| # taz.de -- Berichterstattung aus der Ferne: "Hi. Einer meiner Freunde ist tot" | |
| > Das syrische Regime setzt auf Waffengewalt, Aufständische kämpfen im Netz | |
| > um Aufmerksamkeit. Wie können Journalisten da den Überblick behalten? | |
| Bild: Das Foto soll bewaffnete Sicherheitskräfte in Daara, Syrien zeigen. Doch… | |
| BERLIN taz | Die erste Nachricht, die ich an diesem kalten, grauen Morgen | |
| erhalte, stammt von Mohammed, einem Arzt aus Damaskus. Er meldet sich über | |
| Skype, ich öffne ein Chatfenster. Da steht: "Hi. Einer meiner Freunde ist | |
| tot. Du bist auch mit ihm befreundet. Das habe ich auf Facebook gesehen." | |
| Dann schickt er den Link zu einem YouTube-Video. Die blutige Leiche eines | |
| jungen Mannes liegt auf dem Boden, die Kamera zoomt auf ein Einschussloch | |
| in seinem Kopf. "Mohammed Ali", schreibt Mohammed, der Arzt. "Er starb am | |
| 16. Oktober." | |
| Mohammed Ali, ein Student, 23 Jahre alt, ein weiterer toter Demonstrant in | |
| Syrien, einer von mehr als 4.000. Ich hatte in den vergangenen Monaten oft | |
| mit ihm gesprochen, zeitweise täglich. Er zählte zu den meistgesuchten | |
| Aktivisten in Syrien. Nun hatten sie ihn also erwischt. | |
| Seit Beginn der Proteste gegen Baschar al-Assads autoritäres Regime im März | |
| dürfen ausländische Journalisten praktisch nicht mehr nach Syrien | |
| einreisen. Doch eine vollständige Mediensperre ist in Zeiten des Web 2.0 | |
| nicht mehr umzusetzen. | |
| Als der frühere Präsident Hafis al-Assad 1982 die Stadt Hama bombardieren | |
| ließ, um einen Aufstand der Muslimbrüder zu ersticken, war das noch anders. | |
| Bis heute ist nicht ganz klar, was damals geschah, nicht einmal, wie viele | |
| Menschen in den Trümmern von Hama starben. Es könnten 10.000 gewesen sein | |
| oder auch dreimal so viele. | |
| Heute greift das Regime wieder zu den alten Methoden: Gewalt und Zensur. | |
| Nur funktionieren sie nicht mehr. Das Internet setzt die Beschränkungen des | |
| Informationsflusses durch den Polizeistaat außer Kraft. Jeden Tag dringt | |
| eine Flut von Informationen aus Syrien: körnige Amateurvideos, | |
| Facebook-Updates und Skype-Nachrichten. | |
| Digitale Schnipsel aus einem Land im Ausnahmezustand. Doch im Internet | |
| offenbart sich der Konflikt nie im Ganzen; der Blick fällt immer nur wie | |
| durch ein Kaleidoskop auf einzelne Bruchstücke. Je nachdem, wie man es | |
| dreht und wendet, ergibt sich immer ein anderes Bild. | |
| ## Mohammed Alis Schicksal | |
| Ich will wissen, was an Mohammed Alis letztem Tag geschah. Ich frage | |
| jemanden, der ihn persönlich kennt, einen Aktivisten, der aus demselben Ort | |
| stammt. "Es geht ihm gut", schreibt er zu meiner Erleichterung. "Er hat die | |
| Nachricht von seinem Tod verbreitet, weil sein Pseudonym aufgeflogen war." | |
| Nun suchten die Geheimdienste nach ihm. Als sie ihn nicht fanden, | |
| verhafteten sie seinen Vater, bedrohten seine Cousins. Mohammed Ali | |
| täuschte seinen Tod vor, um sich und seine Familie zu schützen. | |
| Hier zeigt sich deutlich, wie leicht Informationen zu manipulieren sind. | |
| Das Video, das mir der Arzt geschickt hatte, zeigte nicht Mohammed Ali, | |
| sondern einen anderen Demonstranten. Das konnte er nicht wissen: Er kannte | |
| den Aktivisten nur über Skype und Facebook. | |
