# taz.de -- Geschichte der Europameisterschaft: Deutsche Tugend, deutsche Sehns… | |
> Netzer 1972, Vogts 1996, Löw 2012: Erst wenn Deutschland nicht | |
> Europameister wird, wird man wissen, ob das deutsche Fußballpublikum auf | |
> der Höhe seines Teams ist. | |
Bild: Tugendfußballtrainer auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Berti Vogts 199… | |
BERLIN taz | Am 30. Juni 1996 tippelte ein kleiner Mann im Anzug und den | |
Tränen nah über den Rasen des Wembley-Stadions. Von den Rängen hallte sein | |
Name in die Londoner Nacht. „Berti!“, riefen die Leute. Immer wieder | |
„Berti!“ Die deutsche Nationalmannschaft war tatsächlich mit dem Trainer | |
Vogts Europameister geworden. Mit Berti-Tugend-Fußball. | |
In Wembley. Ausgerechnet dort, wo sich 24 Jahre zuvor, beim 3:1 im | |
EM-Viertelfinale gegen England, die Sehnsucht vieler progressiver | |
Nachkriegsdeutscher erfüllt hatte: Nicht nur mit den sogenannten deutschen | |
Tugenden den Gegner zu überrollen, wie kurz zuvor noch fast die ganze Welt, | |
sondern zu gewinnen und dies im Sinne des argentinischen Fußballlehrers | |
César Luis Menotti auch ästhetisch zu begründen. Wembley 1972 und die | |
darauf folgende EM-Endrunde mit dem 3:0 im Finale gegen die Sowjetunion | |
wurden zum wichtigsten Fußballmythos der progressiven Fußballfreunde: Seht | |
her, wir können auch anders als deutsch und also scheußlich. | |
Das war die Absage einer Minderheit an jenen Mythos, der den deutschen | |
Fußball konstituiert hat: den WM-Titel 1954. Seither galt: Die anderen | |
spielen womöglich schöner, moderner und wegen uns auch besser – aber am | |
Ende gewinnen wir. (Was bis vor Kurzem auch das Prinzip des FC Bayern und | |
seiner Fans war.) | |
Personifiziert wurde der neue Mythos durch den Gladbacher Mittelfeldspieler | |
Günter Netzer, einem klassischen „Spielmacher“, der die hohen, weiten | |
Flugbälle spielte, die damals als ästhetisches Maximum galten. Und der die | |
blonden langen Haare hatte, die den antipiefigen Rebellen gegen das | |
Adenauer-Heino-Land ausweisen sollten. | |
## Professionalisierungsschub durch die Bundesliga | |
Es war die vierte Europameisterschaft und erst die zweite, an der der | |
Deutsche Fußball-Bund teilnahm. Bei der Premiere im Revolutionsjahr 1968 | |
war man schmählich ausgeschieden – durch ein 0:0 gegen die stalinistische | |
Diktatur Albanien. Das hatte der liberale Bundestrainer Helmut Schön von | |
seinem neumodisch-emanzipatorischen Umgang mit den Spielern. „Jetzt muss | |
Merkel ran“, schrie die Bild. Max Merkel war ein Trainer der alten Schule. | |
Eine echte Bild-Idee: Ein (österreichischer) Diktator sollte das Chaos | |
stoppen und Deutschland retten. | |
Doch Schön blieb und so begann der Aufstieg dieser Mannschaft mit den kurz | |
vor oder nach Kriegsende geborenen Beckenbauer, Overath, Netzer, Müller, | |
Maier. Die Nationalmannschaft profitierte dabei weniger vom | |
gesellschaftlichen Innovationsschub durch die ab 1969 regierende | |
sozialliberalen Koalition von Kanzler Willy Brandt und mehr vom | |
Professionalisierungsschub durch die 1963 gegründete Bundesliga und von der | |
Klasse der neuen Fußballhochburgen Bayern München und Borussia | |
Mönchengladbach. | |
Dort wirkte auch der „Terrier“ genannte Rasenmäher (oder „Rasenmäher“ | |
genannte Terrier) Vogts, der bei der EM 1972 wegen einer gerade | |
überwundenen Verletzung auf der Bank saß. Doch selbst wenn er dabei gewesen | |
