| # taz.de -- Appell gegen Neonazis: Was jetzt zu tun ist | |
| > Vor-Ort-Initiativen gegen rechte Gewalt und Projekte zur Hilfe von Opfern | |
| > fordern eine Umkehr in der Politik staatlicher Behörden gegen | |
| > Rechtsradikalismus. Die taz dokumentiert den Appell. | |
| Bild: Eingreifen und einmischen statt wegsehen. | |
| "Mobile Beratungsteams und Opferberatungsprojekte beraten und begleiten | |
| Opfer rechter Gewalt, Kommunen und Zivilgesellschaft. Auch wenn wir seit | |
| Jahren vor der Gewalt von Neonazis und rassistischen Gelegenheitstätern | |
| warnen, sind wir geschockt von dem Ausmaß an Ignoranz und Verharmlosung | |
| staatlicher Stellen angesichts der rassistischen Mordserie. Wir verlangen | |
| jetzt eine Zäsur im Umgang mit der extremen Rechten. | |
| 1. Eingreifen und einmischen statt wegsehen | |
| Jeden Tag ereignen sich in Deutschland mindestens zwei bis drei rechte und | |
| rassistische Gewalttaten. Die TäterInnen sprechen vor allem denjenigen das | |
| Recht auf körperliche Unversehrtheit und Leben ab, die als Minderheiten | |
| ohnehin schon gesellschaftlich diskriminiert werden. Das zu ändern und eine | |
| inklusive Gesellschaft zu schaffen, können wir nicht an den Staat | |
| delegieren: Jede und jeder kann bei rassistischen Sprüchen am Arbeitsplatz, | |
| antisemitischer Hetze auf dem Sportplatz oder "Schwulenwitzen" Kontra geben | |
| und eingreifen, wenn andere bedroht und geschlagen werden. Und jede und | |
| jeder kann jetzt praktische Solidarität zeigen: z.B. Spenden für | |
| Einrichtungen sammeln, die Zielscheibe von neonazistischen Brandanschlägen | |
| geworden sind oder den Menschen in diesen Einrichtungen persönlich in | |
| Gesprächen oder praktisch beistehen. | |
| 2. Mehr Demokratie statt mehr Verfassungsschutz | |
| Polizei, Justiz und Geheimdienste spiegeln gesellschaftliche Verhältnisse | |
| wider. In einem Land, in dem regelmäßig ein Drittel erklären, Deutschland | |
| sei "im gefährlichen Maße überfremdet", ist es keine Ausnahme, dass | |
| Sonderkommissionen "Aladin" oder "Bosporus" genannt und Opfer rassistischer | |
| Gewalt unter Generalverdacht gestellt werden. Schon die Bezeichnung | |
| "Döner-Morde" ist rassistisch und entwürdigend. Nationale | |
| Terrorabwehrzentren und neue Gesamtdateien von Polizei und Geheimdiensten | |
| werden daran nichts ändern. Ein erster Schritt wäre eine klare Abkehr von | |
| den Feindbildern der "Linksextremisten", "Muslime" und "Fremden". Der | |
| Rassismus der Mitte muss als Problem erkannt werden. | |
| 3. Zivilgesellschaftliche Expertisen anerkennen und nutzen | |
| Der derzeitige Schock der politisch Verantwortlichen über den Terror des | |
| "Nationalsozialistischen Untergrunds" lässt sich nur damit erklären, dass | |
| sie die öffentlich zugänglichen Informationen und Analysen der | |
| zivilgesellschaftlich Aktiven gegen Rechts und Rassismus - Antifagruppen, | |
| Bündnisse und Beratungsprojekte - offenbar komplett ignoriert und | |
| stattdessen nur auf die Geheimdienste gehört haben. Wer die falschen | |
| BeraterInnen in der Auseinandersetzung mit der extremen Rechten setzt, kann | |
| nur verlieren - und spielt mit dem Feuer. Künftig muss der Erfahrungsschatz | |
| der zivilgesellschaftlichen ExpertInnen angemessenes Gehör finden. | |
| 4. Staatliche Alimentierung der Neonazis beenden, V-Leute abschaffen | |
| V-Leute sind vom Staat bezahlte Neonazis, die Steuergelder dazu verwenden, | |
| um Neonazistrukturen auszubauen und zu stabilisieren sowie staatliche | |
| Stellen allenfalls mit fragwürdigen Informationen zu versorgen. In der | |
| Geschichte der deutschen Neonazibewegung waren immer wieder V-Männer und | |
| -Frauen in tödliche Attentate (Wehrsportgruppe Hoffmann) und Brandanschläge | |
| (Solingen) involviert, haben die Produktion und den Vertrieb | |
| neonazistischer Hassmusik organisiert (Brandenburg und Sachsen), | |
| NPD-Landesverbände am Laufen gehalten (Nordrhein-Westfalen), mit | |
