# taz.de -- Interview mit untergetauchtem Dissidenten: "Wir brauchen ein neues … | |
> Der Autor und Dissident Yassin Haj Saleh ist zuversichtlich, dass der | |
> politische Wandel kommt. Schon seit Wochen versteckt er sich vor den | |
> syrischen Sicherheitsdiensten. | |
Bild: Protest gegen Syriens Präsident Baschar al-Assad. | |
taz: Herr Saleh, Sie sind ein renommierter politischer Autor in Damaskus. | |
Nun leben Sie bereits seit Wochen im Untergrund. Wer ist hinter Ihnen her? | |
Yassin Haj Saleh: Ja, es stimmt, ich verstecke mich. Am 30. Januar habe ich | |
meine Wohnung verlassen. Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt wohl noch | |
niemand hinter mir her. Doch ich entschied mich unterzutauchen, damit ich | |
frei sprechen kann. Inzwischen muss ich davon ausgehen, dass der | |
Geheimdienst mich sucht. Ich rechne in jedem Moment damit, dass sie mich | |
erwischen. Denn über mein Mobiltelefon könnten sie mich ausfindig machen. | |
Ich will es aber nicht abschalten, damit ich weiter erreichbar bin. | |
Können Sie schildern, wie Ihr Alltag im Moment aussieht? | |
Ich befinde mich an einem sicheren Ort, zumindest hoffe ich das. Ich bleibe | |
nie lange in ein und demselben Versteck. Ich habe meinen Laptop bei mir, | |
darauf schreibe ich jeden Sonntag einen Beitrag für die Zeitung al-Hayat. | |
Ich versuche, mit meinen Freunden in Verbindung zu bleiben. Ab und an gehe | |
ich raus, um mich mit Leuten zu treffen, aber nicht öfter als alle zwei | |
oder drei Tage. | |
Das, was Sie beschreiben, klingt sehr bedrückend. Wie gehen Sie persönlich | |
mit der Situation um? | |
Natürlich mache ich mir Sorgen. Ich habe Angst, dass sie mich verhaften, | |
denn ich war 16 Jahre lang als politischer Häftling im Gefängnis und weiß, | |
was das bedeutet. Doch ich bereue meine Entscheidung nicht. Denn Syrien | |
steht an einem kritischen Punkt: Wir müssen diesen Kampf gewinnen und der | |
schwierigen Herausforderung begegnen, ein freies Land aufzubauen. | |
Sie gehören zu einer Generation von Dissidenten in Syrien, die seit | |
Jahrzehnten ohne nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung für | |
demokratische Reformen eintreten. Nun gehen Tausende von unbekannten, | |
überwiegend jungen Leuten auf die Straße und fordern Freiheit und | |
Demokratie. Inwieweit sind Sie in die gegenwärtigen Proteste eingebunden? | |
Ich denke, unsere Rolle besteht darin, eine Vision für ein neues Syrien zu | |
entwerfen. Wir versuchen zu vermitteln, was draußen auf den Straßen | |
passiert, dass es den Demonstranten um Freiheit und nationale Einheit geht. | |
Das ist es, was in den Slogans auf ihren Bannern gefordert wird. Viele | |
Menschen glauben, dass der Aufstand von Islamisten getragen wird. Doch das | |
stimmt nicht: Die Protestbewegung ist demokratisch und säkular geprägt, und | |
das ist es, was wir erklären wollen. | |
Doch warum gelingt diesen jungen Aktivisten, was Sie und die anderen | |
Oppositionellen vergeblich versucht haben - nämlich Tausende zum Aufstand | |
gegen das autoritäre Regime zu mobilisieren? | |
Ich denke, das ist das Ergebnis mehrerer Faktoren. Erstens stehen den | |
Demonstranten die neuen Werkzeuge der Kommunikation zur Verfügung. Sie | |
wissen, wie sie das Satellitenfernsehen, ihre Mobiltelefone und das | |
Internet nutzen können. Zweitens hat das Beispiel der friedlichen | |
