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# taz.de -- Exrichterin über Sicherungsverwahrung: "Wir bewegen uns in einer G…
> Verhält sich Deutschland weiter menschenrechtswidrig? Renate Jaeger,
> Exrichterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, über die
> Renitenz der deutschen Justiz.
Bild: Wie geht eine Gesellschaft mit Straftätern um? Die perfekte Lösung gibt…
taz: Frau Jaeger, stellen Sie sich vor, in Ihrem Nachbarhaus zieht ein Mann
ein, der gerade aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurde. Wie reagieren
Sie?
Renate Jaeger: Ich würde sicher etwas nachdenklich. Doch dann würde ich mir
sagen, dass wohl auch 2011 die meisten schweren Straftaten von Ersttätern
begangen werden. Die Fixierung der öffentlichen Sorge auf eine kleine
Gruppe von Haftentlassenen finde ich nicht sehr rational.
Wenn Sie aber zudem erfahren, dass der Mann immer noch als gefährlich gilt
und nur aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte freigelassen wurde?
Worauf wollen Sie hinaus? Ob ich unser Urteil bereue? Nein, ich bereue es
nicht. Außerdem hatte der Gerichtshof keine Wahl. In Deutschland wurden
Menschen länger in Haft gehalten als im Strafurteil stand. Das verstieß
gegen das Rückwirkungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wer
zu maximal zehn Jahren Sicherungsverwahrung verurteilt wird, muss darauf
vertrauen können, dass zehn Jahre nach Verbüßung der Strafe die
Freiheitsentziehung auch wirklich endet. Dass Deutschland 1998 die
10-Jahres-Frist auch für bereits einsitzende Gefangene aufgehoben hat,
mussten wir deshalb zwingend beanstanden.
Damit haben Sie in Deutschland einen ganz schönen Wirbel verursacht. Die
Politik und viele Richter mauern. Von über hundert Betroffenen wurden erst
36 entlassen. Rund 70 Personen sitzen weiter rechtswidrig in Haft. Müssen
diese alle in Straßburg klagen, um rauszukommen?
Nein. Deutschland ist verpflichtet, die Menschenrechtskonvention so
anzuwenden, wie sie der Straßburger Gerichtshof auslegt. Das heißt, wer
konventionswidrig inhaftiert ist, muss entlassen werden, auch wenn es für
den jeweiligen Einzelfall noch kein Urteil aus Straßburg gibt.
Wer muss die Entlassung anordnen? Die für den Strafvollzug zuständigen
Behörden der Länder. Und wenn diese untätig bleiben, die Gerichte.
Viele Gerichte in Deutschland sagen, sie könnten die Entlassung nicht
anordnen, weil diese gegen das deutsche Strafgesetzbuch verstoße. Der
Bundestag müsse das Gesetz vorher ändern. Zu Unrecht?
Einige Gerichte haben doch Entlassungen angeordnet - es geht also durchaus.
Aber wenn der Gesetzgeber erforderlich sein sollte, dann muss er eben tätig
werden. Es kommt hier weniger auf den Weg als auf das Ergebnis an. Es kann
ja nicht sein, dass jeder den schwarzen Peter an den anderen weiterreicht,
weil alle Angst vor den Boulevardmedien haben.
An diesem Dienstag verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die
unterbliebenen Entlassungen. Kann es den Knoten durchschlagen?
Ich hoffe es. Es ist immer besser, wenn Justiz und Politik vor Ort eine
Lösung finden, als wenn "Europa" von außen Druck machen muss.
Andere hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht das Straßburger Urteil
kritisiert und Haftentlassungen verhindert. Es heißt, der Straßburger
Gerichtshof habe übersehen, dass der Staat auch den Schutz von Leben und
Gesundheit seiner Bürger garantieren muss. Stimmt das?
Das hat der Gerichtshof natürlich nicht übersehen. Aber die Freiheit vor
willkürlicher Verhaftung hat in der Geschichte der Menschenrechte schon
seit Jahrhunderten eine zentrale Bedeutung. Die Bestimmungen der
Europäischen Konvention für Menschenrechte sind deshalb abschließend und
dürfen nicht unter Hinweis auf vage staatliche Schutzpflichten ausgehebelt
werden.
Was wäre, wenn Karlsruhe aus dem Grundgesetz tatsächlich Schutzpflichten
ableitet, die die Europäische Menschenrechtskonvention verdrängen?
