# taz.de -- Debatte Sicherungsverwahrung: Die Lust auf Gut und Böse | |
> In Deutschland wird der Ruf nach harten Strafen immer lauter. Nur: Sie | |
> bestehen bereits - und versagen. Eine zunehmend verunsicherte | |
> Gesellschaft möchte das nicht wahrhaben. | |
Bild: Viel hilft viel? Das gilt nicht für den Strafvollzug. | |
Als Karl D. bei seinem Bruder in Heinsberg-Randerath bei Aachen einzieht, | |
beginnt RTL zu filmen. Denn Karl D. ist eine "Bestie", wie der Boulevard | |
gerne titelt. Er war 1984 wegen Vergewaltigung einer 15-Jährigen verurteilt | |
worden. Nach seiner Entlassung vergewaltigte er erneut zwei Mädchen äußerst | |
brutal. Dann kam er 2008 raus und zog später zu seinem Bruder. Von nun an | |
gab es jeden Abend eine Demonstration vor dem Wohnhaus, monatelang. "Raus, | |
du Sau!", steht auf Transparenten. Die Deutsche Kinderhilfe forderte bald | |
darauf eine Verschärfung der rechtlichen Bestimmungen zur | |
Sicherungsverwahrung. | |
"Lebende Tote" | |
Ein irregeleiteter Reflex, denn es ist eine Mär, dass Deutschland lasch mit | |
seinen Verbrechern verfahren würde. Seit 1998 wurde die | |
Sicherungsverwahrung fast jedes Jahr verschärft, die Zahl der Verwahrten | |
stieg um 160 Prozent. Das Gegenteil stimmt also, aber die Härte des | |
Strafrechts steht im Schatten eines Scheinriesen, der Kriminalität heißt | |
und den Medien perfekt ausleuchten. | |
Übrigens sind nicht alle Verwahrten Sexmonster: Zuletzt saßen 47 Prozent, | |
248 Täter, wegen Sexualstraftaten. In der totalen Institution | |
Sicherungsverwahrung tummeln sich neben Gewaltverbrechern auch Betrüger, | |
Diebe, Räuber und bislang noch notorische Heiratsschwindler. | |
In der Wirklichkeit der Knäste heißen Sicherungsverwahrte "lebende Tote". | |
Angesichts der offenen Frage, ob sie jemals wieder frei sein werden, | |
vegetieren nicht wenige von ihnen die längste Zeit ihrer unbefristeten | |
Verwahrung in ihrer Zelle vor sich hin, hospitalisiert, liegend. Manche | |
verdunkeln ihre Zellen, wozu noch mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen? | |
Dabei hat das Bundesverfassungsgericht bereits 2006 festgestellt: "mit der | |
Menschenwürde wäre es unvereinbar, wenn der Staat für sich in Anspruch | |
nähme, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne dass | |
zumindest die Chance für ihn bestünde, je wieder der Freiheit teilhaftig | |
werden zu können". | |
Von den 47 Staaten des Europarats kennen neben Deutschland nur 6 weitere | |
die Möglichkeit, einen Straftäter nach Verbüßung der Strafe im Gefängnis zu | |
behalten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte über die | |
deutsche Variante der Sicherungsverwahrung Ende 2009: menschenrechtswidrig. | |
Die Bundesregierung war also gezwungen, nachzubessern. Das tut sie noch und | |
Deutschland könnte sich erneut eine Ohrfeige einfangen. Nun muss ein Teil | |
der Verwahrten woanders untergebracht werden. Wer den Komplex aus medialen | |
Verzerrungen und einer anbiedernden Kriminalpolitik verfolgt, versteht, | |
woher Szenen wie in Heinsberg-Randerath rühren. | |
Strafen ist en vogue | |
Seit 2003 ist die Zahl der Sicherungsverwahrten um 41 Prozent auf 524 | |
gestiegen. Seit 1980 hat sich die Zahl der psychisch kranken Straftäter im | |
Maßregelvollzug auf 9.251 im Jahr 2010 verdreifacht. Bestrafen ist en | |
vogue. Dabei sind sich Experten wie der renommierte Strafrechtler Frieder | |
