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# taz.de -- Längste Haftstrafe seit Bestehen der BRD: Fuffzig voll
> Hans-Georg Neumann hat zwei Menschen ermordet. Seit einem halben
> Jahrhundert lebt er nun im Gefängnis. Was macht das mit ihm? Und warum
> kommt er nicht mehr raus?
Bild: Hans-Georg Neumann wartet seit 50 Jahren im Knast darauf, ein besserer Me…
BRUCHSAL taz | Neumann nutzt jede Gelegenheit in der Anstalt, um an die
frische Luft zu kommen. Bei schönem Wetter zieht er Schuhe und Strümpfe
aus. Dann geht er barfuß. Vor langer Zeit fing seine Hüfte an zu schmerzen.
Weitere Jahre vergingen, bis Neumann merkte, woher dieses Stechen rührte.
Es kam von den vielen Jahren, die er im Kreis gegangen war. Seitdem läuft
er im Gefängnishof eine Acht.
Hans-Georg Neumann, gelernter Feinblechner, geboren am 14. September 1936,
wird durch die Staatsanwaltschaft Berlin I am 20. Januar 1962 in das
Untersuchungsgefängnis Moabit eingewiesen. Sein Fall bekommt die
Geschäftsnummer 25 VRs 1 Kap Ks 4/63.
Über Neumann urteilt am 30. Mai 1963 der Richter Heinz Brandt, früher
NSDAP-Mitglied, Abteilungsleiter in der Reichsgruppe Junge Rechtswahrer,
ein Mann der Diktatur. Er bestimmt: „Der Angeklagte wird wegen
Autostraßenraubes und wegen zweifachen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus
verurteilt. Die bürgerlichen Ehrenrechte werden ihm auf Lebenszeit
aberkannt.“ In Neumanns Strafakte steht: „Ablauf der Mindestverb. Dauer,
Ende: 07. 06. 1984, 23:59“.
Am Freitag, den 3. Februar 2012, hat Neumann seine Mindestverbüßdauer um
fast 28 Jahre überschritten und gerade sein Mittagessen beendet. Fisch. Er
sitzt auf einem Plastikstuhl an einem Holztisch im Besucherzimmer der
Justizvollzugsanstalt Bruchsal. Im Raum ist es kühl, Gardinen hängen vor
den vergitterten Fenstern. Hinter den Zinnen draußen patrouillieren Beamte
mit Maschinenpistolen. Neumann kaut Kaugummi, streckt die Füße aus und
faltet seine Hände vor dem Bauch. Er wirkt, als sei er bester Dinge.
## Ein Gnadengesuch? Nie. Er ist stur wie ein Esel
Seit dem 20. Januar 2012 hat Neumann die fuffzig voll. Fuffzig Jahre Bau.
Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland hat keiner länger als Neumann
gesessen. Mit seinem Rekord hat er einen Mann abgelöst, der auch in
Bruchsal saß. Er hieß Heinrich Pommerenke, die „Bestie in Menschengestalt�…
so hat ihn die Süddeutsche Zeitung einmal genannt. 2008 starb der
Serienmörder nach 49 Jahren im Knast. Sie haben sich getroffen. Neumann
sagt: „Ick loof noch mit der Jacke zum Hof, die er mir jeschenkt hat.“
Mit 25 Jahren ist Neumann eingefahren. Jetzt ist er 75 Jahre alt. Hätte ihm
das damals einer gesagt, Neuman hätte sich „weggehängt“. Doch die
Jahrzehnte haben sich eingeschlichen in sein Leben. Der Knast ist sein
Leben geworden. Lebenslänglich.
Im Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juni 1977
heißt es: „Zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs
gehört, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich
eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden. Die
Möglichkeit allein der Begnadigung ist nicht ausreichend.“
Bei Neumann scheint sich der Staat eine Ausnahme zu gestatten. Hat er also
keine Würde? Ist er kein Mensch?
Jedenfalls ist er so stur wie ein Esel. Bis 1982 dauert es, bis er seinen
ersten Antrag auf „Aussetzung der Vollstreckung der lebenslangen
Freiheitsstrafe zur Bewährung“ stellt. Da sind schon 20 Jahre um. Aber
Neumann hatte ganz am Anfang im Gefängnis, im Januar 1964, Ärger mit den
Beamten. Er saß in einer Zelle, nahe einer Kreuzung. Ohrenbetäubend der
Straßenlärm, fand er. Und weil er die Ruhe braucht, beschwerte er sich.