Das hieße ja, dass die Konvention in Deutschland verfassungswidrig wäre -
während alle anderen 46 Staaten des Europarats mit ihr zurecht kommen. Dann
müsste Deutschland aus der gemeinsamen Konvention aussteigen und könnte in
Europa andere Staaten kaum noch glaubwürdig zur Einhaltung der
Menschenrechte mahnen. Das wird wohl niemand ernsthaft wollen.
Als Alternative hat der Bundestag jüngst das Therapie-Unterbringungsgesetz
beschlossen. Danach kann eine Entlassung aus der Sicherungsverwahrung
verhindert werden, wenn die Person noch gefährlich und zugleich psychisch
gestört ist. Was halten Sie davon?
Der Straßburger Gerichtshof prüft nicht abstrakte Gesetze, sondern konkrete
Fälle. Es kommt also sehr darauf an, wie das Gesetz in der Praxis angewandt
wird. Grundsätzlich erlaubt die Konvention die zwangsweise Unterbringung
von psychisch Kranken, die eine abstrakte Gefahr für andere darstellen.
Kritiker halten es für ein Kennzeichen von Diktaturen, wenn unliebsame
Personen mal schnell als psychisch Kranke weggesperrt werden. Wie
beurteilen Sie das?
Der Einwand ist ernst zu nehmen, gerade angesichts der geschichtlichen
Erfahrungen in Europa. Der Gerichtshof wird hier sicher sehr genau
hinschauen. Aber ich finde das Gesetz nicht per se empörend.
Wer in Sicherungsverwahrung saß, war bei der Tat schuldfähig und nun soll
er plötzlich psychisch gestört sein. Ist das nicht ein billiger Trick?
Nein. Wenn man sich die meist lange Karriere von Sicherungsverwahrten
anschaut, dann fällt auf, dass viele bei ersten Verurteilungen durchaus als
psychisch krank eingestuft wurden und erst später als schuldfähig. Das mag
etwas mit dem jeweiligen Zeitgeist zu tun haben oder mit den Interessen von
Gutachtern. Viele arbeiten ja in psychiatrischen Kliniken und wollten
womöglich verhindern, dass so schwierige Personen in ihre Einrichtung
kommen. Wir bewegen uns hier offensichtlich in einer Grauzone.
Was halten Sie von der Reform der Sicherungsverwahrung, die der Bundestag
zum Jahresende beschlossen hat?
Ich finde es gut, dass die Sicherungsverwahrung künftig auf Gewalt- und
Sexualstraftäter konzentriert wird. Mit notorischen Dieben und Betrügern
muss die Gesellschaft anders umgehen. Das war allerdings keine Forderung
des Gerichtshofs. Er hat erst vor wenigen Wochen die Sicherungsverwahrung
eines Einbrechers akzeptiert.
Die Justizministerin ist besonders stolz darauf, dass die nachträgliche
Anordnung der Sicherungsverwahrung gestrichen wurde.
Wie der Gerichtshof jüngst festgestellt hat, verstößt sie gegen die
Menschenrechtskonvention, weil hier die Freiheitsentziehung erst lange nach
dem Strafurteil angeordnet wird. Allerdings ist die nachträgliche
Sicherungsverwahrung in Deutschland bisher noch nicht wirklich abgeschafft.
Für Taten, die bis Ende 2010 stattfanden, kann sie noch einige Jahre lang
angeordnet werden. Hier muss der Bundestag wohl nachbessern.
Große Bedeutung wird künftig die vorbehaltene Sicherungsverwahrung haben,
Sie kann auch für Ersttäter im Urteil angedroht werden, während die
endgültige Entscheidung über die Verwahrung erst am Haftende fallen soll.
Ist das der neue Königsweg?
Nein. In rechtlicher Hinsicht könnte der Gerichtshof auch hier monieren,
dass der endgültige Beschluss über die Freiheitsentziehung erst lange nach
dem Strafurteil fällt. Ob die bloße Androhung im Urteil ausreicht, um der
Konvention zu genügen, halte ich für eine offene Frage. Aber auch in der
Sache gefällt mir dieses Modell nicht. Es besteht die Gefahr, dass viel
mehr Menschen in Sicherungsverwahrung landen als früher, weil die
Verwahrung nun häufig angedroht wird und dann ein Automatismus zur
endgültigen Anordnung entsteht.
Welches Modell bevorzugen Sie?
Die perfekte Lösung hat niemand. Aber mich beeindruckt, dass in
Skandinavien viel intensiver mit Häftlingen gearbeitet wird. Trotz kürzerer
Strafen und meist ohne Sicherungsverwahrung ist dort die Rückfallgefahr
relativ niedrig.
8 Feb 2011
## AUTOREN
Christian Rath
## TAGS
Schwerpunkt Überwachung
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