| Mohammed Ali war einer meiner wichtigsten Kontakte in der syrischen | |
| Protestbewegung. Der Student erzählte mir von Verhaftungswellen, Razzien | |
| und von den bewaffneten Milizionären, die jeden Tag auf den Straßen seines | |
| Heimatorts auf und ab fahren. Zudem brachte er mich in Kontakt mit | |
| Aktivisten in anderen Städten. | |
| Ihre Skype-Namen sind Freedomfreesyria, Hama.Revolution.2011 oder Small | |
| Ché. Sie alle setzen ihr Leben aufs Spiel, wann immer sie mit ausländischen | |
| Journalisten sprechen. Sie tun es trotzdem. Es ist ihnen wichtig, dass die | |
| Weltöffentlichkeit erfährt, was in ihrer Heimat geschieht. | |
| Ihre Verzweiflung wächst, wenn sie das Gefühl haben, dass die Welt | |
| wegschaut. Mein Skype-Programm flötet rund um die Uhr, vor allem in Zeiten | |
| von Militäroffensiven. Dann senden die Aktivisten YouTube-Videos: Bilder | |
| von Toten, leblose Körper auf dem Asphalt der Straßen, Leichen mit | |
| aufgerissenen Bäuchen und geplatzten Schädeln. Einmal schickte ein Student | |
| aus Homs einen Film, auf dem zu sehen ist, wie wenig von einem Menschen | |
| bleibt, den ein Panzer überfahren hat. "Das ist Alltag in Syrien", schrieb | |
| er dazu. | |
| Dann wieder gibt es Tage, an denen sich die Stille über Syrien senkt, der | |
| Datenstrom zum Erliegen kommt. Häufig verlangsamt das Regime den Zugang zum | |
| Internet absichtlich oder stellt unterbricht ihn gleich ganz. Im August, | |
| während einer besonders blutigen Militäroffensive in Hama, rissen alle | |
| Verbindungen in die Stadt ab. Internet, Telefone - nichts funktionierte | |
| mehr. | |
| Was in der Stadt passierte, war tagelang nicht in Erfahrung zu bringen. | |
| Manchmal gehen auf meinem Skype-Konto über Nacht zwanzig Namen auf einmal | |
| offline. Für immer. Joud, eine Ärztin aus Homs, die in Untergrundkliniken | |
| verletzte Demonstranten versorgt. Emesa, eine Verkäuferin aus Hama, die mir | |
| im Mai erzählte, wie die Bewohner dieser geschlagenen Stadt erstmals das | |
| Massaker von 1982 zur Sprache bringen konnten. "Wir fühlen uns wieder wie | |
| Menschen", sagte sie. Was geschah mit ihnen? Sind sie tot? Verhaftet? Oder | |
| benutzen sie ihr Skype-Konto nicht mehr? | |
| Ich werde es nie erfahren. Ich kenne ja nicht einmal ihre richtigen Namen. | |
| Mohammed Alis Profilbild zeigt das Foto eines Freundes, der im April bei | |
| einer Demonstration erschossen wurde. Das hat er mir erzählt. Und doch habe | |
| ich mir ihn, den gejagten Aktivisten, immer so vorgestellt, hager und | |
| sehnig. In Wahrheit ist er recht pummelig. Vor ein paar Wochen hat er | |
| einmal kurz seine Webcam angeschaltet, um mir ein Banner für die nächste | |
| Demonstration zu zeigen. Zumindest weiß ich in seinem Fall, wo er | |
| abgeblieben ist: Er versteckt sich und wartet darauf, dass die USA seinen | |
| Asylantrag bewilligen. | |
| Annahmen sind gefährlich, das Gleiche gilt für Schlussfolgerungen. Deshalb | |
| arbeite ich nur mit Kontaktpersonen, die sich in den vergangenen Monaten | |
| als verlässlich erwiesen haben. Doch was, wenn sie selbst Opfer der | |
| Täuschung werden? In den belagerten Städten herrscht ein paranoides Klima. | |
| Angst vernebelt die Sinne, Gerüchte gehen um. Eine wichtige Rolle spielen | |
| daher Menschenrechtler im Exil, die eine zumindest räumliche Distanz zum | |
