| # taz.de -- Fanprojektleiter über Gewalt: "Man muss den Ultras vertrauen" | |
| > Matthias Stein, Leiter des Fanprojektes in Jena, über den repressiven | |
| > Kurs von Fußball-Funktionären und Polizei. Er warnt vor einer Eskalation | |
| > der Gewalt. | |
| Bild: Es wird Hysterie verbreitet: Fans von Dynamo Dresden beim DFB-Pokalspiel … | |
| taz: Herr Stein, derzeit wird heiß über das Gefahrenpotenzial der | |
| Ultra-Fanszene diskutiert. Wie schlimm ist die Lage wirklich? Und fühlen | |
| Sie sich persönlich diffamiert? | |
| Matthias Stein: Mann muss hier unterscheiden zwischen den Fanprojekten und | |
| ihrer Klientel, die aktuell überwiegend aus Ultra-Gruppierungen besteht. | |
| Ich fühle mich als Fanprojektleiter natürlich nicht diffamiert, aber die | |
| Ultras schon. | |
| Warum? | |
| Aus unserer Insider-Sicht wird gerade eine ziemliche Hysterie verbreitet. | |
| Die Ereignisse am Rande der Pokalspiele liefern nur den scheinbaren Beweis | |
| für eine umfassende Gewaltbereitschaft der Ultra-Szene. | |
| Das sehen Sie anders? | |
| Man kann nicht abstreiten, dass es in der Szene eine gewisse Affinität zur | |
| Gewalt gibt. Das ist aber aus Sicht der Fanprojekte nicht das bestimmende | |
| Element. Im Vordergrund steht bei den Ultras ganz klar die Unterstützung | |
| des eigenen Vereins. Gewalt ist nicht der dominierende Aspekt. Die meisten | |
| Gruppierungen würden auch gern ohne Gewalt auskommen. Im Moment werden die | |
| positiven Aspekte der Ultras fast komplett ausgeblendet. Dass Ultras zum | |
| Beispiel die Träger der Fankultur sind. Je länger diese unselige Diskussion | |
| dauert, desto stärker beobachten wir bei den Jugendlichen so etwas wie | |
| einen negativen Lerneffekt. | |
| Was meinen Sie damit? | |
| Die vielen guten Sachen, also die karitativen und antirassistischen | |
| Aktionen, die tollen Choreografien werden viel weniger beachtet als die | |
| Bilder von Dortmund, wo man sieht, dass etwas "passiert". Und wenn etwas | |
| passiert, dann sind die Medien da. Das heißt: Öffentliche Aufmerksamkeit | |
| bekomme ich nicht, wenn ich was Positives mache, sondern wenn es "Randale" | |
| gibt. Diesen Kreislauf müssen wir durchbrechen. | |
| Und wie? | |
| Schalke ist für mich ein Beispiel. Wenn der Ex-Schalker Manuel Neuer mit | |
| unfreundlichen Plakaten im Stadion begrüßt wird, dann bedeutet das für | |
| manche Medien den Untergang des Abendlandes. Aber dass diese Schalker | |
| Ultras Geld für eine Kinderklinik sammeln und Plätzchen backen für einen | |
| Stand auf dem Weihnachtsmarkt, wird kaum erwähnt. So etwas passt nicht ins | |
| Bild. | |
| Hat sich nicht trotzdem die Ultra-Szene mit den Jahren radikalisiert? | |
| Es hat in den letzten fünf, sechs Jahren so eine Entwicklung gegeben. Davor | |
| haben haben die Fanprojekte gewarnt, auch Sozialwissenschaftler. | |
| Fanforscher Gunter Pilz hat in der November-Ausgabe 2005 der Zeitschrift | |
| Unsere Polizei der Polizeigewerkschaft vor dieser Entwicklung gewarnt. Wenn | |
| wir nicht die kreativen Kräfte in der Fanszene stärken, sondern vermehrt | |
| auf Druck setzen, dann käme es zu Problemen. Und was ist passiert in diesen | |