Revolutionen in Tunesien und Ägypten sie inspiriert. Und drittens ist diese | |
junge Generation viel pragmatischer in ihren Forderungen. Sie sind weniger | |
abstrakt, weniger ideologisch, als wir es waren. | |
Am Wochenende hat die Opposition erstmals einen Katalog von Forderungen | |
vorgelegt. Die Facebook-Seite "Syrian Revolution 2011" tritt nicht für den | |
sofortigen Sturz von Präsident Baschar al-Assad ein, sondern für freie | |
Wahlen in sechs Monaten. Doch lässt sich überhaupt mit Bestimmtheit sagen, | |
ob diese Gruppe die Mehrheit der Aufständischen repräsentiert? | |
Dieser Katalog ist nicht als offizielles Programm der syrischen Opposition | |
zu verstehen. Es ist ein Forderungsbündel unter vielen. Ich denke, wenn wir | |
in sechs Monaten freie Wahlen erreichen, wäre uns die Revolution gelungen. | |
Doch wir werden uns nicht auf Versprechen verlassen. Denn eines steht fest: | |
Wir wollen nicht mehr in einem Einparteiensystem leben, wir wollen dieses | |
repressive Regime und seinen Sicherheitsapparat nicht mehr. | |
Die Protestbewegung hat nach wie vor keine politische Führung. Vor einigen | |
Tagen hieß es, das Regime wolle verhandeln, wisse aber nicht, mit wem. | |
Besteht also die Gefahr, dass die Energie des Aufstands verpufft, weil es | |
keine klaren organisatorischen Strukturen gibt? | |
Ich denke nicht, dass das ein Problem ist. Auch bei den Protesten in | |
Tunesien und Ägypten gab es ja keine politische Führung. Zudem ist dieses | |
Fehlen einer tragfähigen Opposition eine der bitteren Früchte, die dieses | |
Regime hervorgebracht hat. In Syrien kann jeder politische Aktivist, jeder | |
Dissident und jeder Menschenrechtler ständig verhaftet werden. Jetzt | |
stellen sie sich hin und behaupten: Wir können nicht ersetzt werden, weil | |
es keine Alternative gibt. Erst haben sie die politische Landschaft in | |
Syrien zerstört, dann benutzen sie dies als Argument für ihren Machterhalt. | |
Doch tatsächlich bleibt unklar, wie eine Zukunft in Syrien nach al-Assad | |
aussehen könnte. Zudem ist die Bevölkerung aus vielen verschiedenen | |
Konfessionen zusammengesetzt. Viele fürchten daher, dass ein Sturz des | |
Regimes den Ausbruch religiöser Konflikte nach sich ziehen könnte. | |
Das denke ich auf keinen Fall. Ich bestreite ja nicht, dass schwere Zeiten | |
vor uns liegen. Niemand sagt, dass wir in wenigen Monaten eine stabile | |
Demokratie aufbauen könnten. Doch das Regime erpresst die syrische | |
Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft, indem es sagt: entweder | |
wir oder das Chaos. Das ist ein wichtiger Teil der Mythologie, die das | |
Regime zu seiner eigenen Rechtfertigung aufgebaut hat. Das Gegenteil trifft | |
zu: Je länger das Regime an der Macht bleibt, desto stärker ist die | |
nationale Einheit des Landes bedroht. Man muss sich doch die Demonstranten | |
nur anschauen: Das sind keine islamischen Extremisten, sondern normale | |
Leute, die friedlich für die Freiheit demonstrieren. Die Einzigen, die | |
ständig von religiösen Konflikten reden, sitzen in der Regierung. | |
Nach wie vor versucht die Armee in den Protesthochburgen Daraa, Banias und | |
Homs die Proteste mit aller Gewalt niederzuschlagen. Haben Sie eine | |
Vorstellung davon, wie es dort vor Ort aussieht? | |
Ich erhalte keine direkten Informationen mehr aus Daraa und Banias. Diese | |
