# taz.de -- Spätfolgen der Nagelbombe in Köln: Die Sache mit dem "Die" und "W… | |
> Sie hatten keine Ahnung, wer hinter dem Anschlag steckte. Trotzdem wurden | |
> Anwohner und Geschäftsleute der Kölner Keupstraße zu Mittätern gemacht. | |
Bild: Zweifach zu Opfern gemacht: die Bewohner der Kölner Keupstraße fühlen … | |
KÖLN taz | Wenn es auf der Keupstraße eng wird, dann kommt der Verkehr | |
schnell zum Erliegen. Wenn beispielsweise auf der Einbahnstraße ein | |
Transporter vor einer der vielen Konditoreien, Restaurants oder | |
Haushaltsgeräteläden hält und Waren auslädt. | |
Oder wenn eine Bombe voller Nägel vor einem Friseursalon explodiert und 22 | |
Menschen verletzt. Oder wenn sieben Jahre später Politiker kommen und sich | |
filmen und fotografieren lassen, wie sie um Entschuldigung bitten. Danach | |
löst sich der Stau in dieser Straße, die viele in Köln "Klein-Istanbul" | |
nennen, schnell wieder auf. Dann sieht es so aus, als gehe der Alltag der | |
Menschen hier weiter wie zuvor. Aber so ist es nicht. | |
Seit dem 9. Juni 2004 hat sich vieles geändert. Der Friseurladen von Özcan | |
Yildirim, der bei der Explosion einer auf einem Fahrrad befestigten Bombe | |
zerstört wurde, ist längst wieder aufgebaut. Die 22 Verletzten haben | |
überlebt. Und seit vor wenigen Wochen zwei Neonazis aus Zwickau tot in | |
einem Wohnwagen gefunden worden sind, scheint auch klar, dass sie hinter | |
dem Anschlag steckten. | |
Aber aus Sicht vieler Menschen hier kommt die zufällige Aufklärung des | |
Falls viel zu spät. Zum Beispiel für Haydar Erdogdu, ein Mann mit breitem | |
Kreuz, schwarzem Zopf und viel Wut im Bauch. | |
## "Wir können auch zurückschlagen" | |
Seit 30 Jahren lebt der gebürtige Türke in Deutschland, seit 17 Jahren | |
leitet er ein Elektronikgeschäft in der Keupstraße, die deutsche | |
Staatsbürgerschaft hat er längst. Hinter ihm beraten seine Angestellten | |
Kunden auf Türkisch, es gibt viel zu tun. Und trotzdem sagt Erdogdu düster: | |
"Wir sind nicht in der Lage wie die Juden in den 30er Jahren. Wir haben ein | |
Heimatland. Und wir können auch zurückschlagen." | |
Erdogdus Wut hat mit dem Gefühl zu tun, niemals genug tun zu können, | |
niemals dazuzugehören. "Wir sind wegen der Demokratie hierhergekommen", | |
sagt der alevitische Muslim. "Wenn unser Vertrauen in den Rechtsstaat | |
zerbricht, dann …" | |
Ja, was dann? Erdogdu stockt. Seine Wut auf den deutschen Staat ist nämlich | |
nicht das Einzige, das Bewohner in der Keupstraße wie ihn rasend macht und | |
frustriert. Von deutschen Medien und Politikern hatten sie ohnehin nicht | |
viel erwartet. Aber nicht nur von ihnen fühlen sie sich hier in den | |
vergangenen Jahren im Stich gelassen, sondern auch von der alten, oft | |
idealisierten Heimat Türkei. | |
Nur einen Tag nach dem sogenannten Nagelbombenattentat erklärte der | |
damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD): "Die Erkenntnisse, die | |
unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen | |
terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu." Nichts | |
konnte diese Deutung ändern. | |
Über Jahre ging eine 25-köpfige Mordkommission insgesamt 3.100 Hinweisen | |
nach. Unbeteiligte Passanten, die am Tag des Anschlags auf der Straße | |
