# taz.de -- Syrische Flüchtlinge in der Türkei: "Revolution ohne Waffengewalt" | |
> Syrische Flüchtlinge in der Türkei befürchten einen Bürgerkrieg in ihrem | |
> Land. Das Assad-Regime nennt sie "Terroristen" und macht die Grenze zum | |
> Nachbarland dicht. | |
Bild: Verletze syrische Flüchtlinge bekommen in der Türkei medizinische Hilfe. | |
ANTAKYA taz | Der alte Mann zeigt auf einen nahen Hügel. "Dahinter liegt | |
Syrien.". Es regnet in Strömen, alle Wege sind aufgeweicht, und schon das | |
kleine Bergdorf war mit dem Auto nur mühsam zu erreichen. Von hier aus geht | |
es nur noch zu Fuß weiter. | |
In einem Schuppen neben dem Haus des Alten sind in den letzten Wochen | |
syrische Oppositionelle, die in die Türkei geflohen sind, untergekommen. | |
Von hier aus bringen sie hauptsächlich medizinisches Gerät illegal über die | |
Grenze, um ihre Freunde in Syrien zu unterstützen. | |
Einer von ihnen ist der dreißigjährige Mahmut. Er ist vor ein paar Monaten | |
über die Berge in die Türkei geflüchtet und lebt jetzt in Antakya, der | |
nächstgelegenen türkischen Großstadt, ungefähr 40 Kilometer von der Grenze | |
entfernt. Mahmut ist klein, gedrungen und hat raspelkurzes Haar. In seinem | |
früheren Leben hat er Computer verkauft, lange Jahre als Mitarbeiter einer | |
größeren Kette in Saudi-Arabien, zuletzt wieder in Syrien. | |
Eigentlich wollte er sich an diesem verregneten Nachmittag mit einem | |
sogenannten Defibrillator, der bei Herzstillstand durch starke Stromstöße | |
die Herztätigkeit wieder in Gang setzt, auf den Weg machen. Doch obwohl | |
Regen und Nebel den Marsch durch die Linien der syrischen Armee begünstigen | |
würden, kann Mahmut nicht losgehen. Die Nachrichten von jenseits der Grenze | |
sind zu bedrohlich. | |
## Medizinisches Gerät geschmuggelt | |
Wir haben Mahmut am Abend zuvor in Antakya kennengelernt. Ein Freund von | |
ihm aus Istanbul, Mughira, hat uns mit ihm bekannt gemacht. Mughira, der | |
wie Mahmut aus Latakia, einer Stadt an der syrischen Küste, stammt, lebt in | |
Istanbul, reist aber häufig nach Antakya. Er organisiert von der türkischen | |
Metropole aus Unterstützung für seine Freunde. | |
Beide gehören zu einer Widerstandsgruppe, die hauptsächlich in Latakia | |
aktiv ist. Außer dem Defibrillator hat Mughira noch ein modernes | |
Satellitentelefon organisiert, mit dem die Freunde in Latakia den Kontakt | |
nach außen aufrechterhalten können, auch wenn das Regime sonst alle | |
Kommunikationswege gekappt hat. | |
## Panzer an der türkischen Grenze | |
Am Morgen sollte das Material in Antakya verpackt werden, um dann zum | |
Bergdorf gefahren und von dort weiter nach Syrien, in Richtung Latakia | |
transportiert zu werden. Doch der Morgen vergeht mit stundenlangen | |
Telefonaten. Syrische Panzer seien in der Provinz Idlib in unmittelbarer | |
Nähe der türkischen Grenze aufgefahren, heißt es in den Nachrichten. | |
Syrien sei unter dem Vorwand, Reparaturarbeiten auszuführen, dabei, | |
sämtliche Grenzübergänge zur Türkei zu schließen. Türkische | |
Lastwagenfahrer, die in den letzten Tagen aus Syrien zurückgekommen sind, | |
berichten, dass die Straßen in Grenznähe von ausgebrannten | |
Militärfahrzeugen gesäumt seien und überall Leichen lägen. | |
Das syrische Staatsfernsehen behauptet, in unmittelbarer Nähe der | |
türkischen Grenze eine Gruppe von 33 "Terroristen" zurückgeschlagen zu | |
haben. Gemeint ist die sogenannte Freie syrische Armee (FSA), die sich aus | |