Aber das scherte niemanden. Um seinem Wunsch klarer Ausdruck zu verleihen,
fackelte er seine Seegrasmatratze ab und zerdepperte sein Klo.
Im Qualm kniete er nieder – er macht das jetzt hier im Besucherraum vor –
und atmete durch den Türspalt. Draußen hörte er, wie ein Beamter zum
anderen sagte, er solle sich Zeit lassen, der Neumann werde schon von ganz
alleine ruhig. Dann, sagt Neumann, hätten die Beamte das Feuer in der Zelle
gelöscht, ihn nass gespritzt und bei minus 14 Grad über den Hof gejagt. Am
nächsten Tag hätten sie ihn mit Gummiknüppeln vermöbelt. Neumann erzählt,
dass er danach sechs Jahre seine Zelle nicht verlassen und mit keinem
Beamten mehr gesprochen hat. Er schwor sich, nie ein Gnadengesuch zu
stellen.
Achtzehn Jahre später, 1982, stellt er den ersten Antrag auf Bewährung. Es
kommt zwar zur mündlichen Anhörung, dann aber schaltet er wieder auf stur.
Ein Vollzugshelfer hatte ihn unterstützen wollen. Er heißt Gerhard Bruch
und begleitete Neumann. Doch der Richter ließ Bruch nicht zu Wort kommen.
Die Anhörung ging schief. „Weil der Verurteilte in seiner Stellungnahme die
Resozialisierungsbemühungen kurzerhand als ’Quatsch‘ bezeichnete, sich von
seinem schriftlichen Antrag auf Strafaussetzung distanzierte und
schließlich auf ausdrückliches Befragen erklärte, er stelle an das Gericht
kein Gesuch.“ So schrieb es das Gericht am 14. Dezember 1982. Der
Vollzugshelfer schickte eine Protestnote an das Landgericht Berlin und
nannte das Verhalten des Richters einen „menschlich skandalösen Vorgang“.
Neumann blieb drinnen.
Er hat in seinem Leben nicht viele Anträge dieser Art gestellt. Im Juni
2011 aber haben sie wieder einen abgelehnt. „Die Strafaussetzung zur
Bewährung gemäß § 57 StGB wird weiterhin nicht befürwortet“, schreibt die
Justizvollzugsanstalt Bruchsal. Das Wort „nicht“ ist mit einem
Kugelschreiber unterstrichen worden. Neumann hat das weggesteckt. So wie er
mit den Jahren auch akzeptiert, dass es im Knast keine Freunde gibt. Eines
aber stand für ihn immer fest: Mit einem will er es sich nicht verscherzen.
Neumann sagt: „Ick verkehr noch mit meinem Doktor Gerhard Bruch.“
Die beiden lernen sich im Jahr 1972 kennen. Gerhard Bruch ist Pfarrer,
Religionslehrer und ehrenamtlicher Vollzugshelfer. Er hat Neumann damals
alle drei Wochen im Knast in Berlin-Tegel besucht. Draußen der Pfarrer,
drinnen der Neumann.
Bruch wohnt mit seiner Frau im grünen Berlin-Zehlendorf. Schneeweiße Haare
hat er und ein rosiges Gesicht, schmächtig ist er. Neumann, der 95 Kilo auf
die Waage bringt, hatte ihm geschrieben, dass er so viel wiege wie Bruch
und seine Frau zusammen, und das war keine Übertreibung. Als ihn der Riese
einmal umarmte, damals in Tegel, da hatte Bruch Angst, zerquetscht zu
werden.
In seiner Altbauwohnung hat Bruch einen Teppich ausgelegt, den Neumann
geknüpft hat. Auf einem Regal steht ein Foto, das Neumann zeigt.
