# taz.de -- Vor dem Grünen-Sonderparteitag: Die grüne Kernfrage | |
> Der grüne Kreisverband Lüchow-Dannenberg und die Anti-Atom-Bewegung | |
> wollen keinen Konsens. Ein Besuch im Wendland, dem Kernland des | |
> Widerstands. | |
Bild: Da war die Welt noch in Ordnung: Demonstration gegen Atomkraft zum Auftak… | |
LÜCHOW taz | Wären die Grünen eine Rockband, dann wäre so jemand wie | |
Martina Lammers wohl "ihr größter Fan". Im Flur ihres Einfamilienhauses in | |
Lüchow prangt eines der ersten Wahlplakate der Partei: "Demokratie braucht | |
Luft zum Atmen." | |
Im Bad hängt neben den Handtüchern, an einem grünen Band, eine grüne | |
Trillerpfeife: Man weiß ja nie. Sieben, acht Mal klingelt Lammers Telefon | |
an diesem Dienstagnachmittag. Immer geht es um die gemeinsame Fahrt nach | |
Berlin, zum Sonderparteitag am Samstag. Bis dahin müht sich die | |
Kreisvorsitzende im kleinen Lüchow-Dannenberg, genug Stimmen für ein Wunder | |
hinzubekommen. | |
Martina Lammers, 44 Jahre, eine kräftige Frau, halblange schwarze Haare, | |
trägt wieder ihren grauen Hosenanzug. Eine Allzweck-Frisur und | |
Allzweck-Kleidung, die zu fast jedem Anlass passen: zu ihrer Arbeit als | |
Lehrerin an einer Grundschule in einem nahe gelegenen Dorf; zum Werkeln in | |
ihrem Haus im 10.000-Einwohner-Städtchen Lüchow, wo noch drei ihrer vier | |
Kinder leben. Der Jüngste, 14 Jahre alt, kommt in die Küche und geht | |
schnell wieder. Auf der Rückseite seines grünen Hemds steht der Schriftzug | |
der Bäuerlichen Notgemeinschaft Lüchow-Dannenberg. Engagement gegen die | |
Atommülllagerung im nahen Gorleben, gegen das Zwischen- wie das geplante | |
Endlager, ist bei den Lammers Familiensache. | |
## Die Grünen sind nun mal keine Rockband | |
Deshalb nehmen Menschen wie Martina Lammers es persönlich, wenn ihre | |
Parteiführung im 250 Kilometer entfernten Berlin Ja zu Angela Merkels | |
Atomausstieg sagen will. Denn die Grünen sind nun mal keine Rockband. | |
Lammers mag zwar einer ihrer größten Fans sein, aber sie ist auch seit 13 | |
Jahren Grünen-Vorsitzende in Lüchow-Dannenberg. Im am dünnsten besiedelten | |
Landkreis der alten Bundesrepublik findet regelmäßig, wenn im Herbst die | |
Castor-Transporte kommen, seit mehr als drei Jahrzehnten die | |
Anti-Atom-Bewegung zusammen. | |
Ein Familientreffen von BUND, Campact, Attac, Nabu, Bürgerinitiative | |
Lüchow-Dannenberg, Bäuerlicher Notgemeinschaft, Gorlebener Gebet – und all | |
den anderen, die die Wut auf den Atommüll eint. Lammers hat sich deshalb | |
ganz genau angeschaut, wozu die Grünen auf ihrem Parteitag Ja sagen sollen. | |
Und deshalb wird sie mit Nein stimmen. | |
## Die Sorge um Gorleben | |
"Es wäre unehrlich, zuzustimmen", sagt Lammers in ihrer Küche. Die Sonne | |
scheint herein. Ihre Strahlen haben es doch noch durch die Wolkendecken | |
geschafft. Lammers zählt die Ungereimtheiten des Leitantrags des | |
Bundesvorstands auf, den die Partei abnicken soll: Erst kritisierten die | |
Grünen die mangelnde Sicherheit der AKWs – und sollen ihr jahrelanges | |
Weiterlaufen nun gutheißen? Gorleben werde nicht explizit herausgenommen | |
aus der Suche nach einem Endlagerstandort – dabei sei seine Nichteignung | |
nachgewiesen. Die Grünen hier fürchten, die erkundete Endlagerstätte werde | |
doch noch in Betrieb gehen, einfach weil sie allein existiert. Und warum | |
