# taz.de -- Akzeptanzprobleme in der Windbranche: Gigantomanie und Nordfokus | |
> Seit diesem Jahr werden Windturbinen mit einem neuen System gefördert. Es | |
> soll Ökoenergie billiger machen. Doch eigentlich gefährdet es die | |
> Branche. | |
Bild: Ansichtssache: bunt beleuchtetes Windrad bei Sehnde | |
BERLIN taz | Weltrekord. Ein 230 Meter hohes Windrad. Der Brummer ist | |
vergangenes Jahr in der Hunsrück-Gemeinde Hausbay ans Netz gegangen. Schon | |
der Turm ist 164 Meter hoch, die Rotorblätter sind 66 Meter lang. Macht | |
zusammen 230 Meter. | |
Der Kölner Dom nimmt sich mit 157 Metern dagegen fast kleinwüchsig aus. Mit | |
den netten Windrädchen der Anfangszeit haben solche Kolosse nichts mehr | |
gemeinsam. | |
Die Rekordmarke wird nicht lange halten. Im Nordosten Baden-Württembergs | |
sind mehrere Windräder im Bau, die bis Ende des Jahres die 240-Meter-Marke | |
reißen werden. Und die Entwicklung geht ungebremst weiter. Die ersten | |
Turbinenhersteller wollen ab 2019 Propeller mit 150 Metern Durchmesser | |
anbieten. Schon wird mit EU-Geldern die Entwicklung von 300-Meter-Riesen | |
gefördert. | |
## Gefördert wird, wer am wenigsten nimmt | |
Die immer wieder aufflackernden Akzeptanzprobleme der Branche hängen | |
womöglich auch mit der Gigantomanie zusammen. Sie ist aber nur ein Problem | |
von vielen, mit denen das „Arbeitspferd der Energiewende“ kämpfen muss. Ein | |
anderes ist die starke Massierung der Windflügler im Norden der Republik. | |
Oder der lawinenartige Absturz, der 2019 der Branche droht. | |
Seit diesem Jahr gibt es außerdem für neue Windkraftanlagen ein neues | |
Vergütungssystem. Bisher gab es für alle Anlagen eine feste Vergütung für | |
jede Kilowattstunde erzeugten Strom. Jetzt wird die Vergütung über eine | |
Ausschreibung festgelegt, die vierteljährlich stattfindet. Der Staat | |
fördert dabei nur eine bestimmte Anzahl an Windrädern. Wer innerhalb dieses | |
sogenannten Ausbaukorridors mit der niedrigsten Förderung auskommt, der | |
darf bauen. Die jüngste Ausschreibung lief bis Donnerstagabend, 24 Uhr – | |
bis dahin konnten Gebote an der Pforte der Bundesnetzagentur in Bonn | |
abgegeben werden. Das neue Verfahren bringt ein ganzes Bündel an | |
Schwierigkeiten mit sich. | |
Die ersten beiden Auktionsrunden waren ökonomisch erfolgreich, weil die | |
Anbieter des Windstroms nur 4,20 bis 5,78 Cent je Kilowattstunde | |
verlangten. Im alten System waren es zuletzt 8,38 Cent. Dennoch verliefen | |
die Vergaben längst nicht so glatt wie von der Bundesregierung behauptet | |
(„ein voller Erfolg“). Im Gegenteil: Viele Marktbeobachter, Hersteller und | |
Projektierer sind entsetzt. Sie sprechen von einem „Desaster“ (Hersteller | |
Enercon), von „ruinösen Preisen“ (Projektierer SL Naturenergie) oder von | |
„zerstörerischen Elementen“ (Projektierer Juwi). Deutschland sei munter | |
dabei, seine Vorreiterrolle beim Klimaschutz und seine herausragende | |
Marktstellung zu verlieren, bilanziert „Neue Energie“, das Fachmagazins des | |
Bundesverband Windenergie. | |
Schon in den ersten beiden Runden war der Wurm drin. Die taz monierte, dass | |
sich Großprojektierer hinter fingierten „Bürgerenergiegesellschaften“ | |
verstecken, um im Ausschreibungswettbewerb die Privilegien der | |
Bürgerprojekte zu nutzen. Die bekommen eine leicht höhere Vergütung und sie | |
dürfen Projekte ohne vollzogene Genehmigung einreichen. Für deren | |
Realisierung dürfen sie sich zwei Jahre mehr Zeit lassen. Damit können sie | |
