# taz.de -- Zukunft von al-Qaida: Bin Ladens großer Irrtum | |
> Die zentrale Führung al-Qaidas war schon zu Lebzeiten bin Ladens | |
> zersplittert. Was passiert jetzt? Der al-Qaida-Experte des "Guardian" | |
> über neue Strategien. | |
Bild: Das Bündnis mit der Al-Qaida-Zentrale ist nur nominell: Ein Kämpfer im … | |
Mehr als jeder andere moderne Terroristenführer hat Osama bin Laden um die | |
Macht des Mythos gewusst. Und er wusste, dass, wenn die Ikonen des modernen | |
sunnitisch-islamistischen Kampfes sterben, sie auf eine Weise sterben | |
müssen, die der so sorgfältig betriebenen Mythenbildung entspricht. Also in | |
einem ausweglosen Feuergefecht in einer Bergfestung bis zum Letzten zu | |
kämpfen oder sich in einem ultimativen Akt des Märtyrertums selbst zu | |
töten. | |
Das arabische Wort für Märtyrer, shaheed, hat, wie die englische | |
Übersetzung, seine Wurzeln in dem Wort für witness, Zeuge. Zeugnis legt man | |
vor Publikum ab. Unbewaffnet und zu Hause sterben bei einer viel jüngeren | |
Frau in einem relativ luxuriösen Haus, ist nicht das Vermächtnis, das bin | |
Laden gewollt hätte. | |
Das Publikum ist dennoch ein Milliardenpublikum, was dem CIA klar war, als | |
er am Wochenende weitere Bilder vom toten Al-Qaida-Führer veröffentlichte. | |
Sie zeigen einen gealterten Mann, der vor dem Fernseher saß und herumzappte | |
oder alte Videos von sich anschaute. Sie schwächen den Mythos noch weiter, | |
und so war es ja auch beabsichtigt. | |
Wie geht es weiter? Wird al-Qaida nun ganz verschwinden? Wie steht es um | |
die militanten Islamisten insgesamt? | |
Der Tod Osama bin Ladens wirkt sich auf die drei Grundpfeiler von al-Qaida | |
verschieden aus. Diese drei Pfeiler sind: der harte Führungskern, die | |
verschiedenen Partnerorganisationen und die Ideologie, der al-Qaidismus. Es | |
lohnt sich, eins nach dem anderen anzusehen. | |
## Zentrale Führung | |
Der harte Führungskern umfasste bin Laden und seinen ägyptischen | |
Verbündeten Aiman al-Sawahiri sowie einige Dutzend anderer. Sawahiri ist | |
noch am Leben, aber der alternde ehemalige Kinderarzt ist jähzornig, | |
halsstarrig und bei seinen Mitkämpfern alles andere als beliebt. Er besitzt | |
nichts von dem Charisma bin Ladens und wird nie der Bezugspunkt für | |
Aktivisten sein, wie es bin Laden war, weder für Dschihad-Anwärter noch für | |
die Veteranen. | |
Es gibt auch jüngere Streiter, darunter Abu Jahja al-Libi, der Mitte | |
vierzig ist und eine steile Karriere hinter sich hat, seit er aus dem | |
Bagram-Gefängnis in Afghanistan entkommen ist. Dann sind da noch ein paar | |
Dreißigjährige, die hinter den Bemühungen bin Ladens stehen sollen, seine | |
Gruppe für Jüngere, für die 9/11 eine Jugenderinnerung ist, attraktiver zu | |
machen. Das Thema Erderwärmung gehörte dazu – für die er den Westen und | |
insbesondere die USA verantwortlich machte – und der Plan für eine | |
humanitäre NGO. | |
Aber keiner dieser Mitstreiter kann "den Scheich" ersetzen. Bin Laden war | |
einzigartig. Nur er hielt die höheren Ränge seiner Organisation zusammen. | |
Nur er besaß dieses Format und dieses Ansehen. Selbst wenn die internen | |
Vorschriften der Gruppe klar festlegen, dass der stellvertretende Emir den | |
Platz eines toten Anführers einnehmen kann, kann ein Bayat oder Eid nur | |
gegenüber einer Person, nicht gegenüber einer Organisation abgelegt werden. | |
Gefolgschaft für bin Laden überträgt sich nicht automatisch auf einen | |
möglichen Nachfolger. Die zentrale Führung al-Qaidas ist im Verlauf der | |
letzten Jahre allmählich zersplittert. Nun wird sie voraussichtlich ganz | |
zerbrechen. | |
