# taz.de -- Piratin Julia Schramm: Die „Privilegienmuschi“ | |
> Die Piratin Julia Schramm polarisiert. Obwohl sie kein Amt inne hat, ist | |
> die 26-Jährige meinungsstark und in den Medien präsent – für einige | |
> Piraten zu stark. | |
Bild: Ist Beschimpfungen im Netz gewohnt: Piratin Julia Schramm. | |
BERLIN taz | In ihrer Wohnung will sie sich nicht treffen. | |
Berlin-Friedrichshain. Ein Kiez voller Flohmärkte und Absturzkneipen. Und | |
auch: Ein Kiez, in dem wohnt, wer auf sich hält, wer sich offen nennt und | |
jung. Sie bleibt dabei. „Keine Homestory.“ Sie, die die Trennung von privat | |
und öffentlich nicht akzeptieren will, hält die Tür geschlossen. | |
Diese Frau, die einmal den Begriff der „Post-Privacy“ verfochten und sich | |
von der Privatsphäre im Netz verabschiedet hat, kandidiert am kommenden | |
Wochenende für den Bundesvorstand einer Partei. Julia Schramm. | |
„Politikergattin“ nennt sie sich, oder „Privilegienmuschi“. Julia Schra… | |
Piratin und Publizistin, eckt an. | |
Die Vorwürfe, die man ihr macht, wiederholen sich: mediengeil, | |
inszenierungssüchtig, ein Bühnenluder. Sie nutze die politische Prominenz | |
ihres Verlobten, des Berliner Abgeordneten Fabio Reinhardt. Und Schramm? | |
Hält es aus. Behütet wächst sie auf, in Hennef bei Bonn, die Mutter | |
Hausfrau, der Vater Ingenieur. | |
Sie hat einen jüngeren Bruder und eine jüngere Schwester. Früh bläut die | |
Mutter der ältesten Tochter ein, finanziell unabhängig zu sein – und | |
schenkt ihr Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“. Wenn sie über ihre | |
Kindheit spricht, sagt Schramm Sätze wie: „Ich war schon in der vierten | |
Klasse gegen das dreigliedrige Schulsystem.“ | |
## Ihr Thema ist der Datenschutz | |
Ihre Helden der Pubertät waren Hesse, Marx und Nietzsche. Schramm geht nach | |
Bonn und studiert Politik, Amerikanistik, Staatsrecht. Nach dem Abschluss | |
zieht sie nach Berlin. Sie will promovieren, ihr Thema ist der Datenschutz. | |
Sie schreibt ein Buch über das Leben ihrer Generation im Netz. Im September | |
soll es erscheinen, der Titel ist noch geheim. Schramm schreibt im | |
„Piraten-Wiki“: „Ich habe Zeit. Ich habe Geld.“ | |
Vielleicht war es das Buch von Simone de Beauvoir, vielleicht war es die | |
Uni. Die 26-Jährige nennt sich Feministin, ein Begriff, der für sie | |
Tradition und Geschichte hat. Als Julia Schramm im März eine parteiinterne | |
Umfrage im Berliner Piraten-Büro zum Thema Sexismus und Umgang mit | |
Gender-Fragen der Presse vorstellt, ist sie dabei. Sie wirkt sympathisch | |
und offen. | |
Schramm sitzt nicht mit ihrem Laptop auf dem Podium. Sie will jeden Moment | |
verfolgen, sich nicht ablenken lassen. Wenn Fragen aus dem Plenum kommen, | |
fokussiert sie den Redner und antwortet mit fester Stimme. Doch auch für | |
ihr feministisches Engagement wird Schramm kritisiert. Die Piratenbasis mag | |
sich den Sexismusvorwurf nicht anhören. | |
Nicht selten liest Schramm dann im Netz anonyme Kommentare wie „Die muss | |
mal gebumst werden“. Und Schramm? Hält es aus. Julia Schramm ist angreifbar | |
– weil sie sich exponiert. Sie sucht die Öffentlichkeit, will ihre Themen | |
vorantreiben. Einen weiteren Angriffspunkt bietet ihre Depression. Als sie | |
