# taz.de -- Debatte Piraten: Sanfte Populisten greifen an | |
> Die Piraten werden nicht gewählt für das, was sie sind, sondern für das, | |
> was sie nicht sind: eine normale Partei. Ein kleiner Streifzug durch den | |
> deutschen Populismus. | |
Bild: Einfache Botschaft: Bundesparteitag der Piratenpartei in Offenbach. | |
Die Volksparteien lösen sich auf, die FDP steht vor am Aus, die Linkspartei | |
im Westen am Abgrund. Krise ist immer, und bei Parteien erst recht. Wir | |
haben uns an diesen medial verstärkten Daueralarm gewöhnt. Aber er führt in | |
die Irre. Das Parteiensystem der Bundesrepublik hat vielmehr eine geradezu | |
marmorne Stabilität, jedenfalls wenn man mal über die Grenzen schaut. Dort | |
sieht man in der Tat zerklüftete Parteienlandschaften. | |
In den Niederlanden hat zuletzt nur noch jeder Dritte Christ- und | |
Sozialdemokraten gewählt – von Großer Koalition kann man da nicht mehr | |
reden. Die Integrationskraft der halbrechten und halblinken Volksparteien | |
scheint zu Ende zu gehen. In Österreich und der Schweiz, in Dänemark und | |
Italien, in Ungarn und Belgien haben sich beänstigend erfolgreiche | |
rechtspopulistische Bewegungen etabliert. Nur in der Bundesrepublik ist das | |
anders. Wir scheinen immun gegen die populistische Versuchung zu sein. | |
Stimmt das wirklich? Und wenn – warum eigentlich? | |
An einem Mangel an Unbehagen in der Parteiendemokratie liegt es nicht. Die | |
Politikverachtung ist hierzulande nicht geringer als in Brüssel oder Wien. | |
Doch der Verdruss sucht sich andere Ventile. Die Brandmauer gegen den | |
Rechtspopulismus ist erstaunlich haltbar. Agitatoren und Hasadeure haben | |
hierzulande kaum Chancen im Politbetrieb. Das seit 1945 nachwirkende | |
Leidenschaftsverbot in der deutschen Politik hat eine zivilisierende | |
Wirkung. Auch deshalb sind unsere Politiker allesamt ein bisschen | |
langweilig, ziemlich wenig korrupt und gar nicht charismatisch. | |
In Deutschland scheint sich eine Art Populismus light herauszubilden. | |
Dieser Populismus ist nicht hart und kristallin, sondern flüchtig, launisch | |
und unzuverlässig. Er ist immer in Bewegung, nie zufrieden, rasch | |
enttäuscht und stets wandelbar, situativ und bindungsschwach. Er ist aber | |
mehr als eine bloße Stimmung. Er folgt einem Muster und ist sofern eine Art | |
Mentalität. Populismus ist dafür höchstens die halb richtige Beschreibung, | |
aber eine besser gibt es nicht. | |
So findet man im bundesdeutschen Populismus manche Affekte und | |
Kurzschlüssigkeiten des klassischen Populismus, etwa die Geringschätzung | |
der politische Eliten und des Betriebs. Anderes, vor allem dessen häßliches | |
Gesicht, die Fixierung auf eine Führerfigur oder die aggressiven Verachtung | |
von Minderheiten, findet sich in Deutschland nur in Spurenelementen. | |
## Das Phänomen | |
Das erste Mal deutlich sichtbar wurde dieses Phänomen 2009 bei der | |
Bundespräsidentenwahl. Damals wurde Joachim Gauck, mit kräftiger medialer | |
Schützenhilfe, als Kandidiat des Volkes inszeniert, als lichte Gegenfigur | |
zum verharschten politischen Apparat. Gaucks Popularitätswerte schossen die | |
Höhe. Das war angesichts der sperrigen Art des Rostocker Pastors, der als | |
Volkstribun eher eine Fehlbesetzung ist, erstaunlich. Die Sympathien flogen | |
Gauck nicht zu, für das was er war, sondern für das, was er nicht war: | |
Politiker. | |
Etwas Verwandtes war 2011 zu beobachten als, ausgelöst durch Fukushima, die | |
Grünen als neue Heilsbringer galten. Sie wurden schon als die neue | |
Volkspartei gefeiert. Für einen Moment schienen die Grünen, die Rebellen | |
von gestern, als Objekt der Sehnsucht nach dem anderen, Authentischen zu | |
taugen. Das war, wie bei Gauck, natürlich ein Irrtum. | |