## Eigenwillige Partner | |
Man sollte sich die Zahl der verschiedenen Gruppen vergegenwärtigen, die in | |
den Stammesgebieten existieren. Einzelne Leute wie beispielsweise Bryant | |
Vinas, ein amerikanischer Konvertit, den die Pakistaner 2008 festgenommen | |
haben, oder die drei Mitglieder der "Sauerland-Zelle" berichten von | |
Dutzenden verschiedenen Gruppen – Arabern, Türken, Usbeken –, die | |
weitgehend unabhängig voneinander agieren. David Headley, ein | |
pakistanisch-amerikanischer Kämpfer, erzählte von einem Basar in Miram | |
Schah, der "voll mit Tschetschenen, Usbeken, Tadschiken, Russen, Bosniern, | |
einigen Europäern sowie natürlich unseren arabischen Brüdern" war. | |
Es war diese Bandbreite, die zur Gründung von al-Qaida geführt hat. | |
Al-Qaida war als Dachorganisation konzipiert, die die diversen | |
Anstrengungen der verschiedenen Gruppen in der islamischen Welt während der | |
1990er Jahre lenken und bündeln sollte. | |
Das hat eine Zeit lang funktioniert. Aber die wichtigsten regionalen | |
Gruppen oder "Partner" heute – "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" | |
(hauptsächlich Jemen), "al-Qaida des Islamischen Maghreb" (hauptsächlich | |
Algerien) und "al-Qaida im Irak" – sind weitestgehend unabhängig von der | |
zentralen Führung. Jede ist in spezifisch lokale Gegebenheiten und ihre | |
Geschichte eingebunden. Das Bündnis mit al-Qaida war in der Regel nur | |
nominell. | |
Paradoxerweise haben die verschiedenen Partnerorganisationen von al-Qaida | |
rund um den Globus – bis auf eine Ausnahme – wenig Interesse gezeigt, dem | |
globalen Auftrag zu folgen, der doch der Daseinsgrund der Gruppe war. Der | |
jüngste Neuzugang im "Netzwerk der Netzwerke", das bin Laden über die Jahre | |
gewoben hatte, waren somalische Kämpfer. Letzten Juli verübten sie ihren | |
ersten internationalen Anschlag auf Restaurants in Uganda. Aber die Gründe | |
dafür – Uganda davon abzuhalten, Friedenstruppen nach Somalia zu schicken – | |
waren lokale. | |
"Al-Qaida im Maghreb" (AQIM)) wurde im Herbst 2006 gegründet, um die | |
existierenden militanten Gruppen längs der nordafrikanischen Küste in einem | |
Bündnis zusammenzubringen und ein Sprungbrett nach Europa zu schaffen. | |
Dieses Vorhaben schlug völlig fehl. Den Kurs von AQIM bestimmten Algerier, | |
die wenig Interesse zeigten an ihren libyschen oder marokkanischen Kollegen | |
und, obwohl einige Anschlagsziele international waren – wie die Vereinten | |
Nationen –, meist in ihrem heimatlichen Kräftemessen befangen blieben. | |
## Kein Interesse am Irak | |
Auch im Irak blieb die Orientierung eine lokale. Obwohl sich die | |
Organisation als ziemlich finster erwiesen hat, ist al-Qaida im Irak auf | |
die nordwestliche Ecke des Landes beschränkt und bezeugt nicht mal | |
Interesse, regional Anschläge zu verüben, geschweige denn im Ausland. | |
Die Ausnahme bildet der Jemen, wo al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel | |
(AQAP) mehrere Anschläge auf amerikanische Ziele geplant hat. Die | |
Schlüsselfigur ist dort Anwar al-Awlaki, ein in den USA geborener | |
Geistlicher, der sich per Internet eine internationale Fangemeinde | |
aufgebaut hat. | |
Aber die meisten dieser Partnerorganisationen – der zweite Teil des | |
Al-Qaida-Phänomens – haben sich, organisatorisch wie ideologisch, schon vor | |
langer Zeit von der zentralen Führung al-Qaidas gelöst. Einige andere | |
Gruppen, wie zum Beispiel die pakistanische Lashkar-e-Taiba, haben zwar | |
zunehmend Interesse an der internationalen oder zumindest regionalen | |
Ausrichtung gezeigt, aber sie unterhalten, wenn überhaupt, eher lose | |
