# taz.de -- Neuanfang nach der Haft: Mord verjährt nie | |
> Brigitte fühlt sich trotz verbüßter Haft weiterhin bestraft. Ihre | |
> Vergangenheit holt sie immer wieder ein, das Führungszeugnis vermasselt | |
> ihr jeden Job. | |
Bild: „Auf dem Kiez gelandet, mit dem Arsch an der Wand“: Brigitte über ih… | |
HAMBURG taz | Tatbezeichnung: Mord in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge. | |
Brigitte setzt ihre eckige Brille auf, um eine Zigarette zu stopfen. Alle | |
Utensilien dafür hat sie auf einem kleinen Tablett sortiert, das sie von | |
der Anrichte herüberhebt: Den Tabak aus der Dose legt sie in den Riegel aus | |
Plastik und befüllt damit ein Papierröhrchen. | |
Dann zieht sie ihren Laptop über den kleinen Küchentisch. Kleinanzeigen, | |
eine Jobbörse, ein Vermittlungsportal für Betreuer und Pfleger – Brigitte | |
sucht jeden Tag, seit vielen Monaten. Nach Jobangeboten, ohne die Bitte um | |
ein Führungszeugnis. | |
Seit April ist Brigitte frei. Sie hat ihre Gefängnisstrafe verbüßt und | |
bereits die Hälfte ihrer Bewährungszeit. Sie ist eine kleine Frau mit | |
tiefen Falten unter den Augen, das braune Haar steckt sie hoch, ihre | |
Oberteile trägt sie weit ausgeschnitten, auch wenn ihr Bauch rund geworden | |
ist. | |
Mit der eigenen Wohnung im Reihenhaus an einer Hamburger Schnellstraße hat | |
es ganz gut geklappt. In der ersten Zeit konnte sie bei ihrer Tochter | |
unterkommen. Die war elf Jahre alt gewesen, als sie erfuhr, dass man ihrer | |
Mutter vorwirft, zwei Menschen ermordet zu haben. | |
## Siebzehn Jahre vergehen | |
Der Fall der bürgerlichen Hausfrau Brigitte F., die, mit 41 Jahren, von | |
einer Tat aus ihrem früheren Leben als Junkie eingeholt wird, geht 2005 | |
durch die Hamburger Lokalpresse. Es sind 17 Jahre vergangen, seit hier ein | |
Ehepaar in seiner eigenen Wohnung gefunden wurde, brutal getötet mit | |
etlichen Messerstichen und Hammerschlägen. | |
Die Polizei hatte den ungeklärten Fall erneut aufgerollt und genetische | |
Fingerabdrücke vom Tatort ausgewertet, die damals befragten Nachbarn um | |
Speichelproben gebeten. Brigittes DNA ist ein Treffer. Sechs Jahre und acht | |
Monate sitzt sie danach im Gefängnis. „Unschuldig“, sagt sie bis heute. | |
Was sie verloren hat, mit ihren zwei Kindern, das kann ihr keiner | |
wiedergeben. Doch wenn sie das Geld für einen Anwalt hätte, sagt Brigitte, | |
dann würde sie beantragen, dass man ihr Verfahren wieder aufnimmt. Um nach | |
Bonn fahren zu können, zum Bundeszentralregister, und zu sagen: „Hier. | |
Führungszeugnis löschen.“ Denn für die nächsten fünfzehn Jahre wird dies… | |
blassgrüne Papier dafür sorgen, dass niemand ihre Vergangenheit vergisst. | |
Brigitte bekommt mit 19 ihr erstes Kind. Die Ausbildung zur | |
Zahnarzthelferin abgebrochen, nimmt sie eine Freundin mit auf die | |
Reeperbahn. Erst nur Ausziehen in der Peepshow, später Anschaffen in einer | |
Privatwohnung. Ihr erster fester Zuhälter bringt sie ins Laufhaus. | |
Sieben-Tage-Woche, Zwölf-Stunden-Schichten, Wachmacher, dann Heroin. | |
Irgendwann fegt sie sich alles rein. Verkauft ihren Videorekorder, alles, | |
was sie so hat. | |