Aber der Irrtum, in Figuren und Parteien etwas zu sehen was dort eigentlich | |
nicht ist, scheint typisch für diesen Populismus light. Er heftet sich | |
politikverdrossen an wechselnde Figuren, mal an Lügenbaron Guttenberg, mal | |
an Parteien. Um als Objekt der populistischen Sehnsucht zu taugen, muss man | |
politisch in der Mitte angesiedelt sein, aber habituell irgendwie anders. | |
Ein bisschen glamourös (und autoritär) wie Guttenberg, ein bisschen | |
nett-rebellisch wie die Grünen. Die Hinwendung erfolgt ebenso rasch wie die | |
Abwendung. | |
Der derzeitige Erfolg der Piraten passt genau in dieses Muster. Sie sind | |
nicht links, nicht rechts, sondern dort wo fast alle sind, in der Mitte – | |
und doch anders. Vergnügt – und mehr und mehr kokett – bekunden die Piraten | |
vor jeder Kamera ihre Ahnungslosigkeit. Wo sonst CDU und SPD dröhnende | |
Abgrenzungsrituale vorführen, erklären sie mit teddybärhafter Nettigkeit, | |
dass sie offen für alles sind. Man mag den basisdemokratischen Impuls und | |
das Verspechen von Bürgerbeteiligung (immer leicht zu fordern, schwer zu | |
machen) sympathisch finden. Der Grund für den Erfolg der Piraten ist beides | |
nicht. | |
## Projektionsfläche für antipolitische Sehnsüchte | |
Die Piraten werden nicht gewählt, für das was sie sind, sondern für das, | |
was sie nicht sind: eine typische Partei. Sie sind nicht erfolgreich, | |
obwohl sie über kein in sich schlüssiges Programm verfügen, sondern weil | |
sie keines haben. Die Piraten sind in vielem ein leeres Blatt und damit die | |
ideale Projektionsfläche für frei umherschweifenden antipolitische | |
Sehnsüchte. | |
Und diese Rolle spielen sie gut. Sie unterlaufen die gestanzten, | |
formelhaften Rituale der Parteien und karikieren die Spielregel, dass | |
Politiker immer zuständig sind, immer alles wissen und können (die freilich | |
wir, das Publikum, einfordern). Damit halten sie dem Betrieb doppelt den | |
Spiegel vor. Denn Politiker, die vor den Finanzmärkten kapituliert, sind | |
alles anderes als allzuständig und -mächtig. Womöglich tun sie gerade | |
deshalb so. | |
Die Unterschiede zwischen SPD und Union sind zudem in Kernfragen, von der | |
Energie- bis zuir Außenpolitik, längst abgeschmolzen. Gerade weil im | |
Postideologischen die Differenzen verschwimmen, weil, egal wer regiert, | |
immer die politischen Mitte am Ruder ist, pflegen die Parteipolitiker | |
besonders heftige Abgrenzungsattitüden. Die Verweigerungsgesten der Piraten | |
legen genau diese leer drehende Mechanik des politischen Betriebs bloß. | |
## Bringen die Piraten noch Alternativen hervor? | |
Die Piraten sind Ausdruck eines Unbehagen in einer Parteiendemokratie, die | |
keine erkennbaren Alternativen mehr hervorbringt. Das liberale System hat | |
kein Außen mehr. Es bringt keine Alternativen mehr hervor und ist von innen | |
bedroht. „Jeder Staatskörper ohne politische Träume stirbt“, schrieb der | |
Dichter Jean Paul vor 200 Jahren. Und: „Wer nichts will als die Gegenwart, | |
wäre gewiss nicht ihr Schöpfer gewesen“. | |
Die Piraten sind unter anderem ein Produkt dieses Ermüdungsbruchs. Ihr | |
Erfolg ist ein Echo der Leere im Inneren der liberalen Demokratie. Ob sie | |
auch über einen eigenen Ton verfügen, ist zweifelhaft. Auch, ob sie den | |
Wankelmut des Populismus light überstehen. Denn ganz sicher werden bald | |
Ansprüche auf sie zukommen, denen sie nicht gerecht werden können – nämlich | |
„Werdet endlich seriös“ und „Bleibt ganz anders“. | |
Wenn man sich indes Geert Wilders und Umberto Bossi vor Augen führt, fällt | |
ein mildes Licht auf die Piraten. Glücklich, ein Land, dass solche | |
Populisten hat. | |
19 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
## TAGS | |
tazlab 2012: „Das gute Leben“ | |
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