wollen die Grünen einem Ausstieg bis 2022 zustimmen? Sie selbst haben erst | |
vor kurzem für das Ausstiegsdatum 2017 votiert. | |
"Ich brauche den Konsens nicht unbedingt", sagt Lammers über die | |
Umarmungstaktik der Bundesregierung. "Die Rolle der Grünen ist es, | |
Schwachpunkte aufzuzeigen und zu mahnen." | |
Spielen die Grünen jetzt good cop, bad cop? Gibt die Parteiführung also die | |
Kompromissbereite, die entschuldigend auf die störrische Anti-AKW-Bewegung | |
verweist, um aus der Regierung weitere Zugeständnisse herauszukitzeln? Ach | |
was, sagt Lammers. "Aber wenn", ergänzt sie, "dann spiele ich gern das Bad | |
Girl." | |
Auf die nur rund 50 Grünen hier im Landkreis käme es nicht an, wäre dies | |
hier nicht das Wendland. Ein flacher Landstrich, der für soziale Bewegungen | |
und Grüne eine fast mythische Bedeutung gewonnen hat. Fraktionschefin | |
Renate Künast hat hier ein Feriendomizil, Parteichefin Claudia Roth und | |
Parteigeschäftsführerin Steffi Lemke machen bei Sitzblockaden mit. Das | |
Wendland verleiht Glaubwürdigkeit. Wer es sich als Grüner mit denen hier | |
verscherzt, hat ein Problem. | |
## Erstunterzeichnerin und Rednerin für die Globalalternative | |
Lammers Telefon klingelt wieder. "Ja, morgen um 17 Uhr ist die Demo gegen | |
die Abschiebung", sagt sie in ihr Handy. "Und du weißt, dass ich jetzt als | |
Erste unter dem Globalalternativantrag stehe?" Sie ist sichtlich stolz. Vor | |
wenigen Stunden hat Lammers erfahren: Noch vor dem populären Schlachtross | |
Hans-Christian Ströbele ist sie jetzt die Nummer eins unter den | |
Unterzeichnern des Antrages, der den Zustimmungskurs zu Fall bringen soll. | |
Deshalb wird sie auch die Rede halten beim Parteitag in Berlin. | |
"Mittlerweile glaube ich", sagt Lammers, "dass es eine Mehrheit gegen ein | |
Ja gibt." Es könnte am Samstag wieder einen historischen Aufstand der | |
Parteibasis geben, und die Wendländer wären mittendrin. | |
Sie muss los. Für den Abend hat sie eingeladen ins nahe gelegene Dorf | |
Gedelitz: eine Veranstaltung, bei der örtliche Grüne mit Vertretern der | |
Initiativen ins Gespräch kommen wollen. "Nehme ich den Grünen-Pulli fürs | |
Foto?", fragt sich Lammers laut beim Aufstehen. Sie entscheidet sich für | |
den grünen Schal. "Ohne wäre das jetzt irgendwie nicht …" | |
Auf der Fahrt von Lüchow nach Gedelitz geht es durch mehrere Dörfer. | |
Entlang der Straße stehen etliche restaurierte Backsteinhäuser. Auf Feldern | |
grasen Kühe, im Hintergrund drehen sich große Windräder. Hierher kamen seit | |
den 70ern viele Linke aus den westdeutschen Großstädten. Wegen der schönen | |
Aussicht. Wegen der Zonenrandförderung. Wegen der Nähe zur Transitstrecke | |
aus West-Berlin. Und wegen der Anti-Atom-Proteste. Ein Idyll mit vielen | |
großen gelben X aus Holzbrettern: dem Erkennungsmerkmal. | |
## "Rebecca" und "Trittin" | |
Am Abend in der einzigen Gaststätte des Dörfchens soll es um eine Frage | |
gehen: Welchen Atomausstieg wollen wir? "Wir" - dieses Wörtchen ist sehr | |
wichtig für die hiesigen Grünen. Denn dass sie sich dazu zählen dürfen, zum | |
Widerstand, das war lange Zeit nicht sicher. Nach dem rot-grünen | |
Atomausstieg im Jahr 2000 trat die gesamte, siebenköpfige Ratsfraktion der | |