In einer Kneipe lernt sie den Mann kennen, dem sie 16 Jahre später bei der | |
Polizei vorwirft, er habe die beiden Rentner in jener Oktobernacht 1988 | |
umgebracht. Um Geld und Wertsachen zu stehlen. Beweisen kann sie es nicht. | |
Ihre Erinnerung an den Mord? Schwammig, sagt sie. Zugedröhnt sei sie in der | |
Wohnung umhergelaufen, als das Paar schon tot war. | |
## Flucht nach Mallorca | |
Danach macht sie einen Entzug. Das war zu heftig. Sie arbeitet weiter als | |
Prostituierte, bis sie im Sommer 1989 in den Urlaub fliegt. Mallorca, das | |
erste Mal in ihrem Leben. Am Abend ihrer Rückkehr in Hamburg zieht sie | |
ihrem Zuhälter 1.000 Mark aus der Tasche – fährt zum Flughafen und fliegt | |
zurück. | |
Was folgt, ist Brigittes langsame Resozialisierung. Aufenthalte in Spanien, | |
ein Tresenjob, schließlich ein zweites Kind. Heute kleben an ihrer | |
Schlafzimmertür Fotos, Bilder von ihr selbst aus dieser Zeit: eine magere | |
junge Frau mit dunklen Schatten unter den Augen. Dann eine im ärmellosen | |
Shirt, mit braunen Locken und breitem Lachen. | |
Auf einem Foto sitzt sie im Grünen, ihr Haar ist kurz geschnitten, sie | |
trägt eine graue Strickjacke, und eine Frau legt ihr den Arm um die | |
Schultern. Zehn Jahre sind vergangen. Brigitte lebt mit einem Mann | |
zusammen, hat bereits zwei Jahre als Zahnarzthelferin gearbeitet. Diesmal | |
ist sie in eine Klinik gegangen, um das Vergangene zu verarbeiten. Am 8. | |
Juli 2004 wird sie entlassen, am 13. Juli heiratet sie. Im August wird sie | |
verhaftet. | |
Hans-Heinrich Kroll, Seitenscheitel, karierter Kragen, serviert | |
Filterkaffee in einer weißen Thermoskanne. Daneben stellt er eine Tüte | |
H-Milch. Hier oben, im Gemeinschaftsraum, stehen Topfpflanzen auf der | |
Fensterbank, und alle Möbelstücke sind aus hellem Holz. Unten, im | |
Hauseingang schräg gegenüber von World of Sex, World of Internet und Back | |
Factory, riecht es nach Urin. | |
Brigitte war oft bei Herrn Kroll, seit sie draußen ist. Sein Verein heißt | |
Integrationshilfen. „Ich habe einen stressigen Küchenjob für Sie“, sagt er | |
ihr heute. Großküche. „Das ist auch was für Ihre Kodderschnauze.“ | |
## Sich ja nichts sagen lassen | |
Kroll meint, immer wieder ähnliche Probleme bei den Menschen zu erkennen, | |
die in seinen letzten sieben Jahren als Sozialarbeiter zu ihm kamen. Wer im | |
Gefängnis war, will sich später nichts mehr sagen lassen. Das Gefühl in | |
Haft: Ich darf keine Entscheidung treffen. Und dann kommt der Tag der | |
Entlassung. Draußen falle es vielen schwer, sich noch einmal anzupassen. | |
Es ist manchmal nicht einfach, mit Brigitte umzugehen. Sie hat sich | |
verändert, findet sie selbst. Ihr Mann hat sich während der Haft von ihr | |
getrennt. „Rauch nicht so viel“, sagt ihr Sohn, wenn er sie besuchen kommt. | |
Sie antwortet ihm durch die geschlossenen Zähne: „Erzähl mir nicht, was ich | |
zu tun habe. Mach es einfach nicht.“ | |
Zwei Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis hat Brigitte bereits | |
einen Job. Verpflegungsassistentin im Westklinikum: Essen bestellen und den | |
Patienten bringen. Im Gefängnis hat sie eine Ausbildung zur | |
Hauswirtschafterin gemacht, wurde staatlich geprüft. Ihr gefällt die Arbeit | |
