# taz.de -- Der gefakte Zensus-Fragebogen: "Das dürfen die" | |
> Wahlverhalten, Drogenkonsum - was verraten Bürger, wenn sie glauben, die | |
> Volkszähler stehen vor der Tür? Ein Test zeigt, wie die Leute reagieren. | |
Bild: Falscher Zensus: Brav öffnen Berliner ihre Wohnungstüren und beantworte… | |
Seit Montag klopfen 80.000 Menschen an Türen in Deutschland. Sie dürfen | |
sich für die erste gesamtdeutsche Volkszählung von zehn Prozent der Bürger | |
Angaben einholen, etwa zu Religion, Weltanschauung oder zum | |
Migrationshintergrund. Und es regt sich kaum Protest dagegen. Ganz anders | |
als bei der letzten Volkszählung 1987. Offenbar gilt es heute in | |
Deutschland nicht mehr als problematisch, beim Staat solche Daten | |
anzugeben. | |
Wirklich? Wie bereitwillig würden uns die Leute Fragen beantworten, die der | |
Staat nicht stellen sollte? Um das herauszufinden, haben wir einen | |
Fragebogen gebastelt. Der beginnt mit Fragen, die tatsächlich von | |
Zensus-Erhebungsbeauftragten gestellt werden, und geht über zu Fragen nach | |
politischer Einstellung, Drogenkonsum und Geschlechtsverkehr. Wann werden | |
die Leute misstrauisch? Verraten sie uns Dinge, die sie nicht einmal auf | |
Facebook posten? | |
Unsere Namen haben wir mitsamt "Zensus"-Logo auf einem Fantasieausweis | |
verewigt. T-Shirts mit dem Aufdruck "Erhebungsbeauftragte(r)" übergezogen | |
und uns auf den Weg gemacht. In den Westteil Berlins, wo Studenten auf | |
Fahrrädern neben Anzugträgern in Cabrios die Straßen entlangfahren. Als wir | |
dann vor dem ersten Hauseingang stehen, wird uns mulmig. Zweifel kommen | |
auf: Ist das, was wir hier vorhaben, ethisch korrekt? Darf man für eine | |
Recherche lügen? Aber wie sollen wir anders herausfinden, wie die Leute | |
reagieren? | |
## Beruf? Regisseur | |
Altbau, gepflegt, Kinderlachen. Ein Mädchen öffnet, lugt durch den | |
Türspalt. "Ich hol Papa." Thorsten Müller* mustert uns, als er dazukommt, | |
die Klinke in der Hand. Puls und Gedanken rasen. Er zeigt auf seine Uhr. | |
"Zehn Minuten!" | |
Wir sitzen am Tisch. Blicken auf die Terrasse. Bestaunen die Dachschrägen. | |
Die 170 Quadratmeter. Vorname, Name, Postleitzahl? Müller antwortet | |
schnell. Telefonnummer? "Warum wollen Sie die wissen?" Für Nachfragen. | |
Falls es noch Unklarheiten gibt. Er mustert uns wieder. Nennt seine | |
Festnetznummer. | |
Glaubensrichtung? Christ. Beruf? Regisseur. Alles Fragen, die wir dem | |
echten Fragebogen entnommen haben. | |
Einkommen? "Einkommen?" Einkommen. "Das gebe ich nicht an." Sie sind | |
gesetzlich dazu verpflichtet, behaupten wir. "Ja? Null Euro." Weiter. In | |
seinem Tempo. Ja. Er stützt die Hand auf. Nein. Lehnt sich zurück. Ja. | |
Lacht auf. Ein Auto, ja. Der Golf. Zigaretten, ja. Acht am Tag. Alkohol, | |
ja. Fast täglich. Sollte der Staat Sterbehilfe erlauben? "Ja." Haben Sie | |
eine Partnerin? "Nein." Weiter. Nicht nachdenken. Dann sagen wir es: Wie | |
oft haben Sie Geschlechtsverkehr? Wir erklären nichts. Müller erklärt. | |
"Ach, so werden diese Statistiken also erhoben!" Wir murmeln. Kichern. | |
Murmeln. Dann sagt er es. Wir dachten, niemand würde darauf antworten. | |
"Einmal im Monat." | |
Dreizehn Minuten. | |
Im Treppenflur löst sich die Anspannung nicht. Sie mischt sich mit | |
Verwirrung. Darüber, dass sich die Anfangsskepsis des Interviewten | |
verflüchtigt hat. Darüber, dass Einkommen und Telefonnummer nur zögerlich | |
rausgerückt wurden. Informationen zum Sexualverhalten dagegen gleich. | |
Sabine Schmidt sagt, sie habe keine Zeit für ein Gespräch. Es würde gleich | |
Besuch bekommen. Wir wollen schon gehen, da ruft ihr Mann im Hintergrund: | |
"Zensus? Das ist in Ordnung. Das dürfen die." Kein Blick auf unsere | |
Ausweise. | |
## Schon mal illegale Drogen konsumiert? Ja. | |
"Ich bin hier der Chef, das ist schon mal klar", sagt der Mann mit Glatze. | |
Er lehnt an der Wand, raucht eine Selbstgedrehte. Aber wir wollen sie. Die | |
jetzt vor gerahmten Kinderfotos sitzt. Staatsangehörigkeit, Schulabschluss, | |
Gehalt. | |
Sabine Schmidt antwortet so pflichtbewusst, als befände sie sich in einem | |
Verhör: "Ich verdiene 2.200 Euro im Monat", "Wir haben vier Computer". "Ich | |
rauche zwanzig Zigaretten pro Tag." Er mischt sich ein, inhaliert Tabak: | |