Seit 1991 schreiben sich die beiden nur noch. Neumann wurde in dem Jahr
dauerhaft in die JVA Bruchsal verlegt. Bruch schickt Neumann jeden Monat
einen Brief. Meistens entschuldigt er sich, weil er nicht exakt nach vier
Wochen geantwortet hat. Und Neumanns erster Satz lautet mit wenigen
Ausnahmen: „Lieber Herr Bruch ihren Brief habe ich dankend erhalten.“
Neumann schreibt auf einer Schreibmaschine, in den ersten Jahren betippt er
die Rückseite von Kalenderblättern. Die Postleitzahl wechselt von 7520 zu
76646, beide Anschriften bleiben gleich. Gerhard Bruch und Neumann:
unzertrennlich seit einem halben Leben, aber gesehen haben sich die beiden
nie wieder seit der Verlegung.
## Er steckt zwei Revolver und ein Bowiemesser ein
„Ein Besuch in Bruchsal – ich muss zugeben, dass ich das versäumt habe“,
sagt Gerhard Bruch. Selbst als er in der Nähe war, ist er nicht zu Neumann
gefahren. Er hat ein schlechtes Gewissen, obwohl er dem anderen seit
Jahrzehnten die Treue hält. Gerhard Bruch ist ein Mensch, dem Anstand und
Höflichkeit viel bedeuten.
In den siebziger Jahren glaubt Bruch noch, Neumann irgendwann in Freiheit
zu treffen. Er schreibt an dessen damaligen Anwalt am 3. März 1975: „Ich
kann nicht zusehen, wie systematisch alle Versuche, Herrn Neumann etwas
Selbstbewußtsein zu festigen, zerstört werden, ohne jeden Sinn und
Verstand. Sehen Sie eine Möglichkeit, etwas zu unternehmen?“ Der Anwalt
erreicht nichts. Und Neumann schreibt am 21. Dezember 1977 an Gerhard
Bruch: „Ich bitte Sie also, mir gegenüber nicht mehr von Entlassung zu
reden.“ Bei ihren Treffen im Knast essen sie Kirschkuchen mit Schlagsahne.
Kein Wort über die Tat im Jahr 1962.
Den Winter 1962 haben Gerichtsakten konserviert. Am Abend des 13. Januar
läuft die fünfte Folge des Krimis „Das Halstuch“ von Francis Durbridge ü…
Bildröhren in deutschen Wohnzimmern, in Schwarz-Weiß, denn das
Farbfernsehen wird in Deutschland erst fünf Jahre später eingeführt. Der
Film ist ein Straßenfeger, und auch Neumann schaut ihn sich an. Er trinkt
ein Glas Grog, dann, um etwa 21 Uhr, zieht er sich eine Wollhose an,
schnallt einen Schulterhalfter um, steckt einen Smith & Wesson Revolver,
Kaliber 38, und einen umgebauten Revolver NHM, Kaliber 22, ein. Darüber
zieht er ein Sakko, einen grauen Wollmantel und nimmt ein Bowiemesser, eine
70 Zentimeter lange Perlonwäscheleine und einen schwarzen Nylonstrumpf mit.
Er fährt mit dem Omnibus zum Flughafen Tempelhof und spaziert stundenlang
durch die Nacht. Neumann als überlegener, einsamer Held – so sieht sich der
25-Jährige wohl. „Seine Gewohnheit, ständig schwer bewaffnet herumzulaufen,
könne er nicht verständlich erklären“, wird der Berliner Psychiater Hans
Helbig in seinem forensischen Gutachten schreiben, das er am 29. April 1963
abschließt.
Bis um 1 Uhr treibt ihn eine innere Unruhe durch die Straßen Berlins. Dann
tun ihm seine Füße weh, Kopfschmerzen plagen ihn, in der Gneisenaustraße
setzt er sich auf eine Bank, weil ihm schwarz vor Augen wird. In der
Baerwaldstraße sieht er einen VW mit beschlagenen Scheiben. Karin Baumann
und ihr Freund Klaus Heinrich sitzen darin.
Eigentlich will er sich nur nach Hause fahren lassen, sagt Neumann.