| sechs Jahren? | |
| Sagen Sie es uns! | |
| Verbote, Verbote, Verbote. Sogar die Länge einer Fahnenstange wird | |
| reglementiert. Viele Dinge, die die Fans ehrlichen Herzens versuchen | |
| umzusetzen, werden nicht genehmigt. Damit entziehe ich den positiven | |
| Kräften in der Fanszene die Argumentationsgrundlage und kippe Wasser auf | |
| die Mühlen jener Personen, die etwas mehr auf Krawall gebürstet sind. Das | |
| passiert etwa seit 2005. | |
| Die Ultras antworten Ihrer Meinung nach nur auf Repression von Polizei und | |
| Vereinen. | |
| Ja, man muss hier aber auch erst mal sehen, was mit Gewalt gemeint ist. | |
| Gewalt will ich auf Straftaten wie Körperverletzung oder Raub beschränkt | |
| wissen. Die Diskussion über Pyrotechnik muss man von der Gewaltdebatte | |
| völlig trennen. Bei Pyrotechnik geht es allenfalls um optische Effekte zur | |
| Unterstützung der eigenen Mannschaft. Seit der Initiative zur Legalisierung | |
| der Pyrotechnik hat sich auch bei den Ultras einiges verändert. Es wird | |
| verantwortungsvoller damit umgegangen. Auch das Abbrennverhalten hat sich | |
| hin zum Positiven geändert. | |
| Trotzdem kommen die Ultras mit ihrer Kampagne keinen Schritt voran. Im | |
| Gegenteil. Der DFB und die DFL haben vorgestern ein Verbot von Pyrotechnik | |
| festgeschrieben. | |
| Das ist das Problem. Es sah am Anfang vielversprechend aus, auch weil sich | |
| die Szene bestimmte Verhaltensregeln auferlegt hat wie den Verzicht auf | |
| Böller und Leuchtspurgeschosse. Und Bengalos sollen nur in der Hand | |
| abgebrannt werden. Das hat meist funktioniert. Wer böllert und irgendwelche | |
| Bömbchen wie bei Osnabrück gegen Münster baut, der steht natürlich | |
| außerhalb der Pyro-Kampagne. Man erreicht leider nie 100 Prozent der Leute. | |
| Mit der wohl endgültigen Absage an Gespräche zu legalen Pyro-Varianten | |
| haben DFB und DFL eine riesige Chance vertan. | |
| DFB und DFL verfolgen offenbar die harte Linie. | |
| Man darf nicht vergessen, dass der Einsatz von Pyrotechnik oft eine | |
| Trotzreaktion auf vorherige Gängelungen ist. Es werden Doppelhalter | |
| (Ein-Mann-Transparent; d. Red.) bei Auswärtsspielen verboten, große | |
| Schwenk- und Zaunfahnen. Und so weiter. Dann sagen Ultra-Gruppierungen eben | |
| mal gern: Ihr könnt das beschränken, wie ihr wollt, dann zündeln wir erst | |
| recht. | |
| So kommt es aber nicht zu einer Beruhigung der Lage. | |
| Ja, der Freiraum wird immer mehr verengt. | |
| Was glauben Sie: Soll das Stadion zur spaßfreien Zone werden, wo der brave | |
| Zuschauer 100 Euro oder mehr für seinen Sitzplatz zahlt? | |
| Der Eindruck kann durchaus entstehen. Es herrscht auf jeden Fall so ein | |
| Grundmisstrauen gegen Fußballfans und Ultras. Da sind auch einige | |
| Veröffentlichungen wie rund um den Jahresbericht der ZIS (Zentrale | |
| Informationsstelle Sporteinsätze der Polizei; d. Red.) nicht unbedingt | |
| hilfreich. | |
| Inwiefern? | |
| Wir haben Schlagzeilen gelesen wie "Deutscher Fußball immer brutaler" oder | |
| "846 Verletzte bei 612 Spielen". Klar, jeder Verletzte ist einer zu viel. | |
