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# taz.de -- Protest in Stuttgarts Gerichten: Die Bühne des Buhs
> Abseits der Straße hat sich in Stuttgart eine Protestform entwickelt, die
> ganze Behörden belästigt: Bahnhofs-Gegner johlen und klatschen in den
> Gerichtssälen.
Bild: Stellt das Gericht auf den Kopf: Cecile Lecomte.
STUTTGART taz | Eine "Farce" seien diese Prozesse, tuschelt einer in der
dritten Reihe. "Nur weil sie ein bisschen demonstriert haben. Das ist doch
eine Schweinerei", ruft eine andere, noch ehe der Prozess hier im
Sitzungsaal 1 des Amtsgerichts Stuttgart beginnt. "Wenn Sie dann bitte Ihre
Handys auf lautlos stellen", bittet ein Justizbeamter höflich. "Wie geht
das?", antwortet ein Mann aus dem Publikum. Pure Provokation.
Hier in den Publikumsreihen hockt der vielleicht gefürchtetste Mob der
Stadt. 67 Demonstranten, das ist seine maximale Größe, denn mehr Sitzplätze
gibt es nicht. Ein junger Mann mit rotem Irokesenschnitt sitzt da, ein
älterer Herr mit einem Fahrradhelm, einige mit Piratentüchern auf dem Kopf,
andere barfuß. Parkschützer-T-Shirts und Protest-Accessoires gehören zu
ihrer Standardausrüstung. Und viele hier sind Dauergäste. Denn nachdem die
Straßen erkämpft, die Baustellen blockiert sind, selbst das Parlament
erobert ist, gibt es in Baden-Württembergs Landeshauptstadt einen neuen
Volkssport: den Widerstand im Gerichtssaal.
Da schlendert der Uli herein. "Hey Uli", rufen ein paar. Uli kommt, weil
gleich wieder eine Verhandlung beginnt gegen zwei, die auch gegen Stuttgart
21 sind. Vorne sitzen die Angeklagten. Und auf den Zuschauerstühlen fühlen
sich alle mitangeklagt. Wie immer lautet die Losung: Alle gegen
Staatsanwalt und Richterin.
## Niemand bezweifelt, dass sie da hingen
Im aktuellen Verfahren stehen Cecile Lecomte, 29, und der Heidelberger
Robin-Wood-Aktivist Arne Kersting, 25, wegen Hausfriedensbruchs vor
Gericht, weil sie sich am 30. August 2010 aus Protest gegen den Neubau vor
dem Stuttgarter Hauptbahnhof an einen Bagger gekettet haben. Es geht um die
Anzahl der Tagessätze. Niemand bezweifelt, dass die zwei da hingen. Auch
sie selbst tun es nicht. Aber geht es hier um etwas anderes: um die
Repolitisierung des Gerichtssaals.
Lecomte, die für ihre Kletter- und Blockadekünste berühmte
Vollzeitaktivistin, Spitzname Eichhörnchen, sitzt links auf der Anklagebank
vor den holzvertäfelten Wänden. Vor ihr auf dem Tisch hat sie drei braune,
weiche Kuscheleichhörnchen postiert. Sie ist ein Paradebeispiel für die
Kunst, aus Gerichtsprozessen Polittheater zu machen. Gegen den Staat, von
dem sie ziemlich oft angeklagt wird, verteidigt sie sich ohne Anwalt
selbst: Kackfrech, respektlos, aber kundig.
"Wenn die Richterin am ersten Prozesstag sagt, sie lasse sich die
Prozessführung nicht aus der Hand nehmen, dann hat sie verstanden, wohin
wir wollen", erklärt Lecomte.
Es ist bereits der dritte Verhandlungstag. Und die Richterin sagt Sätze
wie: "Entschuldigen Sie, Frau Lecomte, aber auch ich habe ein Recht, hier
zu sprechen." Da lachen sie dann auf den Zuschauerbänken. Da klopfen sie
sich auf die Schenkel.
In Dannenberg ließ ein Richter einmal all die Anhänger von Lecomte aus dem
Gerichtssaal tragen, weil sie störten. In Frankfurt warfen ihre
Sympathisanten Flummis gegen eine Sicherheitsscheibe, die
Prozessprotagonisten vom Publikum trennte. Sie beschrifteten die Glaswand
mit Kreide. Als sich Richter und Staatsanwaltschaft wegen der
Sachbeschädigung empörten, stellte Lecomte den Antrag, prüfen zu lassen, ob
hier überhaupt eine "dauerhafte Substanzbeschädigung" vorliege. "Kreative
Prozessführung" nennt sie das. "Es geht darum, in die Offensive zu kommen."
Für Lecomte ist das nichts Neues. Und in Stuttgart wird diese Offensive
derzeit zum Normalfall.
## Banane? Gerne!
Mehrere tausend Strafverfahren hat allein der Streit um das umstrittene
Bauprojekt Stuttgart 21 nun schon mit sich gebracht. Hunderte von ihnen
landen vor Gericht. Jede Woche gibt es mehrere Prozesstermine. Und von den
Straßen strömen S-21-Gegner inzwischen direkt in die Gerichtssäle. Dort
wollen sie ein Wörtchen mitreden. Auf dem Tisch vor der Angeklagten liegt
eine große Bananenstaude, in der vorletzten Zuschauerreihe beißt gerade
einer demonstrativ in seine Banane. "Gerichte sind zum Essen da!", ruft er.
Es ist ein eingespieltes Bild, das sagen soll: Auf dem grüngrauen Teppich
dieses Saals treffen die Stuttgarter auf die Bananenrepublik, die sie
verachten. Also rufen sie dazwischen, grölen, lachen die Richterin aus.