günstiger kalkulieren, weil sie auf die künftige Marktentwicklung mit | |
weiter fallenden Preisen spekulieren. Wie viele „Bürger“ als Strohmänner … | |
Start waren, ist schwer zu sagen. Hartmut Brösamle, Vorstandsmitglied des | |
Windpark-Projektierers WPD, hat recherchiert, dass 45 der bei den Auktionen | |
„siegreichen“ Bürgergesellschaften „im letzten Monat neu gegründet“ w… | |
## Jede Menge Luftbuchungen | |
Das große Manko der zu über 90 Prozent erfolgten Vergabe an echte oder | |
fingierte Bürgerenergiegesellschaften: Nur 36 der fast 500 bezuschlagten | |
Anlagen haben bereits eine Genehmigung. Eine beträchtliche Zahl von | |
Projekten wird die fehlende Genehmigung wahrscheinlich niemals erhalten, | |
weil Einsprüche kommen, die Verwaltungen restriktiv vorgehen oder weil sich | |
nach Landtagswahlen die politischen Vorzeichen geändert haben. Einige | |
Projekte werden vermutlich auch aus wirtschaftlichen Gründen aufgegeben, | |
weil sie in der Hitze des Wettbewerbs zu optimistisch kalkuliert wurden. | |
Wegen dieser Luftbuchung könnten sich die politischen Zielvorgaben für die | |
Energiewende bei der Windkraft als Fata Morgana erweisen. Wenn 2.800 | |
Megawatt per annum auktioniert, davon aber Jahre später nur 1.500 oder | |
2.000 Megawatt tatsächlich realisiert werden, hätten sich die Ausbau- und | |
Klimaziele pulverisiert. | |
Die Windlobby verlangt, die nicht gebauten Anlagen in den nächsten | |
Ausschreibungsrunden als zusätzliches Volumen draufzuschlagen, um die | |
Ausbauziele umzusetzen. Das aber lehnt das Wirtschaftsministerium ab. Dort | |
glaubt man an eine hohe Realisierungsrate. | |
Auch die Geografie der Energielandschaft wird durch das neue Verfahren | |
verschlimmert. Schon jetzt stehen 75 Prozent der Windräder in den | |
nördlichen Bundesländern, wo das Netz immer öfter überlastet ist und | |
Windräder abgeschaltet werden. Perspektivisch müssen immer größere Mengen | |
Windstrom in die südlichen Industriegebiete geleitet werden. | |
Zwar wurden im Süden in den letzten Jahren mehr Windanlagen gebaut, doch | |
dieser Aufholprozess wurde jetzt brachial abgewürgt. Mit dem neuen | |
Vergabesystem verstärkt sich die Unwucht. Ergebnis der ersten beiden | |
Ausschreibungen: 85 Prozent der bezuschlagten Anlagen gehen in den Norden, | |
der Süden verliert. Diese Massierung ist bei Windflauten fatal. Bleibt es | |
in Norddeutschland windstill, fallen drei Viertel aller Anlagen als | |
Stromlieferanten aus. Da irgendwo in Deutschland fast immer der Wind weht, | |
wäre eine gleichmäßigere Verteilung zwingend erforderlich. | |
## Schlecht für Kretschmann | |
Ausgerechnet Baden-Württemberg, das unter der grünen Regierung Kretschmann | |
vehement aufgeholt hatte, ging beim neuen Verfahren bislang komplett leer | |
aus. Auch das Saarland verzeichnet eine kugelrunde Null. Ebenso sind Bayern | |
und die Pfalz stark benachteiligt. | |
Für Gebiete mit schwächerem Wind gibt es zwar einen extra Zuschlag, aber | |
der war zu gering kalkuliert, um die Kostenvorteile in den flachen, gut | |
zugänglichen Regionen der Nordlichter auszugleichen. Im bergigen Süden | |
werden viele Anlagen in Waldgebieten gebaut. Diese Standorte sind | |
kostenaufwendiger, schwerer zugänglich und deshalb kaum konkurrenzfähig. | |
Während die Auktionen weiterlaufen, ist die Endphase für all jene Projekte | |
eingeläutet, die noch nach altem ErneuerbareEnergien-Gesetz gebaut werden | |
