# taz.de -- Polen gegen Russland: Die Russen sind da | |
> Für die polnischen Ko-Gastgeber ist es das Spiel der Spiele. Das hat | |
> nicht nur sportliche Gründe, sondern vor allem auch politische und | |
> historische. Ein Überblick. | |
Bild: 1982: WM-Spiel kurz nach der Verhängung des Kriegsrechts. | |
Für den Ko-Gastgeber ist es das Spiel der Spiele: Am Dienstagabend um | |
Viertel vor neun im Nationalstadion von Warschau, Polen gegen Russland. | |
Nach dem 1:1 im Auftaktspiel gegen Griechenland ist diese Begegnung für | |
Polen schon aus sportlichen Gründen immens wichtig. Politisch und | |
historisch gesehen, ist ohnehin kein anderes Spiel dieser | |
Fußballeuropameisterschaft so aufgeladen wie dieses. | |
„Die Russen sind in der Stadt“, titeln polnische Zeitungen vieldeutig. Die | |
russischen Fans, so berichten sie, planten einen „Marsch durch Warschau“, | |
womöglich gar mit den alten Symbolen der Sowjetmacht, mit Hammer, Sichel | |
und Sowjetstern. Den freiheitsliebenden Polen krampft sich bei diesem | |
Gedanken das Herz zusammen. Das Match „Russland gegen Polen“ ist mehr als | |
ein reines Spiel. Es ist Fußballkrieg. | |
So ist es kein Wunder, dass die linksliberale Gazeta Wyborcza schon auf der | |
Titelseite die polnische Nationalelf mit großen Lettern auffordert: „Haltet | |
die Russen auf!“ Das Match werde in die Geschichte eingehen. Auf dem Spiel | |
stehe nichts Geringeres als die „Ehre Polens“. | |
Nach dem unnötigen und am Ende sogar glücklichen Unentschieden gegen | |
Griechenland geht es für die Polen bereits jetzt um alles - und das gegen | |
einen Gegner, der spätestens seit seinem ersten Spiel (4:1 gegen Tschechien | |
) als klarer Favorit der Gruppe A gilt. Für den Gastgeber könnte die EM | |
also schon nach der Vorrunde beendet sein. | |
## 18. Jahrhunderhundert Königreich Polen-Litauen | |
Historisch hat Polen immer wieder schwer auch unter seinen östlichen | |
Nachbarn gelitten. Im 18. Jahrhundert wurde das Königreich Polen-Litauen so | |
lange von Preußen, Russland und dem Habsburgerreich aufgeteilt, bis es | |
vollständig von der Landkarte Europas getilgt war. In Warschau herrscht der | |
Statthalter des Zaren. Nur einmal, im Jahr 1920, unter Marschall Józef | |
Pilsudski, gelang es, die Rote Armee auf ihrem Durchmarsch aufzuhalten und | |
weit hinter die Grenzen zurückzuwerfen. | |
Doch schon 1939 überfielen Deutschland und die Sowjetunion das Land erneut | |
und teilten es unter sich auf. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte den | |
Polen nicht die erhoffte Freiheit, sondern erneute Abhängigkeