# taz.de -- Debatte Rechtsextremismus: Nazis als Dunkellandfolklore | |
> Die Wenigen, die die Neonazis im Osten in den 1990ern bekämpften, warnten | |
> schon damals vor der Ankunft des Rechtsextremismus im Westen. | |
Es war genau in der Zeit, als die drei Mörder von der NSU untertauchten. | |
Auf der rechten Seite des Saals in Jena saßen die Nazigrößen Thüringens, | |
auf der linken Punks und ein paar Antifas. Und vorn diskutierte man auf | |
einem Podium darüber, ob es in Thüringen überhaupt Rechtsextremismus gebe. | |
Einige Kameras filmten die Veranstaltung. So kam es, dass zufällig die | |
Worte des Präsidenten des Verfassungsschutzes Thüringen aufgenommen wurden, | |
der vorn auf dem Podium saß. Helmut Roewer meinte, das Dritte Reich hätte | |
auch seine guten Seiten gehabt. Die Nazis lachten. Und heute wundert man | |
sich über die Terrorzelle aus Jena. Warum eigentlich? | |
Das mit den Nazis in Ostdeutschland hat eine lange Geschichte. In der DDR, | |
in der ich aufgewachsen bin, hieß es stets, die Faschisten und Nazibonzen | |
wären alle "drüben" im Westen. Denn "bei uns" sei der Faschismus mit den | |
Wurzeln ausgerottet. Und deshalb sei es angebracht, mit dem Finger auf die | |
BRD zu zeigen. | |
So ging das vierzig Jahre lang. Dann kam die Vereinigung, und mit ihr kamen | |
die Nazis. Sie waren es, die als Erste eine gelungene Wiedervereinigung | |
feiern konnten. Das riesige Potenzial im Osten, ein paar clevere Strategen | |
im Westen. Das Nationale aus dem Westen und der Sozialismus aus dem Osten | |
begannen eine Affäre, die schließlich im Rechtsextremismus der erneuerten | |
NPD Hochzeit feiern konnte. | |
Nach den Pogromen gegen Flüchtlinge, nach "National befreiten Zonen" und | |
spektakulären Berichten über ostdeutsche "Brown-Towns" stand nun der Westen | |
da und zeigte mit dem Finger auf den Osten. Jetzt waren die Nazis alle in | |
der Ex-DRR - eine Wiederholung jener deutschen Geste, mit der fast jeder | |
nach Krieg und Massenmord die Schuld von sich auf andere gewiesen hatte. In | |
Ost wie West. | |
## Die neue Ost-West-Diskussion | |
Dieser Sicht auf die Welt hatte der kalte Krieg eine politische Sprache | |
gegeben. Als er vorbei war, zerbröckelten nach und nach auch die | |
ideologischen Gebäude, in denen die deutsche Schuldabwehr Zuflucht gesucht | |
hatte. Im selben Moment, als der Rechtsextremismus nach der Wende | |
auftauchte, verschwand vor aller Augen der historische Kontext - als hätte | |
es Nationalsozialismus und kalten Krieg nie gegeben. An seine Stelle trat | |
die neue Ost-West-Diskussion. | |
Die westdeutschen Antifaschisten erklärten uns im Osten rasch, was es mit | |
den Neonazis auf sich hätte. Die seien nämlich ein Problem des Westens. Im | |
Osten war ein massives Problem aufgetaucht, und mit einem Male entstand für | |
die Westkämpfer eine Konkurrenzsituation mit denjenigen, die im Osten gegen | |
Nazis antraten. Die nämlich wollten von den alten Antifa-Idealen und | |
-Ideologien nichts mehr wissen. Nicht zuletzt, weil in ihnen noch ein Stück | |
Idealisierung des Sozialismus und der DDR mitschwang. | |
Und das konnten wir im Osten mit dem riesigen Naziproblem überhaupt nicht | |
gebrauchen. Deswegen fiel es den Altlinken schwer einzugestehen, dass die | |
neuen, national-revolutionären Neonazis kein Import aus dem "faschistoiden" | |
Westen waren, sondern direktes Produkt eines totalitären Systems, dem man | |
gerade noch viel Sympathie entgegengebracht hatte. | |
## Dann blieb der Osten unbefragt | |
Als also die Nazibewegung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR erstarkte, war | |
die Reaktion aus dem "progressiven" Westen eher verhalten. Fragen wurden an | |
uns kaum gestellt, das eigene Weltbild sollte nicht weiter erschüttert | |
