# taz.de -- Berliner Stromnetz in Bürgerhand: „Größenwahn? Den braucht man… | |
> Eine Genossenschaft will das Berliner Stromnetz kaufen. Sie braucht ein | |
> paar Millionen Euro und viel Organisation. Bisher heißt der Netzbetreiber | |
> Vattenfall. | |
Bild: Strom selber machen? Erst mal das Netz kaufen. | |
BERLIN taz | Luise Neumann-Cosel träumt von 34.943 Kilometern Kabeln, 934 | |
Kilometern Freileitungen und rund 2,2 Millionen Stromanschlüssen. Dabei ist | |
sie kein Kabel-Nerd mit einem Hang zu Drähten und Voltzahlen. | |
Neumann-Cosel ist Ökoaktivistin, 26 Jahre alt, sie trägt einen Button mit | |
der „Atomkraft nein danke“-Sonne, ihre blonden Haare hat sie zu einem Dutt | |
zusammengewuschelt. Gerade hat sie ihr Diplom in Geoökologie gemacht, jetzt | |
baut sie die Genossenschaft Bürgerenergie Berlin mit auf, um das örtliche | |
Stromnetz zu kaufen. | |
Ende 2014 läuft nämlich der aktuelle Konzessionsvertrag mit Vattenfall ab. | |
Bis dahin wird die Landesregierung einen neuen Netzbetreiber auswählen, als | |
letzte Instanz entscheidet das Parlament, wer ab 2015 den Betrieb | |
übernimmt. Neumann-Cosel will sich mit ihrer Genossenschaft bewerben: Die | |
Stromnetze sollen zurück in Bürgerhand, erneuerbare Energien sollen | |
Vorfahrt erhalten – und vor allem soll der Gewinn aus dem Betrieb des | |
Stromnetzes nicht länger an den schwedischen Energiekonzern Vattenfall | |
fließen. | |
An vielen Orten in Deutschland planen BürgerInnen oder Kommunen derzeit, | |
die Stromnetze nach der Privatisierungswelle in den neunziger Jahren | |
zurückzukaufen. In Hamburg kämpft die Initiative „Unser Hamburg – Unser | |
Netz“ für die Rekommunalisierung, im niedersächsischen Oldenburg und im | |
baden-württembergischen Remstal fordern Energiegenossenschaften das Netz in | |
Bürgerhand. Die Stadt Rüsselsheim hat 2008 ihre Stromnetze zurückgekauft, | |
in der baden-württembergischen Stadt Titisee-Neustadt hat eine | |
Genossenschaft mitgeholfen. | |
Neumann-Cosel steckt einen Großteil ihrer Zeit in das neue Projekt. Unter | |
ihren Mails steht „von unterwegs gesendet“, ihr orangefarbener | |
Tourenrucksack beult sich vollgepackt, an der Seite steckt eine | |
Wasserflasche, immer mal wieder lugt sie auf ihr Smartphone, um Termine | |
nachzuschauen. Nur den Donnerstagabend hält sie sich für ihre Chorprobe | |
frei – auf dem Rücken ihres Kapuzenpullovers steht „Cantus Domus“, der N… | |
ihres Chors. „Es gibt nichts Besseres als zu singen, um den Kopf | |
freizukriegen“, sagt sie. | |
## Vom Wendland geprägt | |
Woher diese Begeisterung für das Stromnetz? Für Energie interessiert sich | |
Luise Neumann-Cosel schon seit zehn Jahren. Mit sechzehn fuhr sie das erste | |
Mal auf eine Anti-Castor-Demonstration ins Wendland: „Geplant war, nach der | |
Demo nach Hause zu fahren. Ich war dann aber so umgeworfen von der | |
Situation dort. Ich habe gedacht: Das kann doch nicht wahr sein, hier läuft | |
etwas unglaublich schief, und keiner spricht darüber. Ich bin dann | |
sprichwörtlich dabeigeblieben und habe mich auf die Straße gesetzt.“ | |
Sie wurde Pressesprecherin der Castorblockierer, diskutierte bei Maybrit | |
Illner über den Atomausstieg und arbeitete zuletzt bei der | |