"Was ihr alles wissen wollt." Versteht nicht, warum wir nach Medikamenten | |
fragen. Streichelt dann den Kater. | |
Sind Sie für die Legalisierung von illegalen Drogen wie Marihuana? | |
"Ja." | |
Haben Sie schon einmal illegale Drogen konsumiert? | |
"Ja." | |
Welche? | |
"Cannabis." | |
Sind Sie für ein grundsätzliches Verbot von Abtreibungen? | |
"Nein." | |
Haben Sie schon einmal abgetrieben? | |
Der Kater streicht ihr um die Beine. "Ja." | |
Hans Lehmann ist anfangs recht skeptisch. Noch im Flur wundert er sich, | |
dass wir uns nicht schriftlich angemeldet haben. "Da hat die Post wohl | |
geschlampt." Reicht ihm dann als Erklärung. In der Wohnung liegen Klamotten | |
herum, Kinderspielzeug ist verstreut, der Balkon mit Pflanzen zugestellt. | |
Das ist ihm sichtlich peinlich. 47 ist er, Historiker und derzeit | |
Doktorand. | |
## Antworten im Stakkato | |
Auch er antwortet im Stakkato. Zentralheizung? Ja. Urlaub? Dreimal im Jahr. | |
Regelmäßig Alkohol? Nein. Kinder? Zwei. "Und das ist jetzt kein Fake? Sie | |
haben eine Ausweis?", fragt er, als wir wissen wollen, welche Partei er | |
wählt. Ja, haben wir. Er nimmt das Stück Papier, schief laminiert und ohne | |
Stempel, in die Hand. Mustert es, fährt sich durch die Haare, kneift die | |
Augen zusammen, legt es zurück. "Warum wollen die Behörden wissen, wen ich | |
wähle?" Die Wahlumfragen seien zu ungenau. Reicht ihm als Erklärung. Er | |
wählt die Grünen. | |
Und wie ist es mit Geschlechtsverkehr? "Das ist nicht Ihr Ernst, oder? Sie | |
verarschen mich nicht?" Doch, tun wir. Wir lösen unsere Tarnung auf, uns | |
fällt kein Grund ein, weshalb der Staat sich für das Sexleben seiner Bürger | |
interessieren sollte. Wir entschuldigen uns, er verzeiht schnell. | |
"Warum haben Sie trotz ihres Misstrauens so lange mitgemacht?" | |
"Ich bin ein höflicher Mensch, Sie waren freundlich und ich hatte ein | |
schlechtes Gewissen, weil ich mich hätte besser informieren müssen." | |
"Warum, glauben Sie, regt sich kein Widerstand gegen die Volkszählung" | |
"Die Zeiten haben sich geändert, heute ist nicht mehr der Staat böse, | |
sondern eher die Wirtschaft." | |
Sechsmal wurde uns die Tür geöffnet, zweimal wurden wir abgewiesen - nicht | |
aus grundsätzlichen Zweifeln oder einer Antihaltung zur Volkszählung, | |
sondern weil die beiden Frauen einfach keine Zeit hatten. | |
Jürgen Fischer lässt uns sofort in seine Singlewohnung. Auf dem Balkon ist | |
der Tisch gedeckt, Kuchen steht bereit, es riecht nach Kaffee. "Ich erwarte | |
Gäste, die können jederzeit kommen." Eigentlich passe es gerade nicht. | |
## Mehr reden, als der Fragebogen erwartet | |
Er redet viel. Mehr als unser Fragebogen erwartet. Wir erfahren, dass er | |
sich gerade als Ausbilder für Radiosprecher selbstständig gemacht hat, dass | |
er Arbeitslosengeld beantragt hat, "weil es noch nicht läuft." Er sagt, die | |
NPD müsse verboten werden, Westerwelle sei "scheiße", er wähle die Grünen. | |
"Selbst wenn die Spitze dort auch übel ist." Seine Gäste sind da, warten | |
auf der Terrasse. Wir lassen ihn ausreden. Rauben ihm seine Zeit. | |
Ob er für die Legalisierung von Drogen ist? | |
Seine Freunde nehmen alles Mögliche, erzählt er. Einfach so. Crystal, Koks. | |
"Ich habe 1993 einmal eine halbe Ecstasy-Pille eingeworfen, außer ein | |
Gefühl der Leichtigkeit hab ich aber nichts gemerkt." Er hatte eine | |
Chemotherapie, will aber nicht, dass wir Details zur Nachbehandlung | |
aufschreiben. "Das verweigere ich, da soll die Behörde ruhig anrufen, wenn | |
Sie ein Problem damit hat." Im Schnitt hat er 50-mal jährlich | |
Geschlechtsverkehr. Und ja, er hatte schon Sex mit Männern. | |
Er hat uns alle Fragen beantwortet. Warum, fragen wir, als wir uns als | |
Journalisten zu erkennen geben. "Diese Staatshörigkeit, das Duckmäusertum, | |
ist in den Deutschen wohl so drin. Ich bin vielleicht auch zu gutgläubig." | |
Damals, 1987, sei das noch anders gewesen. Tausende seien gegen die | |
Volkszählung auf die Straße gegangen. Und jetzt? "Heute zucken sie mit den | |
Schultern." | |
* Alle Namen von der Redaktion geändert | |
9 May 2011 | |
## AUTOREN | |
P. Wrusch | |
A. Seubert | |
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