Deserteuren und Überläufern gebildet hat und deren Hauptquartier ebenfalls | |
in der Nähe von Antakya liegt. | |
## Syrischer Geheimdienst auch in Antakya aktiv | |
Antakya, die Hauptstadt der Provinz Hatay, in normalen Zeiten eine | |
geruhsame Stadt fernab der politischen Auseinandersetzungen des Landes, | |
rückt plötzlich in den Mittelpunkt internationaler Aufmerksamkeit. Rund | |
3.000 geflüchtete syrische Oppositionelle leben hier seit ein paar Monaten. | |
In den Restaurants und Kneipen der Stadt wimmelt es von Journalisten, | |
Aktivisten, Politikern und Geheimdienstlern. | |
Zusätzlich zu den Syrern in der Stadt leben Tausende weitere syrische | |
Flüchtlinge in den Lagern, die der türkische Halbmond in dem Gebiet | |
zwischen Antakya und der Grenze eingerichtet hat. Die Flüchtlinge werden | |
zwar vom türkischen Staat unterstützt, die Bevölkerung Hatays betrachtet | |
sie aber überwiegend skeptisch. Viele Bewohner von Hatay, das bis Ende der | |
30er Jahre des letzten Jahrhunderts noch zum französischen Protektorat | |
Syrien gehörte, sind Alawiten und gehören damit zur selben | |
Glaubensgemeinschaft wie der Assad-Clan. | |
## Nationalrat will friedliche Revolution | |
Vor einer Woche haben sich in Antakya die Spitzen des Syrischen | |
Nationalrats, des politischen Dachverbands der Opposition, mit Riad | |
al-Asaad, dem Chef der Freien syrischen Armee und seinen Leuten getroffen. | |
"Der Nationalrat", erzählt Rami, ein anderer syrischer Oppositioneller der | |
mit "Human Rights Watch" zusammen arbeitet, "hat Angst, dass die Freie | |
syrische Armee zu aggressiv vorgeht und damit einem Bürgerkrieg vorschub | |
leisten könnte. Wir wollen aber eine Revolution ohne Waffengewalt". | |
Der Vorsitzende des Nationalrats, Burhan Ghaliun, sagte nach dem Treffen, | |
Riad al-Asaad habe zugesagt, dass die Freie syrische Armee keine Angriffe | |
auf Regierungstruppen mehr unternehmen werde, sondern sich in Zukunft auf | |
den Schutz von Zivilisten beschränken werde. Rami ist allerdings skeptisch, | |
wie es weitergeht. "Riad al-Asaad hat keine Kontrolle über die Leute, die | |
in Syrien kämpfen. Wie sollte er auch das Kommando ausüben? Mit dem Handy | |
etwa?" | |
## Ärzte operieren illegal | |
Die Gruppe um Mahmut und Mughira, zu der, wie sie uns später erzählen, rund | |
30 Leute gehören, versteht sich selbst als unabhängig. Sie fühlen sich zwar | |
mit der Freien syrischen Armee verbunden, operieren aber mehr oder weniger | |
auf eigene Faust. Obwohl klar ist, dass es heute nicht mehr über die Grenze | |
geht, wird nach etlichen Telefonaten beschlossen, dass das Schmuggelgut | |
dennoch in unmittelbare Grenznähe transportiert werden soll, damit sie | |
sofort losmarschieren können, wenn sich die Gelegenheit ergibt. | |
"Unsere Leute in Latakia brauchen dringend Hilfe" erzählt Mahmut. "Von den | |
meisten Demonstrationen und Angriffen der Sondertruppen des Regimes auf | |
unsere Leute erfährt die Welt gar nichts. Es gibt viele Verletzte in der | |
Stadt, und sie können nicht ins Krankenhaus, weil sie dort sofort verhaftet | |
oder umgebracht würden. Unsere Ärzte praktizieren deshalb in | |
Privatwohnungen, und wir müssen Medikamente und medizinisches Gerät | |
hinüberbringen." | |
Von Antakya aus geht es zunächst einmal zu dem Grenzort Yayladag, um den | |
herum viele Flüchtlingscamps eingerichtet wurden. Gegen Regen und Schnee | |
