# taz.de -- US-Reaktionen auf bin Laden: Tod, Gerechtigkeit, Größe | |
> In den USA sind kritische Stimmen zur Tötung Osama bin Ladens in diesen | |
> Tagen selten. Bürger, Dozenten, Soldaten und Linke – alle loben Obamas | |
> Mut. | |
Bild: Freuen sich über den Tod von Osama bin Laden: US-Bürger vor dem Weißen… | |
WASHINGTON taz | "Das ist wirklich klasse", sagt ein junger Afroamerikaner. | |
Und tippt auf eine Karikatur, die quer über eine halbe Seite seiner Zeitung | |
geht. Ein Gratis-Boulevardblatt, das an diesem Tag fast alle Wartenden auf | |
dem U-Bahnsteig in Washington in Händen halten. "JUSTICE" - Gerechtigkeit – | |
steht in der Karikatur. Der Buchstabe "i" besteht aus dem toten Osama bin | |
Laden. An seinem Fuß baumelt ein Zettelchen mit einer Nummer. Der junge | |
Mann trägt ein fröhliches Grinsen im Gesicht. Und erwartet von seinen | |
Mitmenschen dieselbe Freude. | |
Als die fremde Frau neben ihm auf dem Bahnsteig sagt, ihr käme die Tötung | |
von Abbottabad vor wie Rache und nicht wie "Gerechtigkeit", zuckt er | |
zusammen. Bevor er ans andere Ende des Bahnsteigs ausweicht, sagt er: | |
"Jeder kann denken, was er mag." | |
"Gerechtigkeit" ist das zentrale Stichwort, das in den USA das Ende des | |
Al-Qaida-Chefs begleitet. Barack Obama hat es schon in seiner ersten | |
Fernseh-Ansprache benutzt. "Heute Nacht kann ich dem amerikanischen Volk | |
und der Welt mitteilen, dass Osama bin Laden tot ist", sagt der | |
US-Präsident, "sein Tod sollte von allen friedliebenden Menschen begrüßt | |
werden". Er wertet die Tötung von Abbottabad als Zeichen für die "Größe | |
Amerikas". Der Präsident sagt: "Amerika kann schaffen, was immer wir uns | |
vornehmen." | |
Tötung, Gerechtigkeit, Größe – außerhalb der USA ist das ein fremder | |
Dreiklang. Aber die 56 Millionen Zuschauer in den USA verstehen, was | |
gemeint ist. Einige von ihnen laufen noch vor dem Ende der präsidenziellen | |
Ansprache auf die Strasse, um die Tötung zu feiern. Binnen weniger Minuten | |
kommt es zu spontanen Jubelfeiern vor dem Weißen Haus in Washington, an | |
Ground Zero in New York, wo bis zum 11. September 2001 die beiden Türme des | |
World Trade Centers standen, an zahlreichen Universitäten des Landes und in | |
Dearborn, eine Gemeinde nahe der Autostadt Detroit, mit einem besonders | |
großen muslimischen Bevölkerungsanteil. | |
## "Endlich ein Erfolg für die USA" | |
In der Menschenmenge umarmen sich Unbekannte. Schwenken Fähnchen. Blasen in | |
Vuvuzelas. Skandieren: "USA! USA!". Singen die Nationalhymne. Und sind | |
stolz. "Endlich ein Erfolg für die USA", sagt der Universitätsdozent Scott | |
Talan, der die Tötung des Terroristen am Weißen Haus feiert. "Wir haben | |
nicht viele Siege in diesen modernen Kriegen“, schreibt ein paar Tage | |
später der 27-jährige Marine-Veteran Dario DiBattista in der Washington | |
Post. | |
Auch er hat die Tötungsnachricht am Weißen Haus gefeiert. "Unsere Kriege | |
scheinen endlos zu sein. Und ihre Ziele schwer zu definieren", fügt er | |
hinzu, "aber jeder kann über den Tod von bin Laden vor Freude jauchzen. So | |
wie wir es in der Nacht getan haben." | |
Fast alle, die in jener Nacht feiern, sind jung. Die meisten waren Schüler, | |
manche gingen noch in den Kindergarten, als 19 Männer vier Flugzeuge | |
entführten, zwei davon in die Türme des World Trade Centers flogen und | |
eines in das Pentagon in Washington. Das vierte entführte Flugzeug stürzt | |
über Pennsylvania ab, als die Passagiere an Bord rebellieren. Die | |
Erwachsenen lernen an jenem Tag, dass ein islamistisches Netzwerk namens | |
Al-Qaida Krieg gegen die USA führt. Für die Kinder ist es vorbei mit der | |
Geborgenheit und dem Sicherheitsgefühl. Für sie ist ein Monstrum geboren, | |
das sie neuneinhalb Jahre lang begleiten wird. | |
Es trägt einen Rauschebart, meldet sich in unregelmäßigen Abständen per | |
Video mit aggressiven Drohungen und hat den Namen Osama bin Laden. Die | |
erste Attacke gegen die USA auf ihrem eigenen Territorium kostet knapp | |
3.000 Menschenleben. Und löst ein Trauma in dem Land aus, das bis heute | |
tief sitzt. | |
Die Attacken sollen das Antlitz der USA radikal verändern. Wenige Tage | |
später gibt der Kongress grünes Licht für den Krieg gegen den Terror. Noch | |
im selben Jahr beginnt der Krieg gegen Afghanistan. Eineinhalb Jahre später | |
marschieren die USA im Irak ein. Seither steht die US-Außenpolitik im | |
Zeichen von Kriegen. | |
## Guantánamo | |
Selbst die Beziehungen zu traditionellen Verbündeten in Europa komplizieren | |
sich. Auch die Innenpolitik rückt in den Schatten von innerer und äußerer | |
Sicherheit. Unter dem Dach des neuen "Ministerium für die Heimatsicherheit" | |