Grünen aus Protest aus. Und mehr als die Hälfte der Parteimitglieder | |
verließ die Partei. Im Bund ließ sich die Partei für den damaligen | |
Kompromiss mit den Betreiberkonzernen feiern, hier aber gilt er bis heute | |
als Verrat. Claudia Roth nennen sie "die Claudia", die grüne | |
Europaabgeordnete Rebecca Harms, eine von hier, ist "Rebecca". Jürgen | |
Trittin aber, der den damaligen Konsens als Bundesumweltminister | |
verantwortete, heißt hier bis heute nur "Trittin". | |
Wenige sind gekommen zum Treffen ins alte Gasthaus Wiese. Während der | |
Castor-Transporte ist hier immer volle Bude. Heute spielen ein paar alte | |
Herren lautstark Karten, während im Saal nebenan auf knarzigen Dielen und | |
an Holztischen 20 Engagierte tagen. Männer und Frauen in legerer Kleidung, | |
vor allem Ältere. Man kennt sich, man duzt sich. Lammers leitet die Sitzung | |
vom Kopfende. Schnell sind sich alle einig: Die hiesigen Grünen müssen | |
Front machen gegen eine Zustimmung zum Leitantrag des Bundesvorstands. | |
Lammers nickt immer wieder. Ganz ihre Meinung. | |
Am Tisch sitzt auch eine kleine, alte Frau. Ihre dicke graubraune Wolljacke | |
wirkt wie eine bequeme Panzerung. Mit fester Stimme sagt sie: "Wenn die | |
Grünen uns jetzt verraten, dann sind sie auch verraten." Schließlich seien | |
in seltener Einmütigkeit etliche Verbände gegen den schwarz-gelben | |
Atomausstieg: Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW), Campact, BUND, Nabu und so | |
weiter. Jeder hier kennt die resolute Rednerin: Marianne Fritzen, 87 Jahre. | |
Auf dem alten Grünen-Wahlplakat in Lammers Haus ist sie zu sehen: eine | |
kleine, skeptisch blickende Frau vor einer Reihe Polizisten in Gorleben. 32 | |
Jahre ist das her. 2000 verließ Fritzen wegen des Atomkonsenses die Partei. | |
Damals kam Minister Trittin extra aus Berlin angefahren, um die Gründe für | |
ihren Austritt zu hören. Sie hat diesen Schritt bis heute nicht bereut, | |
sagt sie. | |
## Einer ist sauer | |
Nur einer stört das Idyll der Gleichgesinnten. Jürgen Stolp, etwa Mitte 50, | |
will sich für seine Grünen-Mitgliedschaft nicht des Verrats bezichtigen | |
lassen. Auch nicht von Fritzen, der Galionsfigur des Widerstands. Ja, sagt | |
er laut, 2001 sei er beinahe aus der Partei ausgetreten und auch aus der | |
Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg. Aber er habe es sich nicht so einfach | |
gemacht. Kompromisse seien schwer, aber jemand müsse sie nun mal schließen. | |
Stolp ist sauer. | |
Am Rand sitzt Wolf-Rüdiger Marunde. Der Cartoonist mit dem vollen | |
schwarzgrauen Haar ist eines der wenigen Nichtparteimitglieder am Tisch, er | |
ist Mitglied der Bäuerlichen Notgemeinschaft. Mit ruhiger Stimme sagt der | |
57-Jährige in die Runde: "Wenn ihr dem zustimmt aus strategischen Gründen, | |
dann seid ihr nicht mehr meine Freunde." Lachen am Tisch, dabei sind | |
Marundes Worte ernst gemeint. Die Runde geht nach zwei Stunden auseinander. | |
Die Sonne ist noch immer nicht untergegangen. Stolp und Marunde – das | |
Parteimitglied und der Mann aus der Bewegung – treffen kurz aufeinander. | |
Marunde lächelt und sagt: "Na, du Verräter?" | |
23 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Matthias Lohre | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Atomkraft | |
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