Tatsächlich schickt er sich in diesem Moment an, zwei Leben auszulöschen
sowie das eigene und das der Angehörigen zu ruinieren, als er den 38er
Revolver aus dem Halfter nimmt und sich auf den Fahrersitz zwängt. Seine
Opfer glauben, dass er sie ausrauben will. Gegen 1.45 Uhr biegt er in
Neukölln auf einen Feldweg. Im Wagen schlägt Karin Baumann mit dem Absatz
ihres Schuhs Neumann auf den Hinterkopf. Sie verursacht eine hohe, blutende
Beule. Noch behält er die Kontrolle. Fährt weiter. Biegt in Britz in die
Späthstraße. Wieder schlägt Karin Baumann auf ihn ein und fasst von hinten
ins Lenkrad.
Jetzt rast Neumann gegen einen Baum und tickt endgültig aus. Von einer Frau
gestoppt. Neumann, der zur Demonstration seiner Bärenkräfte Stahlstangen
über dem Kopf verbiegen und Holzplanken durchbrechen kann. Er schießt acht
Patronen auf Karin Baumann und ihren Freund. Er schießt ihnen auch ins
Gesicht. Er verpasst Karin Baumann zwei weitere Schüsse aus 30 Zentimeter
Entfernung in Kopf und Nacken. Sie bleibt mit dem Gesicht nach unten
liegen. Danach feuert er zweimal auf ihren Freund, der es noch geschafft
hatte, die rechte Türe zu öffnen und auf die Fahrbahn zu kommen. Nach dem
Rausch läuft Neumann in die Nacht. Er rennt, wirft die Mordwaffen in den
Teltow-Kanal. Tage später werden sie geborgen. Um 5.30 Uhr kommt er zu
Hause an.
Neumann glaubt nicht, dass das alles passiert ist. Er sagt später aus,
„einem Mädel mitten ins Gesicht schießen, das ist doch eine richtige Art
Feigheit für mich. Das paßt doch nicht!“
Noch am selben Tag stirbt Karin Baumann. Sechs Tage später sitzt Neumann in
Untersuchungshaft. Zehn Tage später stirbt Klaus Heinrich.
„Ick bin nie auf den Jedanken vorher gekommen, dass ick da eenen umbringen
wollte. Ick wollte auch keen Geld.“ Heute wie damals sagt Neumann zum
Tatgeschehen: „Ick erinnere mich nicht.“
In Bruchsal nennen die anderen Neumann „Icke“. Wer ist dieser Mann?
„Die Behauptung, daß der Erzeuger N.’s der leibliche Bruder seiner Mutter
gewesen sei, wurde, nachdem der Vormund die Einleitung eines
Strafverfahrens erwogen hatte, zurückgenommen, ’um nicht Stiefgeschwister
evtl. mit dem Strafgericht in Berührung zu bringen‘ “, heißt es im
forensischen Gutachten. Auch Neumanns Großvater kommt als sein Vater in
Betracht, da dieser eine „1 jährige Gefängnisstrafe wegen
Sittlichkeitsverbrechen verbüßte. Diese Sittlichkeitsverbrechen beging er
an seiner Tochter (der Mutter N.’s – Bl. 92 u. 95 Bd. II d. Beiakten).“ D…
alles erfährt Neumann erst mit 25 Jahren vom Schwurgericht Berlin-Moabit.
Als Angeklagter im Prozess. Heute sagt er über seine Herkunft: „Da mach ick
mir keene Jedanken drüber.“
## Als Junge klaut er in Läden und Heeresdepots
Neumanns leibliche Mutter verdingt sich im Berlin der dreißiger Jahre als
Prostituierte. Bei seiner Geburt am 14. September 1936 ist sie 19 Jahre
alt. Nur zwei Wochen später kommt Neumann ins Städtische Waisenhaus
Berlin-Kreuzberg und wird nach 18 Monaten zu Pflegeeltern gegeben. Seit
seinem elften Lebensjahr klaut er in Heeresdepots, Lebensmittelgeschäften
und Speditionen. Er klaubt in den Kriegsruinen Kupferkabel und Zinkbleche
zusammen und vertickt die Rohstoffe. Seine Stiefmutter macht bei dem
geschäftstüchtigen Minderjährigen 500 DM Schulden. Sein wirtschaftliches
Geschick wird ihm noch zum Problem werden. In einem anderen Leben wäre es
Neumanns Bestimmung gewesen, ein Unternehmer zu sein.
