# taz.de -- Übergangsratsmitglied über libyschen Staat: "Gaddafi hat nichts h… | |
> Noch immer kämpfen Rebellen gegen Gaddafi-Anhänger. Doch der Aufbau der | |
> Zivilgesellschaft hat längst begonnen, meint Fatih Baja, Mitglied des | |
> Übergangsrates. | |
Bild: Rebellen mit Waffen gehören zum Straßenbild in Tripolis noch dazu - abe… | |
taz: Herr Baja, Libyen stehen große Aufgaben bevor. Das komplette | |
Staatsgebilde muss neu aufgebaut werden. Wie soll der neue libysche Staat | |
aussehen? | |
Fatih Mohammed Baja: Bereits in den letzten sechs Monaten konnten wir | |
feststellen, dass sich nach und nach eine Zivilgesellschaft herausbildet. | |
Im Osten Libyens haben wir schon mehr als dreihundert Gruppierungen aus | |
verschiedenen Bereichen. Die meisten wurden von jungen Menschen und von | |
Frauen gegründet. Manche sind politischer oder rechtlicher Natur. Andere | |
befassen sich mit Umweltthemen oder sind wohltätig orientiert. Außerdem | |
haben wir bereits etwa sechs Parteien, die gerade im Entstehen begriffen | |
sind. Natürlich brauchen Parteien einige Zeit, um zu wachsen und eine | |
gewisse Reife zu erlangen. Das wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. | |
Aber die Grundsteine sind bereits gelegt. | |
Welchen Zeitplan streben Sie an? | |
Wir haben eine Roadmap entwickelt, um die Zeit zwischen der vollständigen | |
Befreiung Libyens und dem modernen libyschen Staat zu überbrücken. Unser | |
Zeitplan ist auf vierzehn bis achtzehn Monate ausgelegt. Zuerst brauchen | |
wir eine Übergangsregierung für ganz Libyen. Das ist am wichtigsten und | |
muss innerhalb von drei Wochen nach der Befreiung des Landes geschehen. | |
Danach beginnen wir damit, die ersten Wahlen Libyens zu organisieren. Dazu | |
berufen wir eine nationale Generalversammlung ein. Diese Generalversammlung | |
ist wie ein Parlament, das aus 200 Libyern besteht und ganz Libyen | |
repräsentiert. | |
Welche Verfassung schwebt Ihnen vor? | |
Wir wollen einen demokratischen Staat, so viel ist sicher. Das heißt, es | |
wird keine Militärregierung geben und auch keinen Gottesstaat oder einen | |
Staat, der auf Stammes- und Clanstrukturen basiert. Letztlich wird das Volk | |
darüber entscheiden, aber wir streben eine Präsidentialrepublik an. | |
Welche Rolle spielen die Clanstrukturen in Libyen? | |
Die Stämme fungieren als sozialer Überbau, aber sie sind politisch gesehen | |
nicht sehr stark und werden in einem demokratischen Staat keine Rolle | |
spielen. Wir wollen eine integrative Gesellschaft. Die Zivilgesellschaft | |
und die Parteien sollen das Fundament des Staates sein. Uns ist sehr | |
wichtig, dass Libyen eine pluralistische Gesellschaft sein wird. | |
Wie stellen Sie sich Libyens künftige Außenpolitik vor? | |
Wir wollen gute Beziehungen zu unseren Nachbarstaaten unterhalten. Wir | |
wollen Projekte zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf den Weg bringen. | |
Wir müssen die Wirtschaft unseres Landes aufbauen, und dazu brauchen wir | |
ausländische Arbeitskräfte und die Erfahrung unserer Nachbarn. Libyen | |
gehört auch der Mittelmeerregion an. Auch hier streben wir gute Beziehungen | |
an. Außerdem lehnen wir den Terrorismus ab, ebenso wie Gewalt im | |
Allgemeinen. Und wir werden jedes Volk unterstützen, das danach strebt, | |
sich von einer Diktatur zu befreien, und das für Menschenrechte kämpft. | |
Nach 40 Jahren unter Gaddafi kennen wir die Diktatur sehr genau. | |
Nach der Revolution verfügt die Bevölkerung über unzählige Waffen. Wie | |
werden Sie mit diesem Problem umgehen? | |
Auch dafür haben wir bereits einen Plan erarbeitet. Allerdings müssen wir | |
