# taz.de -- Weltgesundheitsorganisation und Atom: Größtmöglicher Information… | |
> Nach Tschernobyl wiederholt sich die unrühmliche Geschichte der WHO. | |
> Studien und Daten werden zurückgehalten. Gerecht wird sie ihrer | |
> Verantwortung nicht. | |
Bild: Nach der Katastrophe am AKW Fukushima I kam von der Weltgesundheitsorgani… | |
GENF taz | Seit dem 26. April 2007, dem 21. Jahrestag der Atomkatastrophe | |
in Tschernobyl, stehen an der Auffahrt zur Zentrale der | |
Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf zwei bis drei Menschen mit einem | |
Transparent und Flugblättern. Die Demonstranten fordern von der WHO die | |
Aufkündigung eines über 50 Jahre alten Abkommens mit der Internationalen | |
Atomenergie-Organisation (IAEO) in Wien, deren Hauptauftrag es ist, "die | |
Nutzung der Atomenergie für Frieden, Gesundheit und Wohlstand in der ganzen | |
Welt zu fördern und zu verbreiten". | |
Dieses Abkommen ist nach Überzeugung informierter Beobachter dafür | |
verantwortlich, dass die WHO angesichts der Nuklearkatastrophe im | |
japanischen Fukushima erneut ihre Verantwortung für die Gesundheit der | |
betroffenen Menschen nicht wahrnimmt und genauso versagt wie bereits nach | |
der Katastrophe in Tschernobyl oder nach den Einsätzen von Uranmunition in | |
den Kriegen gegen Irak 1991 sowie gegen Serbien 1999. | |
In dem fast vierzig Jahre erfolgreich geheim gehaltenen Abkommen mit der | |
IAEO vom Mai 1959 verpflichtete sich die WHO dazu, "bevor sie ein | |
Forschungsprogramm oder eine Maßnahme einleitet" zu Folgen radioaktiver | |
Strahlung "die IAEO zu konsultieren, um die betreffende Frage | |
einvernehmlich zu regeln". Für den US-amerikanischen Uno-Korrespondenten | |
Robert James Parker, der seit Jahren intensiv zu dem Thema recherchiert, | |
ist "dieses Abkommen und die daraus resultierende Selbstzensur der WHO | |
einer der größten Skandale des Uno-Systems". | |
## Eine Woche Schweigen nach der Katastrophe in Japan | |
Seit Beginn der Nuklearkatastrophe im Japan am 11. März bemühen sich Parker | |
und einige seiner Genfer Korrespondenten-Kollegen beharrlich um | |
Informationen von der WHO. Nach einwöchigem Schweigen verlas der Sprecher | |
des "WHO-Teams für aktuelle Krisen", Gregory Hartl einige dürre, zuvor | |
bereits von den japanischen Behörden und der IAEO verbreitete | |
Informationen. Anfragen zu einem ausführlicheren Interview insbesondere zur | |
Frage der radioaktiven Verseuchung von Nahrungsmitteln, ließ Hartl | |
unbeantwortet. | |
Am 21. März äußerte ein Sprecher der WHO in Peking vorsichtige Sorgen über | |
eine erhöhte radioaktive Strahlung in China. Zwei Tage später schließlich | |
veröffentlichten WHO, IAEAO sowie die UN-Nahrungsmittel- und | |
Landwirtschaftsorganisation (FAO) ein gemeinsames Kommuniqué. Dem "Risiko | |
radioaktiver Strahlung" werde "erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt", | |
versichern die drei Organisationen. Die Nahrungsmittel würden "überwacht, | |
Radioaktivitätswerte gemessen und die Ergebnisse veröffentlicht". Ein | |
eigenes Team hat die WHO bis heute in Japan nicht vor Ort. | |
## Ärztevereinigung wirft der WHO Versagen vor | |
Die Internationale Ärztevereinigung zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW) | |
wirft der WHO inzwischen Versagen vor. "Die Reaktion der | |
Weltgesundheitsorganisation auf die atomare Katastrophe von Fukushima ist | |
völlig unzureichend", erklärte Angelika Claußen, die Vorsitzende der | |
deutschen IPPNW-Sektion. Statt sich auf die IAEO und die japanischen | |
Behörden zu verlassen, sollte die WHO endlich eigenständige Maßnahmen | |