Anti-Atom-Kampagne .ausgestrahlt – jetzt lebt sie von ihrem Ersparten und | |
kümmert sich um die Genossenschaft. | |
Für sie ist das der nächste logische Schritt. „Wir sagen nicht: Wir wollen | |
keine Atomkraftwerke. Jetzt sagen wir: Das wollen wir, nämlich dezentrale, | |
erneuerbare Energieversorgung. Wenn die Politik das nicht umsetzt, dann | |
müssen wir es selbst tun.“ | |
## Der Kunde wählt den Stromanbieter selbst | |
Das Problem: Der Netzbetreiber allein kann die Energiewende nicht | |
einläuten. Denn jeder Kunde kann seinen Stromanbieter frei auswählen, der | |
Betreiber muss den Strom dann durchleiten – egal ob Atomstrom oder | |
Ökostrom. Die Preise für den Stromtransport reguliert die Bundesnetzagentur | |
– auch hier also wenig Einfluss. | |
Außerdem ist jeder Betreiber, ob Genossenschaft oder Vattenfall, gesetzlich | |
verpflichtet, Windkraftwerke, Solarpanels und Biogasanlagen ans Netz zu | |
bringen. Zumindest dabei gibt es aber geringe Spielräume, die ein Betreiber | |
so oder so nutzen kann. Dierk Bauknecht, Energieexperte beim Ökoinstitut, | |
sagt: „Es gibt einen deutlichen Unterschied, ob jemand nur Dienst nach | |
Pflicht macht oder ob der Netzbetreiber den Ausbau der Stromnetze für | |
regenerative Energien fördert.“ | |
Neumann-Cosel plant, wie sie sagt, das Netz „proaktiv“ zu gestalten. Das | |
hieße: die Leitungen schon im voraus so auszubauen, dass der Anschluss von | |
regenerativen Energien besser klappt, wenn es sie in Berlin in | |
nennenswertem Umfang gibt. | |
Allerdings: „Die Musik spielt eindeutig auf der Seite von Vertrieb und | |
Erzeugung“, sagt der Aachener Gutachter Wolfgang Zander, der Gemeinden bei | |
der Rekommunalisierung von Stromnetzen berät. Luise Neumann-Cosel gibt sich | |
entspannt: „Eins nach dem anderen. Natürlich, wenn das Projekt erfolgreich | |
ist, wäre der nächste logische Schritt, auch an die Stromerzeugung zu | |
denken.“ | |
Das wichtigste Argument Neumann-Cosels für den Netzkauf ist aber: „Wir | |
wollen, dass der Gewinn zu den Bürgern zurückfließt und nicht an | |
Vattenfall.“ Genau genommen fließt das Geld allerdings nur an die | |
BürgerInnen, die mindestens 500 Euro in die Genossenschaft einzahlen. Die | |
Eigenkapitalrendite liegt bei effizientem Betrieb bei 7 bis 9 Prozent. Für | |
die GenossInnen kann dies also eine lohnenswerte Geldanlage sein. | |
## Die erste Million | |
Doch zuvor muss genug Geld zusammenkommen. „Bisher haben wir eine Million | |
Euro an verbindlichen Zusagen“, sagt Neumann-Cosel. Wenn Berlin die | |
Konzession an die Genossenschaft gibt, muss diese Vattenfall das Stromnetz | |
abkaufen. Je nach Gutachten variieren die Kosten zwischen 300 Millionen | |
Euro und 3 Milliarden Euro. | |
Wenn Neumann-Cosel mit ihrer unaufgeregten Stimme von dem Projekt erzählt, | |
hört es sich an, als sei das Ganze eine klare Sache. Doch die | |
entscheidenden Probleme, die bis zur offiziellen Bewerbung geklärt sein | |
müssen, hat sie noch nicht gelöst. Woher soll die technische Expertise | |
kommen? Dafür könne man sich ja einen Partner besorgen. Woher soll das | |
ganze Geld kommen? Das sei das geringste Problem, sagt Neumann-Cosel. „Es | |
gibt ja unglaublich viel Geld in Deutschland, die privaten Haushalte haben | |