telefonierten, bekamen noch Monate später Besuch von der Polizei. Das | |
Überwachungsvideo einer nahe gelegenen Bank zeigte zwei große Männer mit | |
Mützen und Rucksäcken. Sie stellten das Rad mit der Bombe vor dem | |
Friseursalon ab. Die Männer sahen nicht sonderlich türkisch aus. Der | |
jüngere Bruder des Friseursalonbesitzers sagte der Polizei, er habe einen | |
der beiden Männer mit dem Fahrrad gesehen. Der Mann sei blond gewesen. | |
Nichts geschah. | |
## Spekulationen verbreitet | |
Was folgte, macht Erdogdu noch heute wütend. Er lässt sein Handy klingeln, | |
während er redet: "Die Hürriyet druckte damals Fotos von Geschäftsleuten | |
aus der Keupstraße ab. Die Zeitung tat so, als seien alle Ladenbesitzer | |
hier Zuhälter, Mafiosi, Waffenhändler. Wir wurden zu kriminellen | |
Geschäftemachern gestempelt." | |
Auch deutsche Medien verbreiteten bald Spekulationen über die Attentäter | |
und beriefen sich auf die Ermittler: Steckte ein Streit zwischen Russen- | |
und Türkenmafia dahinter? Hatte jemand sein Schutzgeld nicht gezahlt? Auf | |
der Straße tuschelten Anwohner über eine eskalierte "Frauengeschichte" des | |
Friseurs. | |
Erdogdu, der Geschäftsmann, ahnte schnell: Hier läuft etwas aus dem Ruder. | |
Die Menschen, die der Polizei nicht sagen konnten, wer ihnen so etwas | |
angetan hat, galten durch ihr Schweigen als mitschuldig. Die Opfer wurden | |
zu Mittätern erklärt. | |
Erdogdu steht auf, streckt sich und geht mit dem Besucher in sein Büro, | |
hinten im Geschäft. Dort zeigt er stolz auf ein Plakat an der Wand, darauf | |
steht "Solidaritäts-Straßenfest!". Im Monat nach dem Anschlag organisierte | |
der Geschäftsmann eilig die Veranstaltung. | |
Schließlich hielt Mitte Juli 2004 der damalige Oberbürgermeister Fritz | |
Schramma (CDU) eine Ansprache, die unvermeidlichen Bläck Fööss sangen, | |
ebenso türkische Folkloregruppen und die Hardrocker von "Anatolica". Es gab | |
eine "Haar- und Modenshow" und einen Tag der offenen Moscheen. Die | |
Keupstraße, sollte das zeigen, ist mehr als "Klein-Istanbul". | |
## Zweifach zum Opfer geworden | |
Es nutzte nicht viel. Die deutschen und türkischen Medien hatten ihre | |
Deutung der Geschichte gefunden. Und die Kölner Ermittler ließen Hinweise, | |
die Tat könne mit den bundesweiten Erschießungen von neun Kleinhändlern zu | |
tun haben, im Sande verlaufen. Zu unwahrscheinlich schien ihnen, dass | |
Neonazis dahinter stecken könnten. | |
Vielleicht fühlten sich die Ermittler bestärkt vom schlechten Ruf der | |
Keupstraße. Besucher der nahe gelegenen Großraumdiskos meiden abends die | |
schmale Straße, in die seit den 1950er Jahren immer mehr Türken zogen. Die | |
rund 800 Meter lange Häuserreihe galt über Jahrzehnte als | |
Drogenumschlagplatz. Und noch vergangenen Monat versuchten 150 Anhänger der | |
rechtsextremen türkischen Organisation "Graue Wölfe" die Keupstraße zu | |
stürmen, weil sie in einem der Häuser PKK-Anhänger vermuteten. Eine eilig | |
herbeigerufene Hundertschaft konnte das in letzter Minute verhindern. | |
Kurz darauf wurde bekannt: Zwei Neonazis zündeten die Bombe, alle | |
Verdächtigungen waren falsch. "Als ich das hörte", sagt Erdogdu trotzig und | |
wütend, "da dachte ich an Hürriyet und die Bild-Zeitung." Eilig strömten | |