ergreifen "und die Bevölkerung in Japan ungeschönt und objektiv über die | |
gesundheitlichen Auswirkungen der Fukushima-Katastrophe und eine mögliche | |
Kernschmelze informieren", forderte die IPPNW-Vorsitzende. | |
Vor allem müsse sich die WHO "jetzt für eine Evakuierung der Frauen, Kinder | |
und der schwangeren Frauen aus den betroffenen Regionen aussprechen, weil | |
diese Menschen besonders strahlensensibel sind". | |
Für die IPPNW ist das Versagen der WHO nur erklärbar "durch das Abkommen | |
mit der IAEO, die die Risiken der Atomenergie seit Jahren herunterspielt". | |
So bezifferte die IAEO die Opfer des Super-GAUS von Tschernobyl auf weniger | |
als 50 Tote. Die WHO spricht bis heute von 9.000 Menschen, die aufgrund der | |
Strahlenexposition "sterben könnten". | |
Erst Ende Februar 2011 hat der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten | |
Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (UNSCEAR) | |
sich diese Zahlen erneut zueigen gemacht. Dagegen stehen zahlreiche | |
Untersuchungen unabhängiger Wissenschaftler, unter anderem die des | |
promovierten Biologen Alexej Jablokow, Mitglied der Russischen Akademie der | |
Wissenschaften. | |
## Tschernobyl wird heruntergespielt | |
2009 veröffentlichte Jablokow umfangreiche Daten und | |
Untersuchungsergebnisse über die gesundheitlichen und ökologischen Folgen | |
von Tschernobyl. Er beziffert die Gesamtzahl der Toten auf 900.000 bis 1,8 | |
Millionen weltweit. Die Zahlen beziehen auch zukünftige Tote mit ein, weil | |
die Tschernobyl-Nuklide weiter in der Biosphäre bleiben. Allein bei den | |
830.000 Liquidatoren gebe es bisher 112.000 bis 125.000 Tote. | |
WHO-intern ist ein Großteil der Daten über das wahre Ausmaß der | |
Tschernobyl-Katastrophe durchaus bekannt. Denn die | |
Weltgesundheitsorganisation war Hauptorganisator der beiden UN-Konferenzen | |
zum Thema Tschernobyl, die 1995 in Genf und 2001 in Kiew stattfanden. Doch | |
die Protokolle sowie fast sämtliche Referate dieser beiden Konferenzen | |
wurden von der WHO wegen des Einspruchs der IAEO bis heute nicht | |
veröffentlicht – entgegen anderslautender Behauptungen von WHO-Sprecher | |
Hartl. Veröffentlicht wurden lediglich eine Zusammenfassung der in Kiew | |
gehaltenen Vorträge sowie zwölf von mehreren hundert Redemanuskripten, die | |
für die Genfer Konferenz eingereicht wurden. | |
## Verheimlichen von Kriegsfolgen | |
Auch nach dem 2. Golfkrieg gegen Irak im Frühjahr 1991 sowie dem Luftkrieg | |
der Nato gegen Serbien/Montenegro 1999 nahm die WHO ihre Verantwortung | |
nicht war. In beiden Kriegen setzten die US-Streikräfte massiv durch | |
abgereichertes Uran gehärterter Munition ein. In den am stärksten mit | |
dieser Munition beschossenen Regionen im Südirak stellten die lokalen Ärzte | |
einige Jahre nach dem Krieg einen Anstieg der Krebs-und Leukämiefälle sowie | |
der Mißbildungen bei Neugeborenen um das Zehnfache fest. Doch die WHO wies | |
alle Forderungen, im Irak eine unabhängige, internationale Untersuchung | |
durchzuführen, zurück. | |
Im Falle Serbien/Montenegro ließ die WHO nach Aufforderung durch das | |
Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge zwar einen eigenen Wissenschaftler ein | |
internes Gutachten erstellen. Dieses Gutachten, das die schlimmsten | |
Befürchtungen bestätigt, wird bis heute unter Verschluss gehalten. Der | |
Wissenschaftler wurde entlassen, ebenso wie der stellvertretende | |
UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, dem er eine Kopie des Gutachtens | |
übergeben hatte. | |
30 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Andreas Zumach | |
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