noch in Bonn studierte, war sie deswegen in Therapie. Sie geht damit | |
bemerkenswert offen um. Es sei eher „eine Quarterlife-Crisis“ gewesen, sagt | |
sie heute. Es gehe ihr wieder gut. | |
## Angriffspunkt Depression | |
Zum Treffen der „Spätrömischen Dekadenz“, einem informellen, kommunalen | |
Piratentreff, kommt Julia Schramm pünktlich in den Berliner Kunstraum HBC. | |
Sie sieht müde aus, ihre Stimme ist brüchig. Plötzlich scheint ihr alles zu | |
viel zu sein. Die Vorwürfe, selbstbezogen, oberflächlich zu sein. Der | |
Presse gegenüber wollen sich die Piraten zu Schramms Kandidatur nicht | |
äußern. | |
Die Partei, die sich sonst so sehr um Transparenz bemüht, sagt „kein | |
Kommentar“. In der vermeintlich anonym-virtuellen Welt sieht das anders | |
aus. Julia Schramm wirft sich auf ein Sofa, sagt: „Angeblich lüge ich.“ Es | |
geht um eine Twitter-Nachricht, in der Schramm Ende Januar vom Altliberalen | |
Gerhart Baum geschwärmt hat. Sie schrieb: „Gespräch mit Gerhart Baum auf | |
dem Weg zurück hat mich irgendwie zum … äh … Datenschützer gemacht o.Ö.… | |
Nun also doch eine Datenschützerin? „Ich habe mich halt weiterentwickelt“, | |
sagt Schramm. Warum jemand für Datenschutz eintritt, versteht sie | |
mittlerweile besser. Doch die Gefahr einer Bürgerüberwachung ist damit | |
nicht aus der Welt für sie. Nach dem Gespräch mit Baum soll Schramm gesagt | |
haben, dass der Altliberale ihre Kandidatur unterstütze. Sie dementiert. | |
Bei jedem Treffen ist Schramm hundertprozentig präsent. Sie weiß, wie sie | |
etwas kommuniziert. Julia Schramm, die bis jetzt kein Amt in der Partei | |
innehat, zählt laut Stern zu den „wichtigsten Köpfen der Piraten“. Sie ist | |
auch mal laut und hat zu vielen Themen eine Meinung. Die Basis der Piraten | |
schätzt das nicht. | |
## Männer im Hintergrund | |
Sie mögen ihre Männer, die eher im Hintergrund arbeiten. Trotzdem stehen | |
Schramms Chance für den Parteivorstand nicht schlecht. Im „Piraten-Wiki“ | |
hat sie bereits 125 Unterstützer, der aktuelle Bundesvorsitzende Sebastian | |
Nerz 137. Sie gehört zu dem Flügel der Piraten, die professionell Politik | |
machen wollen. | |
Auch zu der aktuellen Debatte, dem Umgang mit Rechtsradikalen in der | |
Partei, hat sie eine Meinung. „Wir dürfen in dem Bereich nichts | |
relativieren, wie das gerade passiert. Das ärgert mich“, sagt sie. Schramm | |
versetzt mit diesem Satz Sebastian Nerz einen Seitenhieb, denn der | |
Bundesvorsitzende hat da kein Problem. | |
Die Geschichte ihrer Politisierung beginnt mit den Al-Qaida-Anschlägen vom | |
11. September 2001 in New York. „Das war der Wendepunkt. Ich entschied mich | |
gegen ein Leben im Hedonismus“, sagt Schramm heute. Sie begibt sich auf die | |
Suche nach einer geeigneten Partei. „Bei den Grünen konnte ich nicht landen | |
wegen der Perlenohrringe, die SPD unter Schröder ging auch nicht, und die | |
CDU stand nie zur Debatte.“ | |
Stattdessen wird Schramm im Jahr 2005 Mitglied bei den Jungliberalen, die | |
auf den ersten Blick „freiheitlich wirkten und zynisch-lustig waren“. Im | |
März 2009 absolviert sie ein Praktikum in der FDP-Landtagsfraktion von | |
Nordrhein-Westfalen. „Das war der Todesschuss“, sagt Schramm. So | |
freiheitlich waren sie dann doch nicht. In ihrem Blog schreibt sie: „Bisher | |