mit den Menschen, sie mag besonders den alten Mann, der jeden Tag seine | |
kranke Frau besucht und ganz lange bei ihr bleibt. | |
Brigitte arbeitet ein paar Wochen in der Klinik, als ihr dort eine alte | |
Bekannte begegnet – aus dem Gefängnis. „Mensch Biggi, was machst du denn | |
hier?“, ruft die. „Bist du draußen?“ Eine Kollegin hat zugehört. Danach | |
habe man Fehler bei ihr gesucht, glaubt Brigitte. Es gibt Ärger vom Chef | |
wegen einer Zigarette vor der Tür. Brigitte schmeißt hin, obwohl sie schon | |
nach einer Wohnung vor Ort gesucht hatte. | |
Im letzten Jahr hat sie lange an ihrem Lebenslauf gearbeitet. Mal erwähnt | |
sie die Zeit im Gefängnis, mal schreibt sie „Hausfrau und Mutter“ und | |
„Ausbildung zur Hauswirtschafterin“. Ihre Freundin Andrea hilft ihr, sie | |
sind gleichaltrig: 49 Jahre. Andrea rät, mit offenen Karten zu spielen. „Es | |
bringt niemandem was, einen Job zu haben und zwei Wochen später wieder | |
gehen zu müssen.“ | |
Brigitte versucht es weiterhin in Krankenhäusern. Das Universitätsklinikum | |
Eppendorf fordert von allen Jobanwärtern ein ausführliches | |
Behördenführungszeugnis. Der Anruf kommt schnell: „Sie brauchen gar nicht | |
wiederzukommen.“ In einer Spielhalle darf sie ihre Geschichte erzählen, | |
erklären, wie lange alles her ist. Die Absage komme von höherer Ebene, sagt | |
man ihr. | |
## Ein Theaterprojekt | |
Fünfzehn Jahre. Wenn der Eintrag in ihrem Führungszeugnis verschwunden ist, | |
wird sie 64 Jahre alt sein. Ein paarmal in der Woche geht sie jetzt putzen. | |
Doch auch viele Privatleute wollen ein Führungszeugnis sehen, bevor sie | |
Helfer in die Wohnung lassen. Denjenigen, bei denen es auch ohne klappt, | |
hat sie nichts gesagt. Bei den anderen probiert sie es erst gar nicht mehr. | |
Es hört nicht auf. Nach der Haft wird man immer noch bestraft, sagt | |
Brigitte: „Das ist Diskriminierung.“ Der letzte Vorschlag ihres | |
Integrationshelfers Hans-Heinrich Kroll war ein Theaterprojekt. Ehemalige | |
Strafgefangene spielen „Woyzeck“. Mitmachtheater. „Kannst du mir sagen, | |
warum Büchner einen Mörder in die Literatur gebracht hat?“, fragt die | |
Schauspielerin eine junge Frau im Publikum. | |
Es ist Premiere auf der Hamburger Kampnagel-Bühne. Brigitte blickt aus | |
einem Holzkasten die Zuschauer an. Sie soll ihre Geschichte erzählen, die | |
wahre. Ihr Text: „Bin auf dem Kiez gelandet, mit dem Arsch an der Wand.“ | |
Bei der Probe war eine Reporterin da, ein Bericht über das Stück, sagte | |
die. Brigitte erzählte ihre Geschichte, die wahre. „Eine Mörderin auf der | |
Bühne“, titelt am nächsten Tag die Hamburger Morgenpost. | |
Abends hört Brigitte ihren Anrufbeantworter ab: „Ich würde gerne etwas mit | |
Ihnen besprechen“, sagt die Stimme der Frau, deren Wohnung sie jeden | |
Mittwoch putzt. „Heute morgen sprang mir ihr Gesicht aus der Mopo | |
entgegen.“ Und eine zweite Nachricht: „Da Sie ja jetzt nicht zurückrufen �… | |
ich muss das erst mal sacken lassen. Morgen brauchen Sie nicht zu kommen.“ | |
4 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Kristiana Ludwig | |
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