Wenn die Urteile im Namen des Volkes ergehen, johlen oder buhen sie. Das
hier ist ja irgendwie ihre Justiz, die dürfen sie ja wohl noch beschimpfen.
"Weder Beifalls- noch Missfallensbekundungen werden hier geduldet", erklärt
die Richterin. "Ich sage das jedes Mal. Einige von Ihnen sind ja öfters
hier. Sie müssten das doch wissen." Doch ihre Mahnung verhallt ungehört.
Wenn der Staatsanwalt etwas sagen will, wird zurückgepoltert. Also geht es
im Sitzungssaal 1 - natürlich - wieder heiß her. "Schreien Sie nicht so!",
schreit der Staatsanwalt. "Schreien SIE nicht so!", schreit das Publikum.
"Ich schreie nicht!", schreit die Angeklagte. "Hier wird nicht geschrien",
sagt die Richterin. In der Kantine gibt es derweil Maultaschen für 5,30
Euro. An der Tür der Besuchertoilette verkündet ein Sticker: "Rebellion ist
gerechtfertigt!"
Kühl und souverän schaut die Richterin in die Ferne, der Staatsanwalt
spielt mit seinem Stift, während die beiden Angeklagten etliche formale
Rügen formulieren, Befangenheits- und dutzende Beweisanträge stellen. Immer
wieder beantragen sie zwischendurch eine Unterbrechung. Zum Pinkeln, zum
Denken, zum Luftschnappen.
In den Prozesspausen jongliert im Gerichtsflur in der Hauffstraße 5 einer
von den Barfüßigen mit neongrünen Tennisbällen. Wenn hier einer den Prozess
führt, dann die Aktivisten. Eigentlich nehmen sie nur ihre Rechte wahr.
Aber sie tun es so exzessiv, dass aus dem Prozess ein demokratisches
Experiment wird: Es kommt nicht auf das Urteil der Richterin an. Es kommt
auf das Urteil der Zuschauer an.
## Ende der 80er war das anders
Sieben Stunden wird der Prozesstag am Ende gedauert haben. Dreißig
Tagessätze, lautet dann das Urteil, für Lecomte jeweils zu acht Euro, für
Kersting zu zehn.
"Tatsache ist, dass wir kaum Erfahrungen mit dieser Art von Öffentlichkeit
haben. Einen solch großen Andrang in den Gerichtssälen aufgrund eines
gesellschaftlichen Konflikts hatten wir hier in Stuttgart zuvor nicht",
sagt Bernhard Häußler. Selbst Ende der 80er Jahre, als Nachrüstungsgegner
es mit der Justiz zu tun bekamen, sei das anders gewesen, erinnert er sich.
Bernhard Häußler ist der zuständige Oberstaatsanwalt für politisch
motivierte Straftaten. Bundesweit wurde er bekannt, als seine
Staatsanwaltschaft in Stuttgart gegen Punks vorging, weil diese Aufnäher
mit durchgestrichenen Hakenkreuzen trugen: Nutzung verfassungsfeindlicher
Symbole warfen Häußlers Leute ihnen vor. In der Stadt hat Häußler viele
Feinde. Er sei ein Büttel des abgewählten Systems behaupten Demonstranten.
Wenn Bernhard Häußler den Gerichtssaal betritt, dann buhen die Leute ihn
aus. "Ich bin das mittlerweile gewöhnt", sagt er.
Die Popularisierung der Stuttgarter Justiz - viele können sich an diese
Selbstermächtigung kaum gewöhnen. "Beängstigend", sagt eine
Gerichtssekretärin, sei das, was da in letzter Zeit passiere. Auch, weil
der Protest gar nicht nur von jungen Leuten ausgehe, sondern von vielen
Älteren.
## Neue Herausforderung
Demonstrationsrecht? Klar. Sitzblockaden? Na logo. Aber was macht der
gesellschaftliche Konflikt um Stuttgart 21 mit der Justiz? Der neue
Minister dieses Ressorts, SPD-Mann Rainer Stickelberger, möchte dazu nichts
sagen. Die Justiz sei unabhängig, heißt es aus seinem Büro. Ist sie es denn
wirklich noch? Oder sorgt - im Gegenteil - vielleicht gerade das
wiederbelebte Interesse an der Rechtsprechung für eine kritische
Öffentlichkeit, für eine Demokratisierung der Justiz? Fragen, auf die ein
Minister, antworten können sollte.
"Die Öffentlichkeit ist ein wichtiges Instrument der Kontrolle", sagt
Staatsanwalt Häußler. "Normalerweise leidet die Justiz unter einem sehr
geringen Interesse der Öffentlichkeit." Hier in den Gerichtssälen aber,
sagt Häußler, sei sie inzwischen oft ein Instrument der Kommentierung
geworden. "Das ist bedenklich", stellt er fest. Und ein Lokalreporter wirft
ein: "Wenn das so weiter geht, dann können wir bald in TED-Umfragen klären
lassen, wer Recht bekommen soll."
Cecile Lecomte sieht das pragmatisch: "Solange sich die Richterin mit uns
beschäftigt, kann sie keine anderen verknacken." Ein Mann in Reihe zwei
sagt süffisant: "Wenn man doch eh schon bestraft wird, kann man es sich
wenigstens schön machen."
Er findet es prima, wie das hier vor Gericht in Stuttgart läuft. Morgens
noch nahm er an einer Sitzblockade teil. Am Mittag hat er am
baden-württembergischen Landtag demonstriert. Der ganze Nachmittag war für
Prozessprotest geblockt. Das ist jetzt ein Riesending hier.
26 May 2011
## AUTOREN
Martin Kaul
Martin Kaul
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Sitzblockade
Cécile Lecomte
Schwerpunkt Stuttgart 21
Schwerpunkt Stuttgart 21
Schwerpunkt Stuttgart 21
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