# taz.de -- Alle zehn Jahre ein Super-GAU: Die Wahrheit schlichter Mathematik | |
> Die Wahrscheinlichkeit eines Atomunfalls ist 200-mal höher als bislang | |
> angenommen. Weltweit am meisten gefährdet ist der Südwesten Deutschlands. | |
Bild: Gedenksteine für die Tschernobyl-Opfer in Kiew. | |
BERLIN taz | Millionen Menschen im Südwesten Deutschlands wären betroffen: | |
Wer in der Nähe der Landesgrenzen zu Belgien und Frankreich wohnt, muss | |
damit rechnen, in den kommenden 50 Jahren Opfer einer atomaren Kernschmelze | |
in seiner Nähe zu werden. Wegen der hohen Meilerdichte ist die Gefahr hier | |
weltweit am höchsten. | |
Global ist ein Super-GAU theoretisch sogar alle 10 bis 20 Jahre möglich. | |
Das sagen nicht etwa Hardcore-Atomkritiker, sondern das renommierte Mainzer | |
Max-Planck-Institut für Chemie – in einer jüngst im Fachblatt Atmospheric | |
Chemistry and Physics veröffentlichten Studie. | |
Die Untersuchung beruht auf schlichter Mathematik: „Nach Fukushima habe ich | |
mich gefragt, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein solcher Unfall | |
wieder passiert“, sagt Institutsleiter Jos Lelieveld. Sein Team teilte die | |
Laufzeit aller 440 weltweit aktiven AKWs durch die Zahl der bisherigen | |
Kernschmelzen. | |
Ergo: Bei einer Reaktorenlaufzeit von insgesamt 14.500 Jahren sowie vier | |
Kernschmelzen – eine in Tschernobyl und drei in Fukushima – ergibt sich: | |
Alle 3.625 Reaktorjahre kommt es zum größten anzunehmenden Unfall, dem GAU. | |
Selbst wenn man konservativ auf einen GAU pro 5.000 Reaktorjahre aufrundet, | |
liegt das Risiko damit 200-mal höher, als offizielle US-Schätzungen im Jahr | |
1990 ergaben. | |
## Bedrohlich für Ballungsräume | |
„Wenn wir Fukushima nur als einen GAU betrachten, verringert sich das | |
Risiko um die Hälfte“, sagt Lelieveld. Damit begegnet er potenzieller | |
Kritik von Atomfreunden, die Unfallserie nach dem Tsunami im März 2011 | |
einzeln einberechnet zu haben. Die Atmosphärenchemiker erforschten zudem, | |
wie sich die radioaktive Belastung nach einem GAU verteilt. | |
Demnach würde die Hälfte des radioaktiven Cäsium-137 mehr als 1.000 | |
Kilometer, ein Viertel weiter als 2.000 Kilometer transportiert – | |
bedrohlich für Ballungsräume mit AKWs auch in weiterer Entfernung wie | |
Westeuropa. | |
Der Atomsicherheitsexperte Wolfgang Renneberg hält die Studie für | |
verdienstvoll: „Wenn es ein Max-Planck-Institut sagt, hat es eine höhere | |
Durchschlagskraft, als wenn es Greenpeace sagt“, sagt Renneberg, früher | |
Abteilungsleiter im Bundesumweltministerium. Selbst wenn Atombefürworter | |
die Aussagen für deutsche Anlagen anzweifelten, gelte: „Es gibt AKWs auf | |
der Welt, die viel schlechtere Sicherheitswerte haben.“ | |
## „Schlimmer als in Japan“ | |
Handlungsbedarf sieht er aufseiten der EU: Sie müsse dafür sorgen, „dass | |
das Risiko schnellstmöglich beseitigt wird“. Denn: „Wenn es hier passiert, | |
ist es schlimmer als in Japan, das vom Meer umgeben ist.“ In Westeuropa | |
wären pro GAU im Schnitt 28 Millionen Menschen von einer Kontamination mit | |
mehr als 40 Kilobecquerel pro Quadratmeter betroffen. | |
Die Energiewende mindert das Risiko für Deutschland kaum: „Der Ausstieg aus | |
der Kernenergie verringert zwar das nationale Risiko einer radioaktiven | |
Verseuchung“, sagt Studienleiter Lelieveld. „Deutlich geringer wäre die | |
Gefährdung, wenn auch Deutschlands Nachbarn ihre Reaktoren abschalteten.“ | |
24 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Kai Schöneberg | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Atomkraft | |
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