Doch am 29. Dezember 1951 wird Neumann wegen Diebstahls in den Jugendhof
Schlachtensee eingewiesen. Ein Entlassungsbericht ein Jahr später
bezeichnet den Jungen als „ruhig und nett, aufgeschlossen und
liebesbedürftig“. Und noch im selben Monat, im Oktober 1952, beginnt er
seine Lehre als Feinblechner. Sein Meister Gustav Lüers ist zufrieden,
dessen Frau füllt später die Lücke in Neumanns Leben, die seine
Pflegemutter nach ihrem Tod 1953 hinterlässt. Mit der Frau seines Meisters
sieht er in der Tatnacht fern. Neumann nennt sie „Mutter“.
Mit 19 Jahren will Neumann weg. Und nachdem er auf einer Messe Prospekte
mitgenommen hat, schifft er sich im Mai 1956 nach Kanada ein. „Der Gedanke,
auszuwandern hänge auch damit zusammen, daß er sich ’vor den Menschen
verkriechen woll-te‘ “, schreibt der Psychiater Helbig. Neumann hält sich
mit Gelegenheitsjobs in Hamilton und Elliot-Lake im Bundesstaat Ontario
über Wasser. Er arbeitet für Baufirmen, besucht die Abendschule für
Englisch und Bürgerkunde, aber schon im Herbst kauft Neumann seinen ersten
Trommelrevolver und eine Winchesterbüchse. Dann automatische Pistolen und
Schrotflinten. Er lernt zwei Kanadier kennen, denen er kleinere Darlehen
gewährt. Als sie das Geld nicht zurückzahlen können, beschließen die drei,
ein Ding zu drehen.
Nach zwei bewaffneten Raubüberfällen wird Neumann zu drei Jahren Zuchthaus
verurteilt, er kommt in die Strafanstalt Kingston. 18 Monate später
begnadigen ihn die Kanadier und schieben Neumann ab. Am 16. Juni 1961 kommt
er in Bremerhaven an.
Der Psychiater Hans Helbig erklärt Neumanns Waffenvernarrtheit als eine
Reaktion auf seine von ihm selbst als defizitär eingeschätzte Männlichkeit.
Helbig schreibt über Neumanns Leben: „Es sei allmählich eine richtige
’Angst vor Menschen‘ in ihm entstanden. ’Ich habe nie jemanden getraut, d…
waren alles Feinde.‘ “ Zudem habe Neumann an einer Ozäna zu leiden gehabt,
einer „Stinknase“. Dabei werden in den Nasenhöhlen „Borken“ gebildet, …
einen üblen Geruch verbreiten. „Ick hab mich nie an een Mädchen jetraut.
Wenn ick in eenem Raum saß, haben die Leute nach eener halben Stunde
jefragt: Wat stinkt denn hier so?“ 1976 wird Neumann behandelt. Ihm wird
Knorpel einer Toten in die Nase implantiert.
## Er ist stachelig, schroff. Als fehlte ihm ein Anker
Neumann ist von stacheliger Schroffheit, sagt Gerhard Bruch. Er verberge
so, dass er keinen Anker im Leben habe. Ein Heimatloser, ein Einzelgänger.
Es gebe in Neumann eine tiefe Verlorenheit, aber schlecht sei er nicht.
Nicht mehr. Neumann sagt: „Ick spreche keene Fremden an, ick loof alleene.“
Es wirkt, als habe er sich in seiner Distanz zur Welt eingerichtet.
„Er wisse, daß es grotesk klinge, aber er wolle gar nicht wieder aus dem
Gefängnis hinaus. ’Hier in solchen Plätzen fühle ich mich wohl. Da ist
alles geregelt‘ “, zitiert das forensische Gutachten schon den Neumann aus
dem Jahr 1963.
Vielleicht will auch der Neumann von heute nicht raus aus dem Gefängnis.