und ohne Ausschreibung eine Förderung bekommen. Wegen der drohenden | |
Gesetzesänderung hatte im vergangenen Jahr ein Last-Minute-Boom | |
eingesetzt. Viele wollten die letzte Chance nutzen, noch aus freien Stücken | |
ohne Auktionspflicht zu bauen. | |
Die Folge war ein rekordverdächtig strammer Zuwachs 2016 und 2017, der auch | |
2018 noch anhalten dürfte. Die große Flaute droht 2019, wenn die Windmühlen | |
aus der „guten alten Zeit“ vor der Ausschreibung alle in Betrieb gegangen | |
sind. Aus den neuen Auktionsrunden kommen aber sehr viel weniger Projekte | |
nach. Branchenvertreter monieren, dass es immer schwieriger wird, überhaupt | |
noch Geld zu verdienen, da sich die Vergütungssätze von Ausschreibung zu | |
Ausschreibung in einem immer niedrigeren Korridor bewegen. | |
Sollte 2019 der Absturz zu einer Halbierung oder Drittelung des | |
Zubauvoumens führen, wären heftige Verluste unter den 120.000 | |
Arbeitsplätzen der Branche die Folge. Die Firmen brauchen, wie andere | |
Industrien auch, eine Verstetigung ihres Geschäfts. Was sie in den letzten | |
Jahren erlebt haben, war ein ständiges Herumschrauben an den | |
Fördermodalitäten mit großer Verunsicherung. | |
## Wind hängt Atom ab | |
Die erstaunlichen Erfolge der Windstromer der letzten Jahre gehen | |
angesichts der neuen Problemlage fast unter. So wurde im ersten Halbjahr | |
2017 fast geräuschlos ein historischer Überholvorgang vollzogen: Wind | |
schlägt Atom! Die Bruttostromerzeugung der Windräder lag mit 48,9 | |
Milliarden Kilowattstunden erstmals – und zwar deutlich – höher als die der | |
deutschen Atommeiler mit 33,6 Milliarden Kilowattstunden. Wind deckt jetzt | |
rund 17 Prozent des Stromverbrauchs mit deutlicher Klimawirkung. Geht der | |
Ausbau weiter voran, wird die Windenergie nach Zahlen des Umweltbundesamts | |
in den nächsten zehn Jahren so viel CO2 vermeiden, wie die Deutschen | |
insgesamt pro Jahr ausstoßen: 900 Millionen Tonnen. | |
Gegenwärtig drehen sich in Deutschland rund 29.000 Windräder – onshore und | |
offshore – mit einer Kapazität von 52.700 Megawatt. Sie werden von 600 | |
Bürgerinitiativen bekämpft. Dennoch steht die Mehrheit der Deutschen dem | |
Ausbau noch positiv gegenüber, wie die soeben vorgelegte Herbst-Umfrage | |
2017 der Fachagentur Windenergie bestätigt. Nur jeder vierte Deutsche hätte | |
Bedenken, wenn in seinem Umfeld ein Windrad aufgestellt würde. | |
Die Akzeptanz wird auch vom weltweiten Boom gestützt. 86 Prozent der 2016 | |
Jahr in Europa gebauten Kraftwerke nutzen erneuerbare Energiequellen. Die | |
Windkraft liegt dabei mit einem Anteil von 51 Prozent an erster Stelle. | |
Ausgerechnet Atomweltmeister Frankreich hat nach Deutschland Platz zwei | |
erobert, aber auch Finnland, Irland, Litauen und die Niederlande haben 2016 | |
so stark zugebaut wie nie zuvor. | |
Selbst bei Offshore-Anlagen ist die Stagnation vorbei. Die Windparks der | |
Nordsee steigerten die Stromerzeugung im ersten Halbjahr 2017 um satte 50 | |
Prozent gegenüber 2016. Hier sorgt indes ein gigantisches Projekt für | |
Aufsehen: In der Nordsee sollen in einem irrsinnigen Großprojekt künstliche | |
Inseln erschaffen werden, um einen Riesenwindpark mit mehr als 10.000 | |
Turbinen zu betreiben, der Strom für die Niederlande, Dänemark, | |
Großbritannien und Deutschland liefern soll. | |
3 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Joshua Kasberg | |
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