# taz.de -- Umbruch in Libyen: Fehler sind jetzt noch ganz normal | |
> Verschiedene Rebellenverbände fordern den Chef des libyschen Exekutivrats | |
> heraus. Sie weigern sich, ihre Kämpfer seiner Befehlsgewalt zu | |
> unterstellen. | |
Bild: Zeit der Veränderung: Als erstes Land seit Beginn des arabischen Frühli… | |
TRIPOLIS taz | Wenn es mit der Disziplin und der Handhabung von Waffen | |
künftig genauso gut klappt wie dem Brüllen von Parolen und dem Singen | |
revolutionärer Lieder, kann der Brigadegeneral Mahfud Lazimi zufrieden | |
sein. | |
Auf einem staubigen Platz auf dem Flughafen Mitiga östlich von Tripolis | |
sind 500 Männer zu ihrem ersten Training aufmarschiert. "Alle Libyer sind | |
Brüder. Wir bilden eine nationale Einheit", singen sie. Dazu klatschen sie | |
im Rhythmus. "Gaddafi, du bist am Ende", donnert donnert der Schlachtruf | |
wie aus einer Kehle. "Libyen ist frei!" | |
Die Männer sollen nach den Plänen des Übergangsrats Teil der künftigen | |
Armee werden. Militäruniformen haben sie noch keine. Einige tragen zwar | |
Uniformhosen, die meisten sind jedoch in Trainingshosen oder Jeans und | |
T-Shirts oder Hemd angetreten. Manche sind so jung, dass ihnen der Bart | |
erst in Ansätzen wächst, bei anderen ziehen sich erste Silberstreifen durch | |
das Haar. Kriegserfahrung haben sie fast alle. | |
Die meisten haben in den vergangenen Monaten als Freiwillige gegen das | |
Regime von Muammar al-Gaddafi gekämpft. An Eifer, die Sache der Revolution | |
zu verteidigen, mangelt es ihnen nicht. Doch nun geht es für Brigadegeneral | |
Lazimi darum, aus dem wilden Haufen eine diziplinierte Truppe zu bilden. | |
Lazimi hat mehr als zwanzig Jahre in der libyschen Armee gedient. Als er | |
vor vier Monaten jedoch den Befehl erhielt, den Aufstand im Nordwesten des | |
Landes niederzuschlagen, setzte er sich ab. Er kämpfe nicht gegen Libyer, | |
sagt Lazimi. Etwa vierzig Offiziere aus seiner Einheit hätten den Befehl | |
verweigert und seien desertiert. Lazimi floh nach Tunesien und kehrte | |
später zurück, um sich den Rebellen anzuschließen. Auf die Erfahrung von | |
Offizieren wie ihn setzt der Nationale Übergangsrat, um Ordnung in die | |
Reihen der Rebellen zu bringen. Einfach wird das nicht. | |
Rebellenverbände aus Misurata und um Bengasi fordern offen die Autorität | |
von Mahmud Dschibril, dem Chef der Exekutive, heraus. Dschibril habe in den | |
letzten Monaten mehr Zeit im Ausland verbracht als in Libyen, lautet ein | |
Vorwurf. Zudem habe er bei der Verteilung der Finanzspritzen an die | |
Rebellen Misurata, das durch die wochenlange Belagerung der Gaddafi-Truppen | |
teilweise zerstört ist, benachteiligt. | |
## "Extremer Säkularist" | |
Der Chef des Militärrats von Tripolis, Abdul Hakim Bel Haj, weigert sich, | |
seine Kämpfer der zivilen Befehlsgewalt von Dschibril zu unterstellen. Der | |
Afghanistanveteran, der mehrere Jahre im Gefängnis saß, war bis zur ihrer | |
Auflösung vor zwei Jahren Chef der extremistischen Libyschen Islamischen | |
Kampfgruppe. Heute gibt sich Bel Haj zwar gemäßigt, doch säkulare Politiker | |
wie Dschibril, der in Amerika studiert hat, sind ihm ein Dorn im Auge. | |
Islamisten haben inzwischen eine regelrechte Kampagne zur Absetzung des | |
"Ministerpräsidenten" gestartet. Ein bekannter Geistlicher hat ihn einen | |
"extremen Säkularisten" genannt, der sich bereichere und Libyen in eine | |
Diktatur schlimmer als unter Gaddafi führe. | |
Fathi Nashnush hält die Vorwürfe für völlig überzogen. Dschibril sei ein | |
integrer Mann, der viel für Libyen getan habe, sagt Nashnush. Man dürfe den | |
Konflikt aber auch nicht überbewerten. Die Rebellen haben in den letzen | |
Monaten in einzelnen Verbänden ohne gemeinsames Oberkommando gekämpft. | |
Jetzt geht es darum, sie zusammenzuführen. "Fehler und Reibereien" seien in | |
