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# taz.de -- Debatte Boko Haram in Nigeria: Koranfestes Kanonenfutter
> Der islamistische Terror hilft den Reichen, die Probleme Nigerias zu
> deckeln. Als Sündenböcke halten junge Männer her, die in die Städte
> kommen um den Koran zu studieren.
Bild: Kano nach dem Terroranschlag im Januar.
Es waren Bilder, wie man sie eher aus Bagdad oder Kabul gewöhnt ist: Am 20.
Januar legten in der nigerianischen Millionenstadt Kano mehr als 20
Sprengsätze Polizeistationen und ganze Straßenzüge in Schutt und Asche.
Mindestens 180 Menschen verloren ihr Leben - allein an diesem Tag.
Seit Monaten überzieht die islamistische Boko Haram das westafrikanische
Land mit tödlichen Anschlägen. Die Terrorgruppe, deren Name übersetzt so
viel wie "ein verwestlichter Lebenswandel ist verboten" bedeutet, entstand
Anfang des Jahrhunderts im Bundesstaat Borno im Nordosten Nigerias aus der
Anhängerschaft des radikalislamischen Predigers Shaikh Muhammad Yusuf. Den
säkularen Staat verurteilen die Mitglieder als korrupt und unfähig. Seit
die Polizei 2009 einen Aufstand der Sekte blutig niederschlug und ihren
Anführer Yusuf kurzerhand erschoss, dreht sich die Spirale der Gewalt
schneller.
Boko Haram sieht sich dabei als Opfer von Polizeigewalt und Massakern. Die
eigenen Attacken werden als Akte der Selbstverteidigung präsentiert. Im
vergangenen Jahrzehnt starben deutlich mehr Muslime als Christen in
religiösen Auseinandersetzungen in Nigeria. Zahlreiche Menschen verloren
ihr Leben durch die Hand überforderter Sicherheitskräfte.
Doch wovon fühlen sich Menschen in Nordnigeria so existenziell bedroht,
dass Boko Haram überzeugen kann? Nigeria ist einer der größten
Ölproduzenten der Welt. Täglich spült das Rohöl über 100 Millionen Euro in
die Staatskassen. Zugleich leben mehr als 100 Millionen Menschen - rund
zwei Drittel der Bevölkerung - von weniger als einem Euro am Tag. Beinahe
jedes siebte Kleinkind erlebt seinen fünften Geburtstag nicht. Zugleich
fliegt die Elite zum Arztbesuch nach Saudi-Arabien und jettet zum Shoppen
nach London.
Der Staat ist "Freund und Helfer" bestenfalls der Mächtigen. Sicherheit für
alle bietet er nicht. In den meisten Moscheen erzeugt ein benzinbetriebener
Generator den Strom für den Lautsprecher, mit dem zum Gebet gerufen wird.
Mag die öffentliche Stromversorgung in Kano auch unberechenbar sein - die
Gebetszeiten sind es nicht.
## Lesen, schreiben, beten
Es verwundert nicht, dass sich die Menschen in Nigeria nach einem anderen
Staat sehnen, der Verantwortung übernimmt für das Gemeinwohl. Es sind
komplexe Probleme, die den Nährboden für Bewegungen wie Boko Haram
bereiten. Nun liebäugeln viele mit vermeintlich einfachen Lösungen, denn
Sündenböcke sind schnell gefunden: Jungen und junge Männer vom
Grundschulalter bis Anfang zwanzig, sogenannte Almajiris, die aus
ländlichen Gegenden in die Städte und Dörfer Nordnigerias kommen, um den
Koran zu studieren.
Statt bei den Eltern wohnen Almajiris bei ihrem Koranlehrer. Sie lernen die
heilige Schrift des Islam zu lesen, zu schreiben und zu rezitieren. Nach
dem Unterricht verdingen sich ältere Schüler als Handlanger, Straßenhändler
oder Kunsthandwerker. Die Jüngeren arbeiten als Haushaltshilfen oder
betteln auf der Straße. Aus dem öffentlichen Raum der Städte Nordnigerias
sind sie kaum wegzudenken.