wäre, hat dieser angeblich klassisch deutsche Spielertyp bei der | |
Wahrnehmung von 1972 niemals eine Rolle gespielt. Doch das blieb eine | |
Ausnahme. Das Wort „Schönspieler“ gilt nicht umsonst bis heute als | |
Schmähwort. | |
1996, beim ersten EM-Turnier mit 16 Teams, saß Vogts wieder auf der Bank. | |
Doch diesmal lebte das Prinzip Berti auf dem Platz, also die sogenannten | |
deutschen Tugenden: kämpfen, rennen, niemals aufgeben und dank deutschen | |
Blutes jedes Elfmeterschießen gewinnen. Vogts, geprägt von einer einfachen, | |
harten Kindheit als Vollwaise, war immer „stolz, ein Deutscher zu sein“, | |
was ja damals in linken Kreisen stets Sorge auslöste, der Faschismus stehe | |
unmittelbar vor seiner Rückkehr. „Der Deutsche“, was er alles ist (ein | |
Kühlschrank), und was er alles nicht ist (ein Brasilianer), das war sein | |
großes Thema. | |
## Berti flog mit Kohl | |
Sicher hatte die Berti-Kritik stets auch etwas Selbstgefälliges und | |
Selbsttherapeutisches: So schlimm wie Berti war man selbst nicht, immerhin. | |
Und es gab gute Gründe, nicht so sein zu wollen. Erinnert sei daran, wie | |
Vogts das auf fachliche Rückständigkeit zurückzuführende WM-Ausscheiden | |
1998 mit einer internationalen Verschwörung gegen Deutschland begründete. | |
Schlecht spielen, verlieren und dann auch noch das. So wollte sich | |
Deutschland dann doch nicht repräsentiert sehen, weshalb man ihn fast | |
gleichzeitig mit Helmut Kohl entfernte. Der Unterschied war nur: Vogts | |
hatte im September 1998 in letzter Verzweiflung versucht, auf die Moderne | |
aufzuspringen, und sprach plötzlich von „ballorientierter Gegnerdeckung“. | |
Damit war er erst recht erledigt. | |
Bei der EM 1996 fehlte die fußballerische Innovation oder sie blieb, wie im | |
Fall des italienischen Trainers Arrigo Sacchi, ergebnislos. Italien spielte | |
Vogts’ Team an die Wand und erreichte dennoch nur ein 0:0. Vogts reichte | |
eine soziale Optimierung, nämlich die Entfernung des vom Team als asozial | |
empfundenen Lothar Matthäus. „Der Star ist die Mannschaft“, sagte Vogts, | |
was durchaus modern klang. | |
1996 war der erste Titel, bei dem Spieler aus dem Osten beteiligt waren. | |
Beckenbauer hatte die WM 1990 noch mit einem Westteam gewonnen. Doch | |
zusammengewachsen waren 1996 nicht West und Ost, sondern Bayern und | |
Dortmund. Entscheidend war die Tugend-Allianz des schwäbischen Kapitäns | |
Klinsmann (FC Bayern) mit dem sächsischen Co-Leader Matthias Sammer | |
(Borussia Dortmund) – plus gewisse moderne Momente in der Defensive | |
(Sammer, Helmer, Eilts). „Unsere Tugenden sind typisch deutsch“, sagte der | |
Ossi Sammer. Und der Wessi Klinsmann trat eigens einen Kroaten um, um denen | |
den „Charakter der Truppe“ zu zeigen. | |
Oliver Bierhoffs Golden Goal zum 2:1 über Tschechien ist der Gegensatz zu | |
den Toren im Finale 1972: Dort der Mix aus Tempo, Kombination, Wucht und | |
Eleganz, bei Bierhoff ein schlappes Schüsschen, das traurig hinter die | |
Linie fällt. Egal: Hauptsache, gewonnen. Dieses Motto war auch Ende des 20. | |
Jahrhunderts noch Mehrheitsmeinung. | |
## „Lucky Krauts“ | |
Die Beschwörung des Nationaltugendunfugs zeigte aber letztlich nur, dass es | |
im DFB-Team keinen Stil und keine Qualität gab, mit der der Erfolg fachlich | |
zu begründen gewesen wäre. Der damals beteiligte Mehmet Scholl hat offen | |