Vielleicht ist das der Grund für die fuffzig Jahre. Vielleicht erklärt das
eine Strafe, die mittlerweile zum Artikel 1 des Grundgesetzes in einem
problematischen Verhältnis steht. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Im September 1978 kommt er auf die Abschirmstation für Dealer. Bei ihm sind
100 Tabletten Beruhigungsmittel gefunden worden. Ein Verfahren gegen ihn
wegen des Besitzes von Cannabis wird am 14. Februar eingestellt, weitere
Verfahren enden mit Freisprüchen für Neumann, der sich offen dazu bekennt,
Haschisch zu rauchen. Eine Verlegung in den Normalvollzug kommt für die
Anstalt nicht infrage, weil „er es sich bei seiner Geschichte einfach nicht
leisten kann, sich immer wieder in Verdacht zu bringen“, schreibt der
Leiter der JVA Tegel am 12. Oktober 1983. Neumann bleibt neuneinhalb Jahre
auf der Station. Am 24. Januar 1987 schreibt Gerhard Bruch an denselben
Anstaltsleiter: „Zahllose Enttäuschungen […] haben ihn so mißtrauisch
gemacht, daß er, um weitere Enttäuschungen nicht zu provozieren, nichts von
seiner Seite aus unternimmt, woran er eine Hoffnung hängt, die dann wieder
enttäuscht werden kann.“
Im Knastalltag hält sich Neumann an die wichtigste Regel: „Keene Schulden
bei anderen Leuten“, sagt er. Zudem raucht er nicht und trinkt nur wenig
Kaffee. Durch Neumanns Sparsamkeit stapeln sich Tabak- und Kaffeepäckchen
in seiner Zelle, die bald aussieht wie ein Supermarkt. Tabak und Kaffee
sind die Währung im Knast. Neumann sagt: „Ick bin die Bank.“ Gefangene, die
ihre Monatsration Kaffee schon verbraucht haben, gehen zu ihm. Im nächsten
Monat zahlen sie mit Aufschlag zurück. Der Gefängnisleitung missfällt
dieses System. Im Dezember 1972 zum Beispiel werden bei ihm eine Flasche
Wodka, eine Säge, Rasierklingen, 33 Gläser Kaffee und 89 Päckchen Tabak
sowie im Blumentopf angesetzter Alkohol konfisziert. Neumann tauscht
manchmal die akkumulierten Lebensmittel gegen Goldketten und Uhren. Weil
nach Durchsuchungen oft Wertgegenstände fehlen, bindet er die wertvollste
Habe an eine Schnur. An der hängen Goldketten, Ringe, und er verankert sie
im Innern seiner Hosentasche.
## Gefangene nehmen Kredite bei ihm auf. Er ist die Bank
Immer wieder wird seine Zelle gefilzt. Wegen seines Cannabiskonsums wird er
im Laufe der Jahrzehnte fünfmal zu Tagessätzen verurteilt, die er dann
absitzt. Im November 1990 werden ihm wegen des Besitzes von 151 Gramm
Haschisch zwei weitere Jahre aufgebrummt. „Der Gef. verfügt hier
offensichtlich über Geschäftsverbindungen interner und externer Art, die
selbst durch Anordnung restriktivster Maßnahmen nicht unterbunden werden
konnten“, schreibt der Anstaltsleiter aus Tegel.
Deswegen wird Neumann in die JVA Bruchsal verlegt. Der Besuch von Gerhard
Bruch alle drei Wochen fällt weg. Zwischen ihnen liegen jetzt 505
Kilometer. Ein Universum für einen, der auf rund zehn Quadratmetern lebt.
Am 4. Januar 1991 stellt Bruch ein Gnadengesuch für Neumann. Am 4.
