# taz.de -- Maroder russischer Reaktor: Graphit, verformt und gerissen | |
> Verwirrung um Russlands ältesten Reaktor vom Tschernobyl-Typ: Die | |
> finnische Atomaufsicht meldet die Stilllegung, der russische Betreiber | |
> spricht von Bauarbeiten. | |
Bild: Der Katastrophenrekator von Tschernobyl. In Russland stehen mehrere baugl… | |
STOCKHOLM taz | „Er darf nie mehr ans Netz gehen“, sagt Nils Bøhmer, | |
Nuklearexperte der norwegischen Umweltschutzorganisation Bellona. „Er“ ist | |
der Reaktor 1 des nahe Sosnovy Bor bei Sankt Petersburg gelegenen AKWs | |
„Leningrad“, mit demselben Design wie der Katastrophenreaktor von | |
Tschernobyl. | |
Stimmen die Informationen, die die finnische Atomaufsichtsbehörde Stuk von | |
ihren russischen Kollegen bekommen haben will, wird „Leningrad 1“ | |
allenfalls noch für eine kurze, technisch bedingte Übergangszeit seinen | |
Betrieb wiederaufnehmen, nachdem er seit Anfang Mai stillsteht. | |
Bei dem ältesten graphitmoderierten Reaktor Russlands, kurz RMBK, sind | |
nämlich laut der Behörde schwere konstruktionsbedingte Betriebsprobleme | |
aufgetreten. Das zur Moderation benutzte Graphit soll deformiert und | |
gerissen sein, mit „Verformungen für den gesamten Kern als Folge“, erklärt | |
Abteilungsleiter Heikki Reponen. | |
Das könne zweierlei Auswirkungen haben: Zum einen könnte es schwieriger | |
oder ganz unmöglich werden, die zur Regulierung des Reaktorbetriebs | |
dienenden Steuerstäbe in den deformierten Graphit einzuführen, was zu einer | |
Kettenreaktion führen könne. Zum anderen könne die Kühlung des Reaktors | |
verloren gehen, wenn die Brennstäbe mit dem Graphit in Berührung kommen. | |
## Bereits 38 Jahre am Netz | |
Die Veränderung der Graphit-Substanz hat laut Reponen vermutlich mit dem | |
jahrelangen Neutronenbeschuss zu tun. Ursprünglich für eine Betriebszeit | |
von 30 Jahren konstruiert, ist „Leningrad 1“ nun bereits 38 Jahre am Netz | |
und sollte nach den gegenwärtigen Plänen bis 2019 laufen. | |
Aufgrund der jetzt zutage getretenen Schäden hält Reponen die ursprünglich | |
geplante Betriebszeit für eine Unmöglichkeit. Nach seinen Informationen | |
wird derzeit auch der Graphitzustand am ebenfalls abgeschalteten Reaktor | |
„Leningrad 2“ untersucht, der seit 36 Jahren in Betrieb ist. Auch der ein | |
Jahr jüngere Reaktor 1 des AKW Kursk solle geprüft werden. | |
Für Vladimir Slivyak von der russischen Umweltschutzorganisation Ecodefense | |
kommen die Probleme beim Graphit nicht überraschend. Sie seien schon länger | |
bekannt, trotzdem würde entgegen den ursprünglichen Intentionen der | |
Designer dieser Anlagen deren Betriebsdauer durch die Zulassungsbehörden | |
immer weiter verlängert. | |
Slivyak fordert, dass die Atomenergiebehörde Rosatom alle RBMKs – neben St. | |
Petersburg und Kursk stehen diese am Standort Smolensk – umgehend | |
stilllegen müsse, um einen schweren Unfall zu verhindern: „Sonst besteht | |
ein hohes Risiko eines neuen Tschernobyl-Fukushima-Ereignisses.“ | |
Die Betreibergesellschaft Rosenergoatom bestreitet, dass die Entscheidung | |
über eine Abschaltung schon gefallen ist. Es sei lediglich die Dauer der | |
reparaturbedingten Abschaltung von „Leningrad 1“ verlängert worden. Ein | |
AKW-Sprecher ergänzte, möglicherweise werde der Reaktor noch einmal | |
angefahren, „aber nicht unbedingt zur Stromproduktion“. Ein Anfahren ohne | |
Stromproduktion wäre laut dem Bellona-Nuklearexperten Andrei Ozharovsky ein | |
technisch notwendiger Schritt, um die gesamte Reaktoreinheit endgültig | |
stillzulegen. | |
7 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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