| Und Gewalt darf kein Mittel der Auseinandersetzung sein. Aber trotzdem muss | |
| man diese Zahl von 846 relativieren. Ich will die Zahl bereinigt wissen um | |
| die Anzahl von Personen, die von der Polizei verletzt worden sind, | |
| insbesondere durch Pfefferspray. Nehmen wir nur eines der jüngeren | |
| Beispiele: Erfurt gegen Darmstadt. Große Schlagzeile: "55 Verletzte". Aber | |
| 52 davon wurden durch Pfefferspray der Polizei verletzt. Das muss man auch | |
| ins Verhältnis zu anderen Veranstaltungen setzen. | |
| Gern wird in diesen Tagen das Oktoberfest herangezogen. | |
| Genau. Beim Oktoberfest 2011 gab es 379 leichte und 170 schwere | |
| Körperverletzungen. Bei sieben Millionen Besuchern in gut zwei Wochen. Der | |
| Fußball hat in Deutschland in einem Jahr etwa 17 Millionen Besucher. Es | |
| würde sich aber niemand ernsthaft hinstellen und sagen: Wir brauchen jetzt | |
| dringend eine Datei "Gewalttäter Oktoberfest" so wie es eine Datei | |
| "Gewalttäter Sport" gibt. Und keiner würde ein bundesweites Volksfestverbot | |
| für Bierzeltschläger fordern oder ein Alkoholverbot fürs Oktoberfest. | |
| Jedem, der so etwas sagt, wird ganz schnell eine Pille von Ratiopharm | |
| empfohlen oder er wird gleich eingewiesen. Im Fußball gilt sowas als | |
| probater Lösungsansatz. | |
| Wie aufgebracht ist denn die Fanbasis derzeit, wenn es heißt, die Ultras | |
| sollten künftig die Kosten für Vereinsstrafen und Polizeieinsätze | |
| mittragen? | |
| Lassen wir dann beim Oktoberfest weniger Australier zu, weil die immer für | |
| Randale sorgen? Natürlich sind die Ultras genervt. Aber auch die Vereine | |
| sind genervt, weil sie nun für jeden kleinen Bengalo eine Strafe zahlen | |
| müssen. | |
| Wie verändert die aktuelle Debatte das Selbstverständnis der Ultras? | |
| Es besteht die Gefahr, dass jene Ultras, die etwas erlebnisorientierter, | |
| sprich auf Krawall gebürstet sind, in den Gruppierungen die Oberhand | |
| gewinnen. Den gemäßigten Kräften fällt es ja immer schwerer zu | |
| argumentieren, dass man sich nicht provozieren lassen und ruhig bleiben | |
| soll. Außerdem zieht so eine tendenziöse Berichterstattung natürlich | |
| Jugendliche an, die glauben, Gewaltfantasien in Ultra-Gruppierungen | |
| ausleben zu können. | |
| Nach dem Verbot von Pyrotechnik besteht die Gefahr besonders, oder? | |
| In den letzten Jahren hatte sich etwas entwickelt. Es ist schade, dass die | |
| Kontinuität im DFB etwas durchbrochen wurde. Es geht doch darum, auch den | |
| Ultras zu vertrauen. Ihnen Verantwortung zu übertragen und ihnen Freiräume | |
| zu gewähren. Wenn dies der Fall war, so meine persönliche Erfahrung, | |
| verhalten sich Fans positiv. Wenn ich aber alles reglementiere und die Fans | |
| auswärts gleich mit einem Polizeikessel begrüße, dann nehme ich ihnen jede | |
| Verantwortung für ihr negatives Verhalten ab. Wem jede Verantwortung | |
| abgenommen wird, der verhält sich dann irgendwann auch verantwortungslos. | |
| Es ginge aber auch anders. | |
| Zum Beispiel? | |
| Letzte Saison sind wir in Regensburg angekommen und wurden von ein paar | |
