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# taz.de -- Verschwundene in Libyen: Auf der Suche nach Mohammed
> Mehrere Tausend Personen sind während der Kämpfe in Libyen verschwunden.
> In Tripolis suchen verzweifelte Angehörige nach ihren Söhnen und Brüdern.
Bild: Quälende Ungewissheit: Auf libyschen Friedhöfen liegen viele unbekannte…
TRIPOLIS taz | Wie so oft am Donnerstag verließ Mohammed Bel Kassem Amar
auch am 18. August das Haus. Das Wochenende hatte begonnen, und er wollte
sich mit seinem besten Freund ein wenig vergnügen. Dass an diesem Abend der
Kampf um Tripolis beginnen würde, konnten die beiden Studenten nicht ahnen.
Sein Sohn habe mit Politik nichts am Hut gehabt, sagt der Vater im
Gespräch. "Das einzige, was ihn interessierte, waren sein Computer und
Fußball."
Gemeinsam fuhren die beiden Freunde ins Zentrum der libyschen Hauptstadt.
Was dann geschah, weiß Bel Kassem Amar nicht. Als die Nacht hereinbrach,
konnte er wilde Schießereien hören. Als die Kämpfe abflauten, machte sich
Amar auf die Suche nach seinem Sohn. Schließlich fand er den schwer
verletzten Freund von Mohammed. Männer in zivil hätten auf sie geschossen,
erzählte er ihm. Seinen Sohn hätten die Angreifer aus dem Wagen gezerrt und
mit einem gezielten Schuss regelrecht hingerichtet.
Seitdem hat Amar in sämtlichen Krankenhäusern und Leichenhallen der Stadt
nach seinem Sohn gesucht. In den ersten Tagen nach dem Sieg über Gaddafi
herrschten in der Hauptstadt teils chaotische Zustände. Leichen lagen auf
den Straßen, in den Kliniken stapelten sich die Toten am Boden. Überwältigt
von dem Anblick und dem Geruch habe er nach wenigen Sekunden kehrt gemacht,
sagt Amar.
Mehrere Tausend Personen, vor allem Männer, sind seit Beginn des Kriegs in
Libyen vor sechs Monaten verschwunden. Nach Angaben des
Gesundheitsministers der Rebellenregierung, Naji Barakat, hat der Krieg
bislang 30.000 Tote gefordert. Häufig wurden sie ein aller Eile in
bestattet, manche waren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Allein in
Tripolis wurden Hunderte von Leichen provisorisch beigesetzt. Bei fast 400
getöteten Männern, die in beiden grössten Krankenhäusern der Hauptstadt
eingeliefert wurden, konnte man die Identität nicht feststellen.
Überall in Tripolis hängen kopierte Zettel an Hauswänden und Säulen, auf
denen Angehörige nach Hinweisen auf Vermisste bitten. Die Verschwundenen
sind eine der schwersten Erblasten eines Kriegs. Für die Angehörigen
bedeuten sie eine offene Wunde, die die Familie vor eine Zerreißprobe
stellen. In Ländern mit einer schwachen Gerichtsbarkeit können sie
Racheakte provozieren, die den Transformationsprozess zusätzlich
erschweren.
## Dokumentation der Todesursache
Um die Behörden, aber auch die Angehörigen zu unterstützen, hat das
Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) deshalb forensische Experten
nach Libyen entsandt. Die Experten würden Geistliche und Ärzte in der
Dokumentation der sterblichen Überreste schulen, sagt die Leiter der
Kommunikationsabteilung, Suaade Messoudi, im Gespräch. Vor der Bestattung
sollten Aufnahmen gemacht werden, mit denen sich die Todesursache möglichst
genau nachvollziehen lasse. Darüber hinaus gelte es, Hinweise auf die
Identität des Toten zusammenzutragen.
Für das IKRK gehe es nicht darum, rechtskräftige Beweise auf mögliche
Verbrechen gegen das humanitäre Völkerrecht zu sammeln, schon gar nicht für
die Klage gegen Gaddafi und weitere Personen vor dem Internationalen
Strafgerichtshof, betont Messoudi: "Wir erfüllen einen rein humanitären
Auftrag." Aufgabe des IKRK sei es, den Angehörigen die schwierige Suche zu
erleichtern. Deshalb hat die Organisation mit dem Aufbau einer Datenbank
begonnen. Allein für die Städte Benghazi und Misrata hat das IKRK nach
Auskunft von Messoudi bereits 1.500 Vermisste erfasst.
Nicht jeder Verschwundene ist tot. Die Rebellen halten in Tripolis mehrere
Hundert Personen gefangen. Das IKRK bemüht sich deshalb auch um einen
Zugang zu den Gefängnissen. Vor wenigen Tagen habe man 135 Gefangenen ein
Telefongespräch mit ihren Familien ermöglicht, sagt Messoudi.
Für Bel Kassem Amar hält die Ungewissheit weiter an. Jeden Tag kommt er zum
Zentralkrankenhaus von Tripoli. Mit versteinerter Mine starrt er auf das
kleine Passbild von seinem Sohn, das er in der Eingangshalle aufgehängt
hat. Es zeigt einen jungen Mann mit runden Wangen und kurzem
Mecki-Haarschnitt. Die Wand ist mit Bildern von 80 Männern bedeckt. Bisher
haben die Ärzte 500 Vermissten-Gesuche registriert. Über die Kopie eines
Fotos von zwei Brüdern hat jemand eine Stoffrose geklebt. "Er war so ein
sorgloser Junge", sagt Amar. "Warum haben sie uns das angetan?"
13 Sep 2011
## AUTOREN
Inga Rogg
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