werden. Medien und Politik im Westen jedoch griffen die Situation im Osten | |
auf, wenn es passte. Für die Medien war da etwas Neues neben dem | |
abgegriffenen Alten. | |
Und für die von Helmut Kohl geprägte Politik eröffnete sich plötzlich ein | |
politischer Raum, um alte Rechnungen zu begleichen: gegen die westdeutsche | |
Linke, gegen die ewige Antifa und gegen das Grundrecht auf Asyl, das man | |
bei der Gelegenheit auch gleich loswerden wollte. Das alles hatte mit der | |
Situation in der Ex-DDR nichts zu tun. So verging wertvolle Zeit, in der | |
der Rechtsextremismus hätte bekämpft werden müssen. | |
Im Osten wollte die Mehrheit einfach nicht wahrhaben, was sich da aus dem | |
Sumpf der vergangenen Jahrzehnte erhob. Bei den Abwehrstrategien zeigte man | |
keine besondere Fantasie: Neonazis gab es entweder gar nicht, und wenn | |
doch, waren sie "nicht von hier" oder die trotzig-berechtigte Quittung für | |
den vom Westen verschuldeten Zusammenbruch der Wirtschaft in den Neuen | |
Ländern. | |
Dieses wirre Begründungsbündel enthielt darüber hinaus die Behauptung, dass | |
die antifaschistische Erziehung in der DDR ein Aufblühen rechtsextremer | |
Landschaften im Osten gar nicht zuließe. Zu meinem Erstaunen wurde das im | |
Westen oft geglaubt - auch von Konservativen, denen alles recht war, um | |
sich nicht mit dem braunen Erbe aus DDR und NS beschäftigen zu müssen. Ost | |
und West Hand in Hand. So sah die Leinwand aus, auf der die Neonazis im | |
Osten ziemlich ungestört ihre Heimatregionen braun pinseln konnten. | |
## Paranoide Spinner - was sonst? | |
Mit dem Wind of Change nach der Wende kam auch deutscher Nationalismus | |
zurück. In veränderter Form zwar - aber er war da. Dass dies auch Einfluss | |
auf die stagnierende Einwanderungspolitik der Bundesrepublik hatte, ist | |
gewiss unbestritten. Vor dem Hintergrund des braunen Grollens aus dem Osten | |
als hörbarer, wenngleich ignorierter Grundton der vereinigten Republik | |
erschien sogar der Status quo der Ausländerpolitik im Westen als ungeheurer | |
Fortschritt - und damit Beleg für die Liberalität Deutschlands. | |
Je finsterer es im Osten wurde, desto selbstgewisser gab man sich im Westen | |
und desto mehr wurde das Dunkelland Ostdeutschland von den allgemeinen | |
demokratischen Standards abgekoppelt. Bis die Neonazi-Ereignisse in der | |
Sicht des Westens zu einer Art Ostfolklore verkamen. | |
In mehreren Beiträgen der ZDF Sendung "Kennzeichen D" präsentierten wir | |
damals die ungeheuerlichen Vorgänge in Thüringen der bundesdeutschen | |
Öffentlichkeit. Die Reaktion: Der Autor des Beitrages wurde unter Druck | |
gesetzt, bekam eine Klage an den Hals, und es gab eine Hausdurchsuchung bei | |
ihm. Sonst passierte nichts. Die Beiträge blieben für den Thüringer | |
Dunkellandsumpf ohne Folgen. Das gesamtdeutsche Publikum schwieg. | |
Diejenigen, die sich vor Ort gegen die Nazis stellten und von ihnen | |
verprügelt wurden, galten bestenfalls als bedauernswerte, paranoide | |
Spinner. Und schlimmstenfalls als linksradikale Verschwörer. | |
Der Mainstream war sich einig: Es mag ein paar Nazis geben oder nicht - | |
gefährlich sind die jedenfalls nicht. Trotz der Rohrbomben, Explosionen, | |
Waffenfunden und der ausgezeichneten Vernetzung der Kameradschaftsszene. | |
Die Wenigen im Osten, die gegen Nazis kämpften, warnten, dass die | |
ostdeutschen Zustände auch die Preise im Westen versauen würden. | |
Was hier möglich ist, kommt irgendwann auch im Westen an. Wer hier nicht | |
hinschaut, darf sich über sinkende Standards im Westen nicht wundern. Es | |
rächt sich, wenn als Dunkellandfolklore ignoriert wird, was die Demokratie | |
untergräbt. Worüber wundert man sich jetzt? | |
21 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Anetta Kahane | |
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