| Beamten in ganz normaler Uniform begrüßt, die uns freundlich den Weg | |
| gewiesen haben. So etwas wirkt wirklich deeskalierend. | |
| 4 Nov 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Markus Völker | |
| ## TAGS | |
| Fußball | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kolumne Press-Schlag: In der Krawall-Falle | |
| „Krieg dem DFB“ hieß die Protestankündigung zur neuen Saison. Die | |
| überzogene Kriegsrhetorik ist eine Steilvorlage für den Verband. | |
| Frauen als radikale Fußballfans: Ultra viele Vorbehalte | |
| Groß ist die Skepsis, wenn junge Frauen Mitglied bei Ultra-Fangruppen | |
| werden wollen. Mancherorts werden sie komplett ignoriert. | |
| Gewaltdebatte im deutschen Fußball: "Drangsalierung statt Dialog" | |
| Pyrotechnik erlauben? Stehplätze verbieten? Vertreter des DFB und der DFL | |
| bekennen sich vor einem Fankongress zwar zum Dialog – drohen aber mit | |
| Repressalien. | |
| Debatte um Pyrotechnik im Stadion: Beachtliches Blendfeuer | |
| Ein DFB-Gutachten soll sich für eine bedingte Legalisierung von Pyrotechnik | |
| aussprechen. Dabei hat der Verband das Gegenteil behauptet und am Veto | |
| festgehalten. | |
| Raubprozess gegen Profifußballer: Koksen, kicken, Kiez abziehen | |
| Eine Bande überfällt in Berlin mehrere Spielkasinos. Mit im Team sind zwei | |
| Profifußballer. Der eine, Guido Kocer, kickt jetzt beim FC Erzgebirge Aue. | |
| Runder Tisch zur Gewalt beim Fußball: Leicht gezügelte Repressionsfantasien | |
| Sicherheitspolitiker und Fußballfunktionäre wollen die Stadien mit einer | |
| "Task Force Sicherheit" befrieden. Der Ruf nach mehr Repression wird | |
| lauter. | |
| Pyrotechnik im Fussballstadion: Wie der Weihrauch zur Sonntagsmesse | |
| Am Rande des Bundesligaspiels in Berlin protestiert die Fanszene und | |
| fordert, vom DFB ernst genommen zu werden. Die Ultras fühlen sich an den | |
| Pranger gestellt. | |
| Bremer Hooligan-Prozess: Überschaubare Strafen | |
| Das Bremer Amtsgericht stellt neonazistischen Hooligans, die 2007 eine | |
| Party antirassistischer Fans überfielen, Milde in Aussicht - auch wegen der | |
| langen Verfahrensdauer, die es selbst verschuldete. | |
| Kommentar Bremer Hooligan-Prozess: Offensive Saumseligkeit | |
| Was die Hooligans bei ihrem Überfall anrichteten, ist schon auf der | |
| physischen Ebene schlimm. Hinzu kommt der Psychoterror auf die Betroffenen. | |
| Am meisten Schaden verursacht jedoch die Justiz selbst. | |
| Polnische Hooligans: Antisemitismus als Folklore | |
| Politik und Fussballverband reagieren endlich auf die Hassparolen in Polens | |
| Stadien. Das hat gedauert: lange hieß es, Sprüche wie "Juden ins Gas!" | |
| seien "polnische Folklore". | |
| Deutsche Hooligans: Erhöhte Wachsamkeit | |
| Fußballanhänger aus Deutschland sind in der jüngeren Vergangenheit oft | |
| negativ aufgefallen. Für die EM in Polen bereitet man sich auf sie vor. | |
| Hooliganattacken bei BFC Dynamo - Lautern: Auf die Fresse! | |
| Nach dem 0:3 im DFB-Pokal stürmen Anhänger von Dynamo Berlin den Block der | |
| Kaiserslautern-Fans. Es gibt Verletzte. Im Internet wird die Attacke als | |
| "geile Aktion" gefeiert. |