hatte ich nur die Freiheitskämpfer gesehen. | |
## Wie ein Pali-Tuch | |
Dahrendorf, Hamm-Brücher, Scheel. Baum. Jetzt sah ich die FDP in Gänze. Und | |
es gefiel mir gar nicht.“ Als sie ein Tchibo-Glitzertuch im Büro trägt, | |
wird sie ermahnt, dass es wie ein Pali-Tuch aussehen könne. Julia Schramm | |
stößt auf die Piraten. Eher weil sie, die Politologin, es spannend findet, | |
eine Partei von Anfang an zu begleiten, auszuprobieren. Ein Experiment. | |
„Wieso will mich jeder zwingen, in ein Parlament zu gehen. Nur weil ich | |
Titten habe?“, fragt sie im September 2011 auf Twitter. Ein halbes Jahr | |
später bewirbt sie sich trotzdem um ein Amt. Eine Frauenquote in ihrer | |
Partei lehnt Schramm zum jetzigen Zeitpunkt ab. Sie möchte nicht nur in ein | |
Amt gewählt werden, weil sie eine Frau ist. Genau das ist aber ihr großer | |
Vorteil, denn der Piratenpartei mangelt es an Frauen. | |
Die politische Geschäftsführerin Marina Weisband wird nicht mehr | |
kandidieren. Die Stelle an der Spitze der Partei ist neu zu besetzen. Bei | |
ihrer Kandidatur geht es Schramm nicht primär um Feminismus oder das | |
vermeintliche Frauenproblem in der Partei. „Ich will, dass wir eine | |
Plattform entwickeln, mit der die europäischen Piraten ein gemeinsames | |
Wahlprogramm für die Europawahlen erarbeiten können“, sagt sie. | |
Außerdem will sie ein Debattenportal konzipieren – dort sollen die | |
Meinungen ihrer Kollegen gebündelt werden und in offizielle Positionen | |
sowie Anträge führen. Die Arbeit des Bundesvorstands nennt sie „politische | |
Verwaltung“. Oft betont Julia Schramm im Gespräch, dass sie mit dem | |
jetzigen Piraten-Chef Sebastian Nerz nicht unzufrieden sei. Sie äußert ihre | |
Kritik bedacht: „Er ist sachlich, ruhig und zu vielen Dingen sagt er halt: | |
’Dazu kann ich nichts sagen‘.“ | |
## Beziehung auf Twitter | |
Nerz selbst war kürzlich Opfer von Hasstiraden im Internet, weil er der | |
Berliner Fraktion den Mund verbieten wollte. So etwas würde ihr | |
wahrscheinlich nicht passieren. Sie will, dass die Mitglieder entscheiden. | |
Auch ein Vorteil für Schramm: Sie ist Beschimpfungen im Netz gewohnt. | |
Ihre Beziehung zu dem Berliner Abgeordneten Fabio Reinhardt zelebrieren | |
beide öffentlich auf Twitter. Sie hat im Netz ein Foto ihres | |
Verlobungsrings veröffentlicht. Reinhardts Kollege Gerwald Claus-Brunner | |
kommentiert: „21. Jahrhundert und dann heiraten, wie rückständig ist das | |
denn?“ Schramm reagiert gelassen und antwortet, es sei besser, rückständig | |
zu sein, als intolerant. | |
Mittlerweile lehnt Julia Schramm viele Presseanfragen ab und redet nicht | |
mehr mit Bild. „Einen Mediencoach habe ich nicht“, sagt Schramm. Sie nutze | |
die Medien nur, weil sie eine Stimme haben will. Und die Medien nutzen sie, | |
weil sie attraktiv ist, reden kann und klare Positionen hat. | |
Twitter. Hasstiraden. Transparenz. Feminismus. Nazis. Reporter. Der | |
schnelle Erfolg. Die Endlosdebatten. Und Schramm? Hält es aus. Oder? „Man | |
muss differenzieren“, sagt sie schlicht, „was persönlich gegen mich | |
gerichtet ist und was Projektion ist.“ | |
27 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Enrico Ippolito | |
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