warten, bis die Befreiung Libyens abgeschlossen ist. Derzeit können wir | |
noch nicht für Sicherheit garantieren. Ist die Befreiung jedoch | |
abgeschlossen, werden wir die Menschen bitten, uns ihre Waffen friedlich | |
auszuhändigen. Natürlich wird es Menschen geben, die das verweigern. | |
Deshalb werden wir auch Waffen aufkaufen müssen. Ich denke, das werden wir | |
unter Kontrolle bekommen. Was schwere und mittelschwere Waffen betrifft, | |
haben wir diese bereits an den Frontlinien konzentriert. Sobald wir alle | |
Städte erobert haben, müssen wir die Städte von Waffen bereinigen und diese | |
zu den Militärbasen bringen. | |
Experten befürchten, dass das Volk an den Mitarbeitern und Spitzeln des | |
alten Regimes Rache nehmen könnte. Wie wollen Sie das verhindern? | |
Wir wollen eine Übergangsjustiz schaffen. Unser wichtigster Grundsatz ist, | |
dass Libyen ein Staat für alle Libyer sein soll. Sie alle sollen an dem | |
zukünftigen Staat teilhaben. Davon ausgeschlossen sind jedoch zwei Gruppen, | |
die wir vor Gericht stellen werden. Das sind einmal diejenigen, an deren | |
Händen Blut klebt und die sich an Tötungen und Kriegsverbrechen beteiligt | |
haben. Die andere Gruppe sind diejenigen, die unter Gaddafi dem | |
öffentlichem Wohl geschadet haben, indem sie sich selbst bereicherten. Sie | |
werden wir vor Gericht stellen, und wenn ein Gericht darüber befindet, dass | |
sie unschuldig sind, dann werden sie Libyer. | |
Unter den Rebellen sind auch Islamisten. Welchen Einfluss werden sie auf | |
den künftigen Staat haben? | |
Die Menschen, die an der Revolution von Beginn an beteiligt waren, sind | |
sehr gemischt. Wir haben moderate Muslime, und wir haben Extremisten. Die | |
Extremisten sind bislang nicht Teil der politischen Struktur. Sie sind | |
nicht im Nationalen Übergangsrat vertreten. Jedoch gibt es sie unter den | |
Rebellen auf der Straße. Aber auch dort sind sie eine Minderheit. Was die | |
Muslimbrüder betrifft, so kann ich sagen, dass sich diese geändert haben | |
und moderater geworden sind. Wenn man den Aussagen ihrer Führung Glauben | |
schenken kann, dann wollen auch sie einen demokratischen Staat. Der | |
Großteil der Rebellen ist jedoch liberal und demokratisch. Und ich denke, | |
es werden diese Menschen sein, die das Fundament des neuen Staates bilden. | |
Die Nato hat Sie in der Revolution tatkräftig unterstützt. Welche | |
Verpflichtungen haben Sie nun gegenüber den Staaten, die sich am Einsatz | |
beteiligt haben? | |
Bis jetzt hat die Nato uns um nichts gebeten. Allerdings stimmt es, dass | |
wir mit Frankreich und Italien ein Memorandum unterzeichnet haben. Dabei | |
handelt es sich jedoch nicht um einen Wirtschaftsdeal. Darin haben wir nur | |
deutlich gemacht, dass uns diese beiden Staaten von Anfang an zur Seite | |
standen. Aber diese Staaten haben für uns einen gewisse Priorität. | |
Frankreich und Italien haben wirtschaftliche Interessen in Libyen. Wir | |
haben bereits gesagt, dass wir jegliches Investment in Libyen tolerieren | |
und diesen Schutz gewähren. Wir haben bisher keine Verträge unterzeichnet, | |
aber natürlich möchten wir unseren Verbündeten im Gegenzug die Möglichkeit | |
geben, in Libyen zu investieren. | |
Wie lange soll die Nato in Libyen aktiv sein? | |
Es waren stets wir, die die Nato baten, ihren Einsatz zu verlängern. Denn | |
das Mächtegleichgewicht ist noch nicht auf unserer Seite. Wenn die | |
Befreiung aber abgeschlossen ist und wir sicher sein können, dass sich | |
Gaddafi nicht mehr in Libyen befindet, werden wir die Nato bitten zu gehen. | |
15 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Marlene Halser | |
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