Bindungen zu al-Qaida. Sie haben ihre eigenen Unterstützernetzwerke und | |
sind auf die Hilfe zerstrittener Alliierter aus der Welt des | |
internationalen Dschihad nicht angewiesen. | |
Eine Gruppe, die sich schnell anpassen muss, sind die afghanischen Taliban. | |
Bin Ladens jahrelange Bemühungen, Mohammed Mullah Omar und seine Mitkämpfer | |
von einer globalen Programmatik zu überzeugen, hatten teilweise Erfolg. | |
Aber die Taliban beharrten auf ihren Zielen, ihrer Propaganda und Strategie | |
auf der lokalen Agenda, selbst wenn einige jüngere Mitglieder Bewunderung | |
für den alten Al-Qaida-Führer bekundeten. Eine größere Operation in | |
Kandahar am letzten Wochenende hatte zum Ziel, zu Beginn der diesjährigen | |
Kampfsaison Initiative und psychologische Überlegenheit zu demonstrieren. | |
Diese verschiedenen Verbindungen sollten uns daran erinnern, dass al-Qaida | |
immer nur eine von vielen radikalen Gruppen war, die zusammen das | |
dynamische und vielfältige Phänomen des gewaltbereiten | |
sunnitisch-muslimischen Extremismus bildete. Auch wenn der Tod bin Ladens | |
die zeitgenössische militante Szene grundlegend verändern wird, wird er auf | |
die Partnerorganisationen wenig Auswirkungen haben. | |
## Marginalisierte Ideologie | |
Dann gibt es noch die Ideologie, das dritte und bedeutendste Element des | |
Al-Qaida-Phänomens. Hier ist die Situation nicht so klar. Der größte Erfolg | |
bin Ladens war, dass er seine spezielle Auffassung des radikalen Islamismus | |
weltweit bekannt gemacht hat. Es gab andere Strömungen militanten Denkens | |
und kämpferischer Strategien in den späten 1990ern, aber 20 Jahre | |
"Propaganda durch Handeln" haben bin Ladens Sichtweise zur dominierenden | |
gemacht. Zu einem bestimmten Zeitpunkt schien sie wirklich eine | |
beträchtliche Anhängerschaft bewirkt zu haben. | |
Aber in den vergangenen Jahren haben bin Ladens Ideen und Methoden im Nahen | |
Osten und in der gesamten islamischen Welt dramatisch an Einfluss verloren, | |
das haben die Ereignisse im "arabischen Frühling" gezeigt. Nun sind seine | |
Ideen marginal geworden, und es ist eher unwahrscheinlich angesichts der | |
Umstände seines Todes, dass sie einen plötzlichen Popularitätsschub | |
erfahren werden. | |
Was bedeutet das nun für uns? | |
In den kommenden Jahren wird es weiterhin Gewalt und Gefahr auf eher | |
niedrigem Niveau geben. In einem Moment kann es in Pakistan aufflackern, im | |
nächsten irgendwo im nördlichen Afrika – je nach lokalen Umständen und dem | |
Auftauchen neuer Führer. Alden Yilmaz, Mitglied der Sauerland-Zelle, sagte | |
dem Gericht, dass er "jeden Moment genossen" habe, den er in Afghanistan | |
gekämpft hat. | |
Solange solche Gefühle existieren, bei europäischen Muslimen wie im Nahen | |
Osten, wird der militante Islamismus nicht vollständig verschwinden. Aber | |
er wird in der Post-bin-Laden-Ära nicht mehr die existenzielle Bedrohung | |
darstellen wie 2001. "Mein Leben oder Tod zählen nicht. Das Erwachen hat | |
begonnen", brüstete sich bin Laden im Herbst 2001. Es hat den Anschein, | |
dass er falsch lag. | |
Das Erwachen hat nicht stattgefunden angesichts lokaler | |
Partikularinteressen und einer allmählichen Ablehnung in der Bevölkerung | |
infolge der realen Gewalt auf den Straßen und der weltabgewandten Natur der | |
sozialen Restriktionen, die die Extremisten zu verstärken hofften. Es ist | |
eine gute Sache, dass ein Irrtum bin Ladens Grabinschrift sein wird. | |
Übersetzung: Sabine Seifert | |
10 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Jason Burke | |
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