kommen mehr als 30 Behörden zusammen. Grundrechte werden eingeschränkt. Die | |
Etats für Geheimdienste und Militärs wachsen exponentiell. | |
Auf der Navy-Basis Guantánamo entsteht ein Gefängnis, in dem | |
terrorismusverdächtige ausländische Männer jahrelang ohne Prozess, fern | |
jeder Öffentlichkeit und unter menschenrechtswidrigen Bedingungen | |
festgehalten werden. Die meisten von ihnen waren – so wissen wir heute – | |
völlig unschuldig. Aber das Lager hat ein Eigenleben entwickelt, das auch | |
dem Schließungsversprechen von Präsident Obama widerstanden hat. | |
Jene, die wie Dario DiBattista im Spätsommer 2001 Soldaten sind, waren von | |
einem Dienst im Frieden ausgegangen. DiBattista, damals 17, verstand sich | |
als Reservist, der zum College geht: "Das Stichwort Marine würde bloß ein | |
Wort in meinem Lebenslauf werden". Stattdessen zieht er in den Krieg, wie | |
mehrere hunderttausend junge Männer und Frauen seit dem Herbst 2001. Von | |
ihnen kommen mehr als 6.000 nicht zurück. Zigtausende behalten Verletzungen | |
an Körper und an Seele. Und eine ständig wachsende Zahl scheitert an der | |
Reintegration in das zivile Leben. Im vergangenen Jahr haben sich 309 | |
Veteranen in den USA das Leben genommen. Das ist fast ein | |
Veteranen-Selbstmord pro Tag. | |
William Rivers Pitt ist ein Kritiker des Kriegs gegen den Terror und hat | |
die zahlreichen Kollateralschäden des Krieges in der Zivilgesellschaft – | |
vom Patriot Act, über den Homeland Security Act, den Abbau der Grundrechte | |
und die Invasionen - mit kritischen Kommentaren in dem linken Online-Medium | |
[1][Truthout] begleitet. Aber am Ende der Woche, die mit der Tötung von Bin | |
Laden begonnen hat, schreibt er: "Ich habe nicht auf der Straße getanzt und | |
Fahnen geschwenkt. Aber ich habe gegrinst." | |
## "Eine schreckliche Dekade" | |
Rivers Pitt sieht auf eine "schreckliche Dekade zurück. Immer unter dem | |
Banner, ihn zu kriegen." Im Rückblick auf die Zeit vor dem 11. September | |
beschreibt er einen gesunden Haushalt und eine finanzielle Abdeckung für | |
Sozialversicherung und die medizinische Versorgung für Alte. Dann kam, so | |
Rivers Pitt, "ein Jahrzehnt von Raub, Mord, Asche und Verlust." | |
Vor allem ein Mann hat diesem Jahrzehnt von Krieg und Kriegswirtschaft | |
seinen Stempel aufgedrückt: Ex-Präsident George W. Bush. 2002 sagte er in | |
Wildwest-Manier über Bin Laden: "Wir werden ihn kriegen: tot oder | |
lebendig". Neuneinhalb Jahre danach läßt sein demokratischer Amtsnachfolger | |
Obama keine Zweifel an der Rechtsmäßigkeit der Tötung des unbewaffneten Bin | |
Laden zu. | |
In den USA sind kritische Stimmen in diesen Tagen ohnehin selten. Selbst | |
republikanische Bewerber um das Präsidentenamt loben in diesen Tagen den | |
Mut und die Entscheidung von Präsident Obama. Und bei den rechten TV- und | |
Radiosendern freuen sich selbst hartgesottene rechte Einpeitscher wie Rush | |
Limbaugh, Laura Ingraham und Michael Savage ostentativ über das Ereignis | |
von Abbottabad. Und kritisieren allenfalls Details nach der | |
Kommandooperation. | |
Wie die Entscheidung des Präsidenten, keine Bilder des toten Bin Laden zu | |
veröffentlichen. Rachel Meaddows, engagierte linke Moderatorin des | |
TV-Senders MSNBC, die regelmäßig Menschenrechtsverletzungen, | |
Machtmissbräuche und andere Exzesse anprangert, hat auch fünf Tage nach der | |
Tötung noch ein fröhliches Grinsen im Gesicht "Ich kann es immer noch nicht | |
ganz glauben", sagt sie am Freitag Abend. Einen Sinn in einem – durch die | |
Tötung verhinderten - Gerichtsverfahren gegen Bin Laden vermögen in den USA | |
nur ganz wenige zu erkennen. | |
Vielleicht ist ihre Fantasie durch die Militärkommissionen von Guantánamo | |
eingeschränkt, wo in den den vergangenen Jahren – unter Ausschluss der | |
Öffentlichkeit – Militärs und mutmaßliche Terroristen unter sich blieben. | |
Und auf die Idee, Bin Laden – ähnlich wie es dereinst der französische | |
Geheimdienst im Sudan mit Carlos tat – zu betäuben oder anderweitig außer | |
Gefecht zu setzen, ohne ihn zu töten – scheint in den USA niemand zu | |
kommen. | |
Der linke Intellektuelle Noam Chomsky ist einer von wenigen US-Amerikanern, | |
die Bin Ladens Tötung als Verletzung des internationalen Rechtes | |
betrachten. Er erinnert daran, dass George W. Bushs Kriegen sehr viel mehr | |
Menschen zum Opfer gefallen sind als den Attentaten von Bin Laden. Und | |
fragt: "Was würden wir tun, wenn ein Kommando aus dem Irak George W. Bush | |
ermorden und seine Leiche in den Atlantik werfen würde?" | |
10 May 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://truthout.org/ | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Überwachung | |
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