diesem Prozess normal, sagt Nashnush. | |
Nashnush hat derzeit einen der wohl wichtigsten Posten in Tripolis. Der | |
51-Jährige mit dem graumelierten Bart, der in Deutschland Fernmeldetechnik | |
studierte, ist der Sicherheitschef des Flughafens von Mitiga. Der ehemalige | |
Militärflughafen ist eine der wichtigsten Lebensadern zur Außenwelt. Es | |
gibt mittlerweile regelmäßige Linienflüge nach Bengasi, dem Sitz des | |
Übergangsrats. Hier treffen ausländische Staatsgäste und die Hilfen für die | |
Rebellen ein. | |
Sowohl Nashnush und Brigadegeneral Lazimi wollen nicht nur in zivilen, | |
sondern auch in Militärfragen eine enge Kooperation mit dem Westen. "Wir | |
wollen eine moderne Armee mit westlichem Know-how", sagt Nashnush. Die | |
bisherige Armee soll aufgelöst und neu aufgebaut werden, nur die Soldaten | |
und Offiziere, die sich auf die Seite der Revolutionäre geschlagen haben, | |
will man übernehmen. | |
## Drohung per SMS | |
Damit wäre Libyen das erste Land, das seit Beginn der arabischen Revolte | |
bei der Armee auf einen kompletten Neuanfang setzt. Dass man damit den | |
Nährboden für eine Aufstandsbewegung wie seinerzeit im Irak schafft, | |
schließt Nashnush aus. Die Auflösung der Streitkräfte gilt heute weithin | |
als einer der größten Fehler der Amerikaner im Irak. | |
Da Libyen religiös wie ethnisch viel homogener sei, lasse sich Libyen nicht | |
mit dem Irak vergleichen, sagt Nashnush. Wie die Saddam-Gegner im Irak | |
sehen die libyschen Revolutionäre im alten Sicherheitsapparat und besonders | |
in Gaddafis Eliteeinheiten eine der größten Gefahren für den Umbau des | |
Landes. | |
Noch ist der Aufbau der neuen libyschen Armee Zukunftsmusik. Das Nahziel | |
ist erst einmal, sämtliche Rebellengruppen unter Kontrolle zu bringen. | |
Einige nehmen nämlich das Recht in ihre eigene Hand. Auf einem Platz im | |
Nordosten der Hauptstadt bricht ein Trupp die Geschäftsniederlassung von | |
Juma Maarif, einem Gaddafi-Getreuen auf. Stapelweise schleppen sie | |
Aktenordner hinaus und laden sie auf einen Pritschenwagen. Nachfragen und | |
Fotos wehren sie ungehalten ab. | |
Erst als sie ein Bild von Gaddafi in eine Mülltonne stopfen, lassen sie | |
sich in Siegerpose bereitwillig fotografieren. Der Überfall ist kein | |
Einzelfall. In einer SMS an alle Mobiltelefonbesitzer hat der Übergangsrat | |
mittlerweile mit Strafen gedroht. Ob dies die Geburtswehen der Revolution | |
sind, wie Nashnush glaubt, bleibt abzuwarten. | |
## "Libya, Libya!" | |
Einheiten wie die Revolutionsbrigade Suk al-Juma, benannt nach einem Vorort | |
von Tripolis, die am Flughafen trainiert, sollen künftig für die Sicherheit | |
der Hauptstadt zuständig sein. Für die Entwaffnung der Rebellenverbände sei | |
es aber noch zu früh, sagt Nashnush. Im Dreieck zwischen Bani Walid, Sabha | |
und Sirte dauert der Kampf gegen das Regime an. Solange dieser nicht | |
gewonnen ist, fürchtet man auch in Tripolis Gegenschlägen von Loyalisten. | |
Derweil trainieren die Rekruten auf dem Asphaltplatz die Aufstellung in | |
Reih und Glied. Das funktioniert noch nicht ganz, aber es ist ja auch erst | |
der Anfang. Immerhin das Brüllen wie aus einem Mund klappt schon ziemlich | |
gut. "Libya, Libya!", donnert es über den Platz. Die Brigade soll auf eine | |
Truppenstärke von rund 2.000 Mann wachsen. | |
In anderen Regionen sind ähnliche Brigaden im Aufbau. Dabei haben sich alle | |
Seiten darauf geeinigt, dass die neuen Militäreinheiten sowie die Rebellen | |
nicht der Exekutive um Dschibril, sondern dem Übergangsrat unter Führung | |
von Mustafa Abdeldschalil unterstehen. Noch wagt es keiner der | |
Kommandanten, sich dem populären Politiker zu widersetzen. Auch Abdul Hakim | |
Bel Haj nicht. | |
20 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Inga Rogg | |
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