ein Geldvermögen von 4,9 Billionen Euro.“ | |
Aber wie realistisch ist es, dass alles klappt? „Klar, dieses Projekt hat | |
etwas von Größenwahn – den braucht man aber auch“, sagt Neumann-Cosel. Wie | |
in Schönau: In der Schwarzwaldgemeinde wollten BürgerInnen nach Tschernobyl | |
die Energiepolitik in die eigene Hand nehmen. 1997 kauften sie das örtliche | |
Stromnetz, inzwischen ist ihr Unternehmen einer der vier | |
konzernunabhängigen Öko-Stromanbieter in Deutschland. | |
Die Initiative im Netz: [1][www.buergerenergie-berlin.net] | |
27 Apr 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.buerger-energie-berlin.de/ | |
## AUTOREN | |
Fiona Weber-Steinhaus | |
## TAGS | |
Bürgerenergie | |
Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Akzeptanzprobleme in der Windbranche: Gigantomanie und Nordfokus | |
Seit diesem Jahr werden Windturbinen mit einem neuen System gefördert. Es | |
soll Ökoenergie billiger machen. Doch eigentlich gefährdet es die Branche. | |
Bürgerprojekte in Deutschland: Politik grätscht dazwischen | |
Die Gründung von Energiegenossenschaften brach laut einer neuen Statistik | |
2014 um 60 Prozent ein. Die Ursachen sind politischer Natur. | |
Oberleitungen für Autobahnen: Nicht so abwegig, wie es klingt | |
Ungewöhnlicher Vorschlag des Umweltrats: Lastwagen fahren mit Ökostrom – | |
wie Trolleybusse. Das könnte die Lösung für den umweltschädlichen | |
Güterverkehr sein. | |
Energieversorgung in Deutschland: Eon pokert mit Gaskraftwerken | |
Angeblich sollen drei Kraftwerke in Süddeutschland vom Netz gehen. Im | |
Prinzip ist der Strombedarf gedeckt. Doch es gibt Lücken. Wer zahlt | |
Reserveanlagen? | |
Bundesnetzagentur legt Jahresbericht vor: Zu wenig Leitungen, zu wenig Strom | |
Der Ausbau des Stromnetztes verzögere sich weiter, erklärt die | |
Bundesnetzagentur. Zudem warnt die Behörde vor Engpässen bei der | |
Stromversorgung. | |
Kommentar Energiewende: Ein Rückfall in alte Zeiten ist unmöglich | |
Viel wurde geredet, dann viel besprochen. Derzeit geht die Energiewende ein | |
wenig zu schnell voran. Das Energiesystem steht vor Problemen, ist aber | |
kein Desaster. | |
Energie I: Bürger wollen an die Leitung | |
Das Berliner Stromnetz könnte bald Bürgern gehören: Eine neue | |
Genossenschaft will Vattenfall das Netz abkaufen - der Gewinn soll der | |
Stadt zugute kommen. | |
Energie II: "Operation am offenen Herzen der Stadt" | |
Vattenfall-Manager Rainer Knauber über Wohltätigkeit, Rendite und | |
intelligenten Stromverbrauch. | |
Beliebte Berliner Energienetze: Nebenbuhler für Gasag und Vattenfall | |
Vorm Auslaufen der Konzessionsverträge: Gleich mehrere Unternehmen haben | |
ihr Interesse angemeldet, die Netze für Gas und Strom in Berlin zu | |
betreiben. | |
Berliner Stromnetz: Zaghafte Zusage | |
Die Grünen wollen das Volksbegehren des Energietisches unterstützen. Dessen | |
zentrale Forderung nach Rekommunalisierung findet in der Partei jedoch | |
wenig Anklang. | |
Rückkauf der Energienetze: Vattenfall verkauft sich zu teuer | |
Ein Volksbegehren fordert die Rekommunalisierung des Berliner Stromnetzes. | |
Das kostet bis zu drei Milliarden Euro, sagt der Senat - weil er dem | |
Betreiber blind glaubt. |