| Steuergeldern militante Neonazistrukturen wie den Thüringer Heimatschutz | |
| und Blood&Honour aufgebaut und ein NPD-Verbot im Jahr 2003 verhindert. | |
| 5. Lückenlose Aufklärung und Konsequenzen auf allen Ebenen | |
| Alle Daten und Informationen, die notwendig gewesen wären, um mit | |
| polizeilichen und rechtsstaatlichen Mitteln schon 1998 - vor Beginn der | |
| rassistischen Mordserie - gegen den Kern des "Nationalsozialistischen | |
| Untergrunds" (NSU) vorzugehen, lagen den Strafverfolgungsbehörden und | |
| Geheimdiensten gleichermaßen vor. Doch diese Informationen wurden mit einer | |
| Mischung aus Verharmlosung, Entpolitisierung und Inkompetenz von Polizei, | |
| Justiz und Geheimdiensten ignoriert, wie sie bei rechter Gewalt immer | |
| wieder zu beobachten war und ist. Wer jetzt Aufklärung verspricht, muss | |
| überall dort, wo Versagen offenkundig geworden ist, auch personelle | |
| Konsequenzen ziehen, egal ob in Innenministerien, Geheimdiensten oder | |
| Strafverfolgungsbehörden. | |
| Die Angehörigen der Ermordeten, die Verletzten der Nagelbombenanschläge und | |
| die Communities, die durch die Attentate der NSU unmittelbar betroffen | |
| sind, aber auch die Gesellschaft als Ganzes haben ein Recht darauf, dass | |
| eine lücken- und schonungslose Aufklärung in aller Öffentlichkeit | |
| stattfindet. | |
| 6. Nebelkerze NPD-Verbot ad acta legen | |
| Die zum x-ten Mal geführte Debatte über ein NPD-Verbot verstellt den Blick | |
| auf das schockierende Ausmaß staatlicher Verharmlosung der extremen Rechten | |
| und gesamtgesellschaftlichen Rassismus. Effektiver als jede reflexartige | |
| Debatte wäre ein geschlossenes Vorgehen aller demokratischen Parteien dort, | |
| wo sie mit der NPD konfrontiert sind. Die NPD und die extreme Rechte sind | |
| überall dort stark, wo demokratische Parteien und die Zivilgesellschaft | |
| ihnen nicht ge- und entschlossen entgegen treten. Dass sich, wie in | |
| Sachsen, die CDU-geführte Regierung nach diskreditierenden | |
| parlamentarischen Anfragen der NPD nicht zur wertschätzenden Unterstützung | |
| von Beratungsprojekten gegen Rechts durchringen kann, ist kein Einzelfall. | |
| 7. Engagement gegen Rechts braucht Anerkennung und Unterstützung statt | |
| Diffamierung und Kriminalisierung | |
| Bei den Protesten gegen den Neonaziaufmarsch in Dresden im Februar 2011 | |
| wurden Hunderttausende Telefonate abgehört, bei Ermittlungen gegen | |
| NeonazigegnerInnen wegen Aufrufen zu Blockaden wird nicht einmal mehr vor | |
| Kirchgemeinden Halt gemacht. Anstatt Antifa-Gruppen, GewerkschafterInnen, | |
| Bündnisse gegen Rechts, KommunalpolitikerInnen und andere zu diffamieren | |
| und zu kriminalisieren, müssen sie Anerkennung, Unterstützung und | |
| Ermutigung durch politisch Verantwortliche aller Parteien erfahren. Wer | |
| Misstrauen gegen engagierte BürgerInnen sät, wird mehr rechte und | |
| rassistische Gewalt ernten. Und wer militante Kameradschaften schwächen | |
| will, muss alternative, nicht-rechte Jugendkulturen fördern. | |
| 8. "Extremismusklausel" abschaffen | |
| Die Bundesregierung zwingt die Projekte gegen Rechtsextremismus, Rassismus | |
| und Antisemitismus zur Unterschrift unter eine so genannte | |
| "Demokratieerklärung", mit der sich die Projekte verpflichten sollen, ihre | |
| PartnerInnen auf Verfassungstreue zu prüfen und sie zu bespitzeln. Als | |
| Grundlage für die Einschätzung der Verfassungstreue von | |
| KooperationspartnerInnen sollen ausgerechnet die Berichte des | |
| Verfassungsschutzes dienen. Die rassistischen Diskurse aus der Mitte der | |
| Gesellschaft bleiben dabei außen vor. Die zivilgesellschaftliche Arbeit | |
| wird seit Jahren beeinträchtigt durch die historisch falsche, | |
| wissenschaftlich unsinnige und politisch gefährliche "Extremismustheorie", | |
| die Rechtsextremismus und Linksextremismus und damit auch Faschismus und | |
| Antifaschismus gleichsetzt. | |
