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# taz.de -- Bundestag beschließt Atomausstieg: Das nationale Gemeinschaftswerk
> Im Bundestag wird ein historischer Beschluss gefasst: Als erste
> Industrienation der Welt will Deutschland alle Atomkraftwerke abschalten.
> Ein Ortstermin im politischen Berlin.
Bild: Sie waren da, doch sie waren wenige: Atomkraftgegner vor dem Reichstag.
BERLIN taz | Drei Dutzend Atomkraftgegner haben sich vor der Wiese am
Reichstag aufgebaut, sie halten giftig gelbe Schilder hoch, auf denen Namen
wie Brokdorf durchgestrichen sind, dazu tutet traurig ein Alphornbläser.
"Dieser Ausstieg ist ein halber Ausstieg", ruft Christoph Bautz von der
Initative Campact durch sein Megafon. "Ab-schal-ten", stimmen die anderen
ein, es klingt dünn und verloren im weiten Regierungsviertel.
Ein letztes Aufbegehren, das ungehört bleibt. Ein paar hundert Meter
weiter, im Plenarsaal des Bundestags, wird an diesem Donnerstag ein
historischer Beschluss gefasst: Deutschland schaltet als erste
Industrienation der Welt schrittweise alle Atomkraftwerke bis 2022 ab.
Nach der Katastrophe in Fukushima haben Union und FDP unter Kanzlerin
Angela Merkel ihr jahrzehntelanges Festhalten an dieser irrationalen
Energieform aufgegeben und die Laufzeitverlängerung, die sie noch im Herbst
beschlossen hatten, wieder zurückgenommen. Eine große Koalition aus Union,
FDP, SPD und Grünen stimmte für den Atomausstieg.
## Röttgen gehört zu den Gewinnern
Im Plenarsaal sind es nur noch wenige Sekunden, bis der Gong ertönt und der
Parlamentspräsident die Sitzung eröffnet. Norbert Röttgen plaudert gut
gelaunt in der Kabinettsbank, es ist der Tag des smarten Umweltministers.
Röttgen war damals gegen die Laufzeitverlängerung und wurde dafür in der
Union verspottet. Jetzt ist er ein Gewinner.
Röttgen legt sich am Rednerpult ins Zeug, er federt auf und ab. "Dieser
Ausstieg ist ein nationales Gemeinschaftswerk", ruft er. Da gehe es nicht
um kleinliche Rechthaberei, sondern um ein Signal an die Bevölkerung. Als
er betont, die Koalition habe diesen Prozess angeführt, geht ein Aufschrei
durch die Reihen der Opposition.
Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin wendet Röttgen die linke Schulter zu,
seine Kollegin Renate Künast flüstert mit ihrem Hintermann, Fraktionsvize
Bärbel Höhn hat sich einen Anti-AKW-Anstecker ans Revers geheftet. Bloß
keine Sympathie zeigen. Die Grünen wollen verhindern, dass die Koalition
den Ausstieg für sich vereinnahmt.
Ein Grünen-Parteitag hatte am Wochenende für ein Ja zum Ausstieg votiert.
Die Fraktionsspitze beruft am frühen Morgen extra noch eine Sondersitzung
ein, eine knappe Stunde diskutieren die Abgeordneten ihr
Abstimmungsverhalten. "Eine ruhige und lockere Sitzung", sagt ein
Teilnehmer. "Es gab keinen Versuch mehr, die Stimmung zu drehen." Am Ende
stimmt die Fraktion fast geschlossen für die von Schwarz-Gelb
vorgeschlagene Änderung, nur sechs Abgeordnete enthalten sich. Vom grünen
Widerstandsgeist bleibt nichts übrig.
## "Es ist ein großer Schritt"
Dann geht Renate Künast mit schnellen Schritten ans Mikrofon. Sie
verzichtet auf Häme an die Adresse der Koalition, stattdessen stellte sie
den Sieg der Anti-AKW-Bewegung heraus. "Dies ist der Zeitpunkt, um den
Menschen zu danken, die 30 Jahre gegen Atomkraft gekämpft und dafür
teilweise kriminalisiert wurden." Künast erzählte von Biobauern,
Winzerinnen und Mütterinitiativen, die auf die Straße gegangen seien. "All
denen gehört der heutige Tag. Auch wenn viele nicht zufrieden sind, ist er
ein großer Schritt." Die Menschen in Deutschland wollten die Energiewende,
betonte Künast. "Wir sind noch lange nicht fertig, sondern fangen gerade
erst an."
Von den Menschen war viel die Rede im Plenarsaal. Schulklassen und Besucher
sitzen dicht gedrängt auf Besucherplätzen, ein Junge ganz vorn dämmert, den
Kopf auf die Hand gestützt, vor sich hin, sein Freund starrt blicklos auf
den Bundesadler.
Angela Costa besichtigt mit ihrer Tochter die Kuppel des Reichstages. Dass
unter ihr die entscheidende Debatte stattfindet, hat die Lehrerin aus
Hessen nicht präsent, das Thema jedoch sehr wohl. Costa stört, dass die
immensen Kosten für Atommüll-Endlagerung und -Transporte nicht von den
Konzernen, sondern der Allgemeinheit übernommen werden. "Jeder andere
Unternehmer muss für Schäden aufkommen, die er in der Umwelt verursacht."
Sie hätte einen Ausstieg 2017 vorgezogen.
Auch Winfried Großmann findet das Datum 2022 zu spät. Er ist mit seiner
Familie eine Woche auf Berlin-Urlaub, sie leben im Saarland, das
französische AKW Cattenom liegt nur 60 Kilometer weit weg. "Wenn da etwas
passiert, sind wir mit dabei", sagt er mit leichter Ironie.
SPD-Chef Sigmar Gabriel nutzt seinen Redebeitrag zu einer Generalabrechnung
mit der Regierung. Während SPD und Grüne aus Überzeugung dem Atomausstieg
zustimmten, triebe Merkel "der blanke Opportunismus." Die Kanzlerin erlebe
ihr "energiepolitisches Waterloo", wettert Gabriel. Abgeordnete von SPD und
Grünen johlen, Merkel blättert mit unbewegter Miene in ihren Papieren.
Um 13.20 Uhr ist es so weit: Das Ergebnis der Abstimmung steht fest.
Draußen ist der Platz vor der Wiese verwaist. Die Atomkraftgegner sind
schon wieder gefahren.
30 Jun 2011
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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Schwerpunkt Atomkraft
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