| Geschehen haben. Sie helfen, Informationen abzuwägen und zu bewerten. | |
| Trotzdem bleiben blinde Flecken, die sich nicht füllen lassen. Allzu | |
| schnell kann man als Journalist in die Falle tappen, wir müssen sehr | |
| vorsichtig sein. | |
| ## Der Fall Amina Arraf | |
| Im Juni machte der Fall der lesbischen Bloggerin Amina Arraf internationale | |
| Schlagzeilen. Die junge Syrerin war mit ihrem freimütigen Blog "A Gay Girl | |
| in Damascus" bekannt geworden. Dann verbreitete eine angebliche Cousine die | |
| Nachricht, Amina sei verschleppt worden, offenbar vom Geheimdienst. Überall | |
| auf der Welt berichteten Journalisten über das Schicksal der Bloggerin, | |
| auch ich. Einen Tag später kam die Wahrheit ans Licht: Es hat Amina Arraf | |
| nie gegeben. Ein 40-jähriger Amerikaner hatte sich eine fiktive Figur | |
| ausgedacht und das Trugbild über Jahre im Internet auf- und ausgebaut. | |
| Es gibt noch einen ähnlichen Fall, der wesentlich unklarer ist. Wieder ging | |
| es um eine junge Frau: Im September tauchte im Internet ein Video auf, das | |
| eine grauenvoll verstümmelte weibliche Leiche zeigte. Nach Angaben von | |
| Amnesty International starb Zeinab al-Hosni im Gewahrsam der | |
| Sicherheitskräfte. Nach wenigen Wochen nahm die Geschichte eine seltsame | |
| Wendung: Zeinab al-Hosni trat im staatlichen Fernsehen auf. | |
| Sie sei nicht entführt worden, sagte sie seltsam teilnahmslos, sondern | |
| weggelaufen, vor ihrer Familie, in der sie misshandelt wurde. Es ist ein | |
| Rätsel, dass sich nicht aufklären lässt. Gut möglich, dass sich Zeinab noch | |
| im Gewahrsam des Regimes befindet und zu den Aussagen genötigt wurde. | |
| Erzwungene Aussagen sind in den syrischen Staatsmedien nicht ungewöhnlich. | |
| Manchmal fällt es schwer, den Überblick zu behalten in diesem Konflikt, der | |
| längst auch ein Informationskrieg ist. Aktivisten und Demonstranten sind | |
| keine neutralen Quellen, ihre Sicht ist lückenhaft und einseitig, auch wenn | |
| viele von ihnen ihr Bestes tun. Normalerweise müssen Reporter beide Seiten | |
| darstellen, das ist ein Grundsatz journalistischer Arbeit. Nur in diesem | |
| Fall geht das nicht; die stalineske Propaganda des Regimes jedenfalls hilft | |
| nicht weiter. | |
| Die offizielle Sicht wird über die staatlich kontrollierten Medien | |
| verbreitet; demnach sind wahlweise islamistische Terroristen, israelische | |
| Agenten oder kriminelle Banden für die Gewalt verantwortlich. Die | |
| staatliche Propaganda entwirft eine Parallelwirklichkeit, die bisweilen | |
| skurrile Formen annimmt: Vor einigen Wochen behauptete der syrische | |
| Nachrichtenkanal Addounia allen Ernstes, der Sender al-Dschasira habe im | |
| arabischen Emirat Katar Repliken von Syriens Städten in Originalgröße | |
| errichtet, um darin Berichte über die Proteste zu inszenieren. | |
| Solche Quellen ebenso zu bewerten wie Gespräche mit Augenzeugen hieße, jede | |
| Berichterstattung ad absurdum zu führen. Damit bleiben junge, mutige | |
| Menschen wie Freedomfreesyria, Hama.Revolution.2011 und Small Ché die | |
| einzigen Quellen in diesem Konflikt. Sie sind es, die die Geschichte des | |
| syrischen Protests am Leben erhalten. | |
| 15 Dec 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Gabriela M. Keller | |
| ## TAGS | |
| Israel | |
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