etliche Politiker ins rechtsrheinische Viertel Kölns: SPD-Chef Sigmar | |
Gabriel, die Linke-Vorsitzende Gesine Lötzsch, der nordrhein-westfälische | |
Integrationsminister Guntram Schneider, die Kölner Bürgermeisterin Elfi | |
Scho-Antwerpes (beide SPD). Aus den angeblichen Mittätern wurden jetzt | |
zweifache Opfer - Opfer eines Anschlags und eines Rufmords. | |
Der Mann, der demnächst auch noch dem Bundespräsidenten die Hand schütteln | |
soll, sieht aus, als könne er auf den ganzen Rummel gut verzichten. Özcan | |
Yildirim, der Betreiber des Friseursalons, rasiert einen Kunden. Der stille | |
Mann mit dem Oberlippen- und Kinnbart will nicht mehr viel reden über das, | |
was geschehen ist. | |
Er will arbeiten, weitermachen. Jetzt erst recht, da die Zeit der | |
Verdächtigungen endlich vorüber ist. Aber er sagt auch: "Natürlich war ich | |
wütend und überrascht über die Zeitungsberichte." Ein Besucher übersetzt | |
Yildirims Worte. Dass Hürriyet nach dem Attentat schrieb, ein Streit | |
zwischen Russen- und Türkenmafia stecke dahinter, das hat Yildirim nicht | |
vergessen. "Moralisch war ich da echt auf dem Tiefpunkt." Die wartenden | |
Kunden nicken. | |
## Vertrauen verloren | |
Yildirim, dessen Versicherung nicht für alle Kosten der Zerstörung aufkam, | |
hat viel Vertrauen verloren, auch in die Türkei. "Ich glaube nicht, dass | |
die Hürriyet selbst darauf kam, so zu berichten. Das war wohl staatlich | |
gelenkt." Zumindest eines ist sicher: Im Juli 2007 richtete das türkische | |
Innenministerium einen Appell an die "fast drei Millionen in Deutschland | |
lebenden Türken". | |
Die Behörde bat - mit Blick auf die Erschießungen der neun Kleinunternehmer | |
- , bei der Fahndung zu helfen. Nur so ließen sich weitere Morde | |
verhindern. Die Vermutung dahinter war eindeutig: Die Migranten wüssten | |
sicher mehr, als sie der Polizei gesagt hatten. | |
Von all den Gabriels, Lötzschs und Schneiders, die dem höflichen, aber | |
zurückhaltenden Yildirim vergangene Woche die Hand schüttelten, hat der | |
Friseur nicht viel erwartet. Manchmal musste ein Kunde ihm danach erklären, | |
welcher Politiker gerade auf ihn eingeredet hatte. Wer sich in der | |
Keupstraße umhört, der hört eine Frage immer wieder: "Was wäre gewesen, | |
wenn unsere Leute dahinter gesteckt hätten?" Hängt der Wert eines Menschen | |
davon ab, wer ihm eine scharfe Bombe mit zehn Zentimeter langen Nägeln vor | |
die Ladentür stellt? | |
"Unsere Leute" und "die Deutschen", so reden viele türkischstämmige | |
Anwohner hier. Auch solche, die in Köln geboren worden sind, einen | |
deutschen Pass haben. Das "die" und "wir" war lange Zeit kein Problem, im | |
Alltag kam man ja immer irgendwie miteinander zurecht. | |
Seit dem Nachmittag des 9. Juni 2004 aber hat sich hier schleichend ein | |
beängstigender Gedanke breitgemacht, angefacht durch Unterstellungen | |
türkischer Zeitungen, Mahnungen türkischer Politiker, bösartige Gerüchte in | |
der Nachbarschaft: "Die", das ist weiterhin die Mehrheitsgesellschaft, die | |
Migranten für schuldig hält bis zum Beweis des Gegenteils. Aber wer ist | |
nach alledem noch "wir"? | |
24 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Matthias Lohre | |
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