September antwortet die Berliner Senatsverwaltung: „Auf die
obenbezeichneten Eingaben teilen wir mit, daß der Senat von Berlin in
seiner Sitzung vom 27. August 1991 einen Gnadenerweis abgelehnt hat.“ Der
Anstaltsleiter in Bruchsal bescheinigt Neumann im April 1992 keine
negativen Verhaltensweisen, allerdings auch keine positiven Ansätze. Doch
verweigere Neumann „permanent die Arbeit, da er darauf bestehe, eine
Tätigkeit an frischer Luft ausüben zu können“. „Dem Vollzugspersonal
gegenüber verhalte er sich allgemein ruhig, im Umgang mit den Mitgefangenen
halte er Distanz und sei vorsichtig.“
Seinen ersten Freigang verfügt ein Gericht. Am 31. Januar 1993 ist es so
weit. Nach 31 Jahren Knastmief. Neumann gönnt sich ein Fläschchen Carstens
Jahrgangssekt. Vier Tage später schreibt er an Gerhard Bruch. „Eine Karte
hatte ich Ihnen zwischendurch auch schon geschrieben und zwar von einem
Platz mitten in der Stadt. Da ließ mich nämlich der begleitende Beamte
allein sitzen, so das ich in Ruhe meine Post erledigen konte. Es war schon
ein sehr eigenartiges Gefühl. Vier Stunden vorher saß ich aber schon einmal
ganz allein in der Bahnhofshalle als der Beamte zur Toilette ging. […] Von
hier sind wir mit dem Bus nach Unterkrumbach gefahren und den Michaelsberg
– 270 m – raufgelaufen. […] Durch das Laufen habe ich am linken großen Z…
meinen Nagel verloren war aber doch ganz zufrieden das ich durchgehalten
habe.“
Was den Geschäftsmann in Neumann ärgert: Er muss für die Beamten
mitbezahlen. In späteren Jahren wird ihm verwehrt, weiter den öffentlichen
Nahverkehr zu nutzen. Er muss den teuren Fahrdienst der Anstalt
beauftragen.
Das Landgericht Karlsruhe erklärt im März 1994, dass die besondere „Schwere
der Schuld“ von Neumanns Tat nach einer Verbüßung von mehr als 30 Jahren
eine weitere Inhaftierung nicht mehr gebiete. Die Aussetzung zur Bewährung
wird jedoch abgelehnt. Zuvor hatte der Psychiater Hans-Ludwig Kröber in
einem weiteren Gutachten geschrieben, Neumann habe bei ihm den „Eindruck
von Unberechenbarkeit und Undurchsichtigkeit“ hinterlassen. Negativ für
Neumanns Kriminalprognose sei, „daß der Untersuchte keineswegs durch das
Alter gereift, gesetzt und ruhig wirkt, sondern nach wie vor in einer
jugendhaften Weise lebhaft und offen für Einfälle ist“.
Im Jahr 1997 bemängelt der Gutachter Rudolf Engell: „An vielen Stellen hat
man den Eindruck von Einsichtslosigkeit […] Der Proband legt eine saloppe
Fröhlichkeit an den Tag und macht einen völlig unbeschwerten Eindruck.“ Der
Facharzt für Psychiatrie Joachim Schramm sieht in seinem Gutachten von 2005
schließlich voraus, der zu dieser Zeit fast 70-jährige Neumann würde in
Freiheit „Drogenschmuggel bzw. Drogenhandel oder andere illegale
Aktivitäten anstreben. Bis heute jedenfalls scheinen Umsatz und Profit sein
zentraler Lebensinhalt geblieben zu sein.“
## Das Gefängnis belohnt die, die sich anpassen
Die vorzeitige Entlassung wird im Juni 1997 abgelehnt, im März 1999, im
Oktober 2005 ebenso, wie schließlich vom Oberlandesgericht Karlsruhe im
Juli 2006.
Neumann hat sich also eingerichtet. Was bleibt ihm auch übrig? Zum
Weghängen ist es zu spät, findet er. Also hat er sein ökonomisches Geschick
an den Maßen der Knastwelt geeicht. Nach 50 Jahren ist er angepasst an das
System künstlich verknappter Angebote in der Haft. Neumann widersetzt sich
den obersten Prinzipien des Gefängnisses, das die strikte Befolgung seiner
Regeln verlangt. Es fordert Berechenbarkeit ein. Das Gefängnis honoriert
diejenigen, die sich anpassen. Sie verlieren mit den Jahren ihren Makel. Es
sanktioniert alle, die für Irritationen sorgen. Sie behalten den Stempel
„gefährlich“, der eigentlich eine Tätowierung ist. Neumann bleibt
„gefährlich“, weil er nicht konform wurde. „Gefährlich“ klingt
verständlich. Wer gefährlich ist, bleibt drinnen.
Neumann hat bei sich einen ungeahnten Schatz entdeckt. In einer
Steinmetzgruppe stellt er Skulpturen her, die so kunstvoll sind, dass
einmal ein Beamter eine Madonna ohne Neumanns Einwilligung vertickt hat.