Seit der Zunahme islamistischer Gewalt nehmen viele Menschen die Almajiris
als Bedrohung wahr. Viele glauben, Almajiris dienten Boko Haram als
"Kanonenfutter". Der Rat der traditionellen muslimischen Herrscher
Nordnigerias hat deshalb vor, Almajri-Schulen zu verbieten. Dabei ist gar
nicht sicher, aus welchem Milieu die Anhänger von Boko Haram stammen. Ihr
ermordeter Anführer Yusuf hatte die Universität besucht.
Wie kommt es, dass viele Jungen und junge Männer als Almajiris leben? Viele
Außenstehende zögern nicht mit Erklärungen: Ihre auf dem Land lebenden
Eltern seien rückständig, heißt es. Warum sich viele Arme moderne Bildung
für ihre Kinder nicht leisten können - also: Bücher, Schuluniformen und das
Geld für Lehrmittel und Schulgebäude -, wird viel zu selten gefragt. Ebenso
wenig, warum die Qualität staatlicher Schulen so sehr zu wünschen übrig
lässt.
Viele Grundschullehrer in Kano können selbst kaum lesen und schreiben. Die
Armen verfügen oft nicht über das nötige Schmiergeld, um ihren Kindern
einen Platz in einer weiterführenden Schule zu sichern. Und die
Erwerbslosigkeit ist selbst unter Jugendlichen mit Schulabschluss hoch. Die
Kinder der Reichen dagegen lernen an Privatschulen oder im Ausland.
## "Brutstätten von Monstern"
Die meisten Almajiris wissen nicht, dass Medien über sie als
"Krebsgeschwür" und über ihre Schulen als "Brutstätten von Monstern"
schreiben. Aber es ist ihnen bekannt, wie die Leute in der Nachbarschaft
über sie als Unruhestifter und Nichtsnutze sprechen. Das sei unfair, finden
die Almajiris. Man lehre sie Tugenden wie Geduld und Gottvertrauen - und
auch, wie man friedlich miteinander auskommt.
Wenn sie tatsächlich in ihre Dörfer zurückkehren würden, wie es manche
fordern, wer würde dann ihre Arbeit übernehmen? Viele Frauen in Kano leben
in streng von der Öffentlichkeit abgeschirmten Räumen: Ohne Erlaubnis ihres
Ehemanns verlassen sie nicht das Haus. Almajiris gehen ihnen zur Hand,
holen Wasser, tätigen Einkäufe, tragen Abfall zur Müllkippe. Dass sie dafür
oft nur mit Mahlzeiten oder einem Schlafplatz bezahlt werden, damit haben
sie sich abgefunden. Dass ihre Arbeitgeber oft weder Rücksicht auf den
Stundenplan ihrer Koranschule noch auf Krankheiten nehmen, macht ihnen mehr
zu schaffen.
Statt über ein Verbot des Almajiri-Schulsystems nachzudenken, wie es nun
Politiker tun, wäre es viel wichtiger, über die Gründe seines Bestehens
nachzudenken. Viele fürchten, dass schlechte Erfahrungen die Almajiris
gewaltbereit machen. Aber wenige fragen, wie man ihre Lebensumstände
verbessern könnte. Wie lässt sich die Armut auf dem Land lindern, wie die
Qualität staatlicher Schulen verbessern? Wie kann jedem Kind Zugang zu
guter Bildung gewährt werden?
Solange Koranschüler und ihre Eltern als Sündenböcke für Nigerias Probleme
herhalten, können die Reichen und Mächtigen diesen unbequemen Fragen aus
dem Weg gehen. Sie sind die eigentliche Zeitbombe in Nigeria.
16 Feb 2012
## AUTOREN
Hannah Höchner
## TAGS
Nigeria
Kamerun
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