Dünkel oder auch Harald Preusker, der ehemalige Chef der JVAs Stammheim und | |
Bruchsal, sicher, dass ein Drittel aller 75.000 Inhaftierten ohne negative | |
Folgen sofort entlassen werden könnte. Aber das will niemand, denn | |
Deutschland fühlt sich unsicher. | |
In den USA beschert diese Gemütslage dem erfolgreichsten Unternehmen in | |
diesem Marktsegment satte Gewinne: Die Corrections Corporation of America | |
(CCA) segnete ihre Aktionäre 2007 mit einer Rendite von 15 Prozent. In | |
keinem Land der Erde sitzen mehr Menschen im Knast als im Land der | |
unbegrenzten Freiheit. Seit 1979 stieg die Anzahl der Häftlinge bis 2009 um | |
astronomische 708 Prozent auf rund 2,3 Millionen (einer von 11 schwarzen | |
US-Amerikanern sitzt, einer von 27 Lateinamerikanern und einer von 45 | |
weißen Amerikanern). | |
Mit der Gefährlichkeit der Bevölkerung hat das nichts zu tun. In den USA | |
kommen rund 730 Gefangene auf 100.000 Bürger, im benachbarten Kanada liegt | |
die Rate bei 110. Kriminalität folgt nicht Naturgesetzen, sondern | |
Setzungen, etwa der Verschärfung von Gesetzen und wird von ideenlosen | |
Politikern instrumentalisiert. 2003 erreichte der Zweite Bürgermeister | |
Ronald Schill von Hamburg eine Gefangenenrate in der Hansestadt von rund | |
180 - ein Niveau wie in einigen Ländern Osteuropas. Nach seiner Demission | |
sank die Rate um 30 Prozent, ohne dass in Hamburg das Chaos ausgebrochen | |
wäre. | |
Soziale Unschärferelation | |
Der Wunsch, Risiken auszuschalten, resultiert aus existenziellen | |
Verunsicherungen: Job, Beziehung, Wohnort, Beruf, Religion, sexuelle | |
Identität: alles unterliegt einer sozialen Unschärferelation. Soziale | |
Faktoren gelten dem Zeitgeist des Neoliberalismus als sozialistischer | |
Mumpitz. Eigenverantwortung bedeutet, Risiken selbst zu versichern. Dieses | |
Klima sensibilisiert für Unsicherheiten. Mit Law and Order simulieren | |
Politiker Ordnung in diesem Chaos, Strafe impliziert klare Regeln: hier | |
Täter, da Opfer, kein Rauschen. Es trifft ohnehin die "Überflüssigen". Die | |
Verursacher der Finanzkrise findet man nicht in deutschen Gefängnissen. | |
Knäste bleiben Reservate der Unterschicht. | |
Der norwegische Rechtssoziologe Thomas Mathiesen schrieb: "Tatsächlich hat | |
das Gefängnis über die Jahrhunderte hinweg niemals seinen rehabilitierenden | |
Zielsetzungen entsprechend funktioniert: Das Gefängnis konnte zu keiner | |
Zeit Menschen in einen funktionstüchtigen Zustand versetzen." | |
In Deutschland liegt die Rückfallquote von jugendlichen Straftätern bei bis | |
zu 80 Prozent; wird die Haft gelockert, sinkt sie auf rund die Hälfte. | |
Gefängnisse machen die Gesellschaft unsicher. Wer mit Menschen spricht, die | |
in Deutschland vierzig Jahre in Hochsicherheitstrakten vergammeln, stellt | |
fest, dass das Gerede von den kuscheligen Haftbedingungen eine Schimäre ist | |
und eine andere Funktion erfüllen muss: Beim kollektiven Entsetzen über | |
grausame Taten entsteht ein Moment der Übereinkunft. Dass nämlich die | |
Kriminellen die Anderen sind. Das Gefängnis sortiert Gut und Böse und | |
fingiert Eindeutigkeit in einer komplizierten Welt. Die katholische Kirche | |
versagt ja zunehmend in ihrem Kerngeschäft. | |
12 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Kai Schlieter | |
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