Finneisen nicht im | |
Detail beantwortet werden könnten, "um die Persönlichkeitsrechte der | |
Gefangenen zu schützen". Aber: "Die Unterbringung von Gefangenen auf der | |
Sicherheitsstation bedarf stets der Zustimmung des Justizministeriums." | |
Zuständige Justizminister der letzten 16 Jahre, chronologisch: Heidrun Merk | |
(SPD), Wolf Weber (SPD), Christian Pfeiffer (SPD) sowie, aktuell, Bernd | |
Busemann (CDU). | |
Im November 2011 spuckt die Justizvollzugsanstalt Celle den Gefangenen | |
Finneisen wieder aus. | |
Er soll bis dahin ein selbstbestimmtes Leben erlernt haben, Paragraf 2, | |
Strafvollzugsgesetz: "Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene | |
fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten | |
zu führen (Vollzugsziel)." | |
Von taz-Redakteur Kai Schlieter erscheint am 24. Februar das Buch | |
"Knastreport. Das Leben der Weggesperrten" (Westend Verlag). | |
Am 2. März, 19 Uhr gibt es im tazcafé, Rudi-Dutschke-Str. 23, Berlin eine | |
Diskussion dazu. | |
24 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Kai Schlieter | |
Kai Schlieter | |
## TAGS | |
Rote Armee Fraktion / RAF | |
Schwerpunkt Überwachung | |
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