Städte stehen unter militärischer Besatzung, es gibt keinen Strom, kein | |
Telefon, nicht mal fließendes Wasser. Dieses Regime tötet sein Volk, es | |
tötet sein Land. Heute wurde einer humanitären UN-Mission der Zugang nach | |
Daraa verweigert, man kann sich also nur ausmalen, wie die Situation dort | |
derzeit ist. | |
Wie kommen Sie in Ihrem Versteck überhaupt an Informationen? | |
Ich habe ein großes und zuverlässiges Netzwerk von Freunden, die mich auf | |
dem Laufenden halten. Nur Daraa und Banias sind inzwischen vollständig von | |
der Außenwelt abgeschnitten. | |
Doch was haben die Demonstranten Panzern und scharfer Munition | |
entgegenzusetzen? Wie lange können die Proteste angesichts dieser Übermacht | |
aufrechterhalten werden? | |
Seit sieben Wochen demonstrieren die Menschen, seit sieben Wochen wird auf | |
sie geschossen. Bislang haben sie rund 800 Menschen getötet. Trotzdem gibt | |
es weiterhin Proteste. Ich denke nicht, dass sie Zehntausende töten können. | |
Es gibt eine Grenze, und die haben wir bald erreicht. Das mag Wunschdenken | |
sein, doch ich bin sicher, dass das Ende des Regimes eingeläutet ist. Sie | |
haben den Menschen nichts anzubieten, deswegen werden sie letztendlich | |
verlieren. | |
Viele sind überrascht, weil Baschar al-Assad so brutal durchgreifen lässt. | |
Der junge Präsident galt bislang eher als Reformer. Haben die Menschen ihn | |
falsch eingeschätzt? | |
Assad ist ein Modernisierer, kein Reformer. Das bedeutet: Er hat das System | |
an die Moderne angepasst. Nun gibt es Privatbanken, die Wirtschaft wurde | |
liberalisiert, eine neue Elite hat sich herausgebildet. Das Land sieht | |
anders aus als während der Regierungszeit seines Vaters. Das ist aber auch | |
schon alles. Es gibt nicht mehr Freiheit, nicht mehr Würde, nicht mehr | |
Offenheit. Ich denke nicht, dass dieses Regime fähig zu Reformen ist. Denn | |
die Machtstrukturen beruhen nicht auf dem Willen des Volkes. Und das lässt | |
sich nur ändern, wenn man die Strukturen selbst ändert. | |
Seit einigen Wochen zeichnet sich eine Eskalation ab: Das Regime verstärkt | |
die Repressionen, gleichzeitig schwellen die Proteste an. Wird sich diese | |
Spirale der Gewalt weiterdrehen? | |
Das befürchte ich. Das Regime versucht, mit dem Einsatz seiner Muskeln ein | |
Problem zu lösen, das gedanklicher Natur ist. Eine politische Einigung | |
haben sie bislang nicht vorgeschlagen. Ich kann nur hoffen, dass der | |
interne Druck steigt und Leute innerhalb des Machtapparats zum Umdenken | |
bringt. Nur so kann der Teufelskreis der Gewalt durchbrochen werden. | |
Sie selbst haben bereits 16 Jahre lang im Gefängnis gesessen. Woher nehmen | |
Sie die Kraft? | |
Vielleicht ist gerade meine Zeit im Gefängnis der Grund. Ich habe meine | |
gesamte Jugend im Gefängnis verbracht, die Zeit, in der andere ihren | |
Universitätsabschluss machen. Es ist schwer zu erklären, doch auf eine | |
bestimmte Art hat diese Erfahrung mich befreit. Denn die Freiheit ist zum | |
Dreh- und Angelpunkt meines Lebens geworden. Und nun hoffe ich, dass mein | |
Volk, vor allem die junge Generation, ein besseres Leben vor sich hat, als | |
wir es hatten. | |
10 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Gabriela M. Keller | |
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