sind die Zelte alle noch mit blauen Plastikplanen abgedeckt, von Weitem | |
sieht es deshalb aus, als wäre rund um Yayladag eine Seenlandschaft | |
entstanden. | |
## Türkei überlegt Pufferzone in Grenzregion einzurichten | |
Aus dem Flüchtlingscamp schließen sich uns noch zwei Freunde an, bevor es | |
dann richtig in die Berge geht. Der Weg führt an einem türkischen | |
Militärlager vorbei, und die einzigen anderen Fahrzeuge, die uns begegnen, | |
gehören ebenfalls zum türkischen Militär. Die Grenzregion ist auch von | |
türkischer Seite stark militarisiert worden. | |
Erst am letzten Freitag drohte Außenminister Ahmet Davutoglu, dass die | |
Türkei nicht endlos dem Treiben des Assad-Regimes zusehen werde. "Wenn eine | |
Regierung ihr eigenes Volk bekämpft und vertreibt und damit die Sicherheit | |
der gesamten Region gefährdet, hat Ankara die Verantwortung und die Macht | |
zu sagen: Nun ist es genug." Gemeint ist damit offenbar, dass die türkische | |
Armee die Grenze überschreiten könnte, um auf syrischer Seite eine | |
Pufferzone einzurichten, in der sich Regimegegner in Sicherheit bringen | |
können. | |
## | |
Vor Ort wird jedenfalls schnell klar, dass sich syrische Aktivisten wie | |
Mahmut und seine Gruppe im Grenzgebiet nicht ohne Wissen und Wohlwollen der | |
türkischen Truppen bewegen könnten. Überall sind Soldaten unterwegs, und | |
als wir in dem Bergdorf angekommen sind und uns vor dem strömenden Regen in | |
die Hütte des alten Mannes flüchten, ist bereits Besuch da. Neben einem | |
großen Ofen, der immer wieder mit Holzscheiten gefüttert wird, sitzen zwei | |
junge Männer, die miteinander scherzen und sich bestens verstehen. | |
Einer stellt sich als Neffe des Alten vor, der andere ist ein Freund, der | |
bei der türkischen Armee dient und gerade dienstfrei hat. Der Neffe erzählt | |
freimütig, dass er aus einem zwei Kilometer entfernten Dorf stammt, nur | |
dass sein Dorf auf der syrischen Seite der Grenze liegt und er bis vor | |
wenigen Monaten noch Offizier des syrischen Geheimdienstes in Damaskus war. | |
## Die Angst vor einem langen Bürgerkrieg wächst | |
Wie viele andere hat er sich abgesetzt und unterstützt jetzt Mahmut und | |
seine Gruppe bei ihren gefährlichen Gängen über die Grenze. "Dabei", sagt | |
er ganz trocken, "sichern wir uns selbst natürlich mit eigenen Waffen ab." | |
Sowohl Mahmut als auch er bestreiten aber energisch, dass sie Waffen für | |
die Opposition über die Grenze bringen. | |
Er kennt die Gegend von Kindesbeinen an und ist gut informiert über die | |
Bewegungen der syrischen Truppen auf der anderen Seite. Die reguläre Armee, | |
meint er, sei sowieso bereits in Auflösung begriffen. Dem Regime bleiben | |
seine schwer bewaffneten Spezialtruppen. Seine größte Angst ist aber, dass | |
sich die unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen bewaffnen und | |
aufeinander losgehen könnten. | |
Auf die Frage, ob nicht die Führung der Opposition, der Syrische | |
Nationalrat, in der Lage sei, solche Entwicklungen zu verhindern, schüttelt | |
er erstaunt den Kopf. "Der Nationalrat, das ist doch bloß eine leere Hülle. | |
Assad hat die alawitischen Dörfer und Stadtteile schon lange bewaffnen | |
lassen; wenn die Sunniten nachziehen, könnte es ganz schlimm werden." "Der | |
Kampf in Syrien", da ist er sich ganz sicher, "wird noch lange andauern." | |
13 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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