Im September 1994 kostet ihn der Splitter eines Steins die Linse seines
rechten Auges.
Im Alter häufen sich seine körperlichen Beschwerden. Im November 1995
bekommt er ein künstliches Gebiss. 2002 wird ihm eine Niere entfernt.
Später wird ein Prostatakarzinom entdeckt. Am 12. Dezember 2002 schreibt
Neumann über seinen Klinikaufenthalt: „Alle Besucher wollten doch den Mann
sehen, der schon 40 Jahre im Knast ist. […] Nach einigen Tagen sprach mich
eine sehr alte Frau auf dem Gang an, die ihren Mann besucht hatte. Liegen
sie dahinten, ich sagte ja, na wo ist denn der Sträfling, da sagte ich ihr
das ich der Sträfling bin. Da hat sie die Hand vor den Mund gehalten und
dann war sie weg. Später haben wir aber auch noch miteinander gesprochen.
Sie sagte mir dann, das sie kurz vor dem 65. Hochzeitstag stünde. Bei
diesem Aufenthalt sind mir zweimal die Tränen gekommen, weil fremde Leute
so gut zu mir gesprochen haben. Eine Röntgenärztin hat mir sogar etwas
geschenkt. Es war das erste Geschenk, das ich von einer Frau erhalten
habe.“
Im Jahr 2006 schreiben die Richter des Oberlandesgerichts Karlsruhe, der
Senat sei weiterhin „davon überzeugt, dass von Hans-Georg Neumann im Falle
seiner Entlassung trotz seines nunmehr fortgeschrittenen Alters und
vorhandener Erkrankungen mit Wahrscheinlichkeit die Begehung von
Gewaltdelikten oder ähnlich schwerwiegenden Straftaten zu erwarten ist“. An
anderer Stelle heißt es im Beschluss hingegen: „Aus seiner vertrauten
Umgebung der Haftanstalt gerissen, wäre der Verurteilte nämlich in der
Lebenswirklichkeit der ’Freiheit‘ bald einer Vielzahl von nicht
voraussehbaren Konflikten ausgesetzt, denen der beinahe 70-jährige
Verurteilte nicht mehr gewachsen ist.“
## Zehnmal so jut jegangen wie draußen
Der erste Grundsatz im Strafvollzugsgesetz lautet feierlich: „Im Vollzug
der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer
Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel).“
Am 30. November 2006 schreibt Gerhard Bruch an Neumann: „Wann hat unsere
Bekanntschaft eigentlich angefangen? Ich denke gerne an die ganze Zeit
zurück, an den Kirschkuchen mit Schlagsahne, an die Versuche mir Schach
beizubringen u.s.w. Und inzwischen sind wir richtig alt geworden und keiner
weiß, wann es zuende ist.“ Neumann antwortet: „Unsere Bekanntschaft hat im
Januar 1972 angefangen, wo Sie mir gesagt hatten, das ich nach 15 Jahren
entlassen werde.“
Im Besucherzimmer der Anstalt legt Neumann seine Brille, über deren Bügel
er dünne Gummischläuche gezogen hat, auf den Tisch und sagt: „Hier wie auch
in Berlin ist mein größtet Problem: Ick hatte allet. Mir ist es zehnmal so
jut jegangen wie draußen.“ Trotzdem, sagt Neumann, mit dem Geld, das er in
50 Jahren zurückgelegt hat, käme er zwei Jahre über die Runden. Das reiche
für einen Lebensabend in der Freiheit. Und dann einmal mit dem Zug nach
Wladiwostok fahren oder einen Ausflug nach Aachen machen. „Schön anjezogen
und ruhig. Da wird man schon mal von eener älteren Dame anjesprochen.“
Am 5. Juni 2012 ist bei Neumanns Anwalt erneut ein Gutachten eingegangen.
Rolf-Dieter Splitthoff, Chefarzt der Psychiatrie Wiesloch, hat Neumann
getroffen. Er kommt zu dem Ergebnis: „Insgesamt ist festzustellen, dass
Herr Neumann nach 50 Jahren Haft genauso bindungslos erscheint wie zu
Beginn seiner Inhaftierung.“
Neumann bleibt drinnen.
9 Jul 2012
## AUTOREN
Kai Schlieter
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Mord
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