gesagt, man sei nur in zwei von sechs Turnierspielen das bessere Team | |
gewesen. Trotzdem gewann man und das versuchte man zu erklären. Aber der | |
Rest Europas hatte auch so verstanden. „Lucky Krauts“, stöhnte die Sun ein | |
weiteres Mal. | |
Die Prinzipien Netzer und Vogts dominieren die Mehrheits- und | |
Minderheitsbetrachtung des deutschen Fußballs: Erklärung von Siegen und | |
Niederlagen durch deutsche Tugenden bzw. deren Fehlen (EM 1984, 2000, | |
2004). Die Sehnsucht nach einer ästhetischen Begründung für Fußballspielen. | |
So ist man versucht, den EM-Titel 1980 als Fortschreibung von 1972 zu | |
sehen, mit dem blonden Bernd Schuster in der Netzer-Rolle. Dafür spricht, | |
dass man den Erfolg mit Schuster und nicht mit Hans-Peter Briegel und den | |
Förster-Brüdern verbindet. Doch das ikonografische Material gibt nicht | |
genug her: Kaum einer erinnert sich an Schusters Pass zu Horst Hrubeschs | |
1:0 im Finale gegen Belgien. Oder an seine Sololäufe beim 3:2 gegen die | |
Niederlande. | |
Damals hatte man zwar mit dem Titel den Ausgangspunkt für eine große | |
Mannschaft, doch keinen Trainer, der sie konzeptionell und nachhaltig | |
aufgebaut hätte. Das Gegenteil von heute. Noch nie hat der DFB sein Team so | |
selbstständig und modern aufgebaut wie seit 2004 erst durch Jürgen | |
Klinsmann und ab 2006 durch Joachim Löw. Das Team ist deutlich weiter als | |
bei der EM 2008, als man das Finale erreichte. | |
## Was 1972 Sehnsucht war, ist heute Anspruch | |
Dieser Spielstil vereint die Anforderungen des Gegenwartsfußballs mit den | |
ästhetischen Ansprüchen des Trainers. Dank der Nachwuchsförderung, die | |
infolge der desaströsen EM 2000 professionalisiert wurde, und dank des | |
neuen Staatsbürgerrechts stehen viele gutausgebildete Spieler | |
unterschiedlicher Herkunft zur Verfügung. Was sie eint, ist nicht das Blut | |
und die Blutgrätsche, sondern die Qualifikation für Löws modernen | |
Tempofußball mit maximalem läuferischen Aufwand und minimalen | |
Ballbesitzzeiten. Nie, nie, nie würde der Sohn eines Schwarzwälder | |
Ofensetzers auf deutsche Tugenden setzen. Was 1972 Sehnsucht der wenigen | |
war, ist heute Anspruch des Bundestrainers und Deutschlands strategischer | |
Weg zum Erfolg: „Jogi bonito“, das schöne Spiel. | |
Die große Frage ist nur, wie wir Deutsche reagieren werden, wenn | |
ausgerechnet dieses Team den Titel verpasst. Man hat zwar das Gefühl, dass | |
sich seit 1996 Grundsätzliches geändert hat, aber ob das wirklich so ist, | |
werden wir nicht wissen, wenn wir gewinnen, sondern erst, wenn wir nicht | |
gewinnen. Dann wird man sehen, ob das deutsche Publikum auf der Höhe des | |
deutschen Fußballs ist oder in alte Muster zurückfällt. | |
Werden wir selbstbewusst genug sein, um zu wissen, dass nicht alte Tugenden | |
fehlten, sondern dass die für die Gegenwart notwendigen neuen Qualitäten | |
eben doch noch nicht ausreichend erarbeitet sind? Oder lag es dann am | |
Schöngespiele, am mangelnden Einsatz oder Patriotismus? Und daran, dass die | |
postheroischen Weltklassespieler Lahm und Schweini eben doch keine Führer | |
sind? | |
Im Fußball ist es nun mal so, dass manchmal nicht der gewinnt, der schöner | |
und moderner und besser als der Rest ist. Das müssten wir Krauts doch | |
eigentlich am besten wissen. | |
Mitarbeit: Ulrich Fuchs | |
9 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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