| 9. Langfristige Planungssicherheit für Projekte gegen Rechtsextremismus und | |
| Ausweitung der bewährten Beratungsprojekte in den alten Bundesländern | |
| Die Arbeit gegen die extreme Rechte braucht einen langen Atem, ist eine | |
| gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe und kein Strohfeuer und muss | |
| entsprechend dauerhaft gefördert werden. Außerdem sind rechte Gewalt und | |
| extrem rechte Aktivitäten keine Ostprobleme. Die Mehrheit der NSU-Morde | |
| ereignete sich in den alten Bundesländern - in Regionen, in denen seit | |
| langem militante Neonazistrukturen aktiv sind. Die Beratungsprojekte in den | |
| neuen Bundesländern und Berlin arbeiten seit nunmehr über 10 Jahren | |
| erfolgreich und unabhängig, dennoch wurden ihnen wiederholt die Mittel | |
| gekürzt. | |
| Die Mobilen Beratungsteams sind AnsprechpartnerInnen für | |
| KommunalpolitikerInnen und Zivilgesellschaft; die Beratungsprojekte für | |
| Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt unterstützen und | |
| begleiten Betroffene, ZeugInnen und Angehörige bei der Bewältigung der | |
| Tatfolgen. Diese Projekte sind derzeit mit zum Teil massiven | |
| Mittelkürzungen konfrontiert. In den alten Bundesländern sind sie komplett | |
| unterfinanziert oder existieren aus Mangel an Fördergeldern erst gar nicht. | |
| Wenn Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) jetzt erklärt, in | |
| ihrem Haushalt seien die Millionen aus dem Programm gegen | |
| "Linksextremismus" noch nicht abgerufen worden, dann müssen diese Gelder | |
| umgehend zum Aus- und Aufbau der bewährten Strukturprojekte gegen Rechts | |
| zur Verfügung gestellt werden. Das wäre ein erster Schritt, dem weitere – | |
| wie ein Ende der Kürzungen bei den Antidiskriminierungsbüros - folgen | |
| müssen. | |
| 10. Rassismus endlich beim Namen nennen | |
| Es ist unbegreiflich, dass im Zusammenhang mit den NSU-Morden von | |
| "Fremdenfeindlichkeit" die Rede ist. Die Ermordeten waren mitnichten | |
| "Fremde", "Türken" oder "Griechen", sondern repräsentieren die Mitte | |
| unserer Gesellschaft. Es ist Zeit, endlich von Rassismus und dem Wahn der | |
| "White Supremacy" ("Überlegenheit der Weißen") zu sprechen, denn dies war | |
| das Motiv der Neonazis. Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle Menschen | |
| gleiche Rechte haben und gleich geschützt werden - unabhängig von ihrer | |
| Herkunft, ihrem Status und allen anderen "Merkmalen"." | |
| Erstunterzeichner: | |
| - ezra - Mobile Beratung für Opferechter, rassistischer und antisemitischer | |
| Gewalt in Thüringen | |
| - Kulturbüro Sachsen e.V. | |
| - LOBBI - Landesweite Opferberatung, Beistand und Information für | |
| Betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern | |
| - Miteinander e.V. - Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in | |
| Sachsen-Anhalt | |
| - Mobile Beratung im Regierungsbezirk Münster. Gegen Rechtsextremismus, für | |
| Demokratie (mobim) | |
| - Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Köln | |
| - Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt | |
| - Opferperspektive Brandenburg e.V. | |
| - Opferberatung der RAA Sachsen | |
| - Reach Out - Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus, Rassismus | |
| und Antisemitismus, Berlin | |
| - Regionale Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) | |
| Mecklenburg-Vorpommern e. V. | |
| - Verein für demokratische Kultur in Berlin e.V. | |
| Weitere Unterzeichner: | |
| - Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. | |
| - Amadeu Antonio Stiftung | |
| - Bundesarbeitsgemeinschaft Demokratieentwicklung (BAGD) | |
| - Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (BAGKR) | |
| - MBT Hessen | |
| - MoBiT – Mobile Beratung Beratung in Thüringen - Für Demokratie - Gegen | |
| Rechtsextremismus | |
| - Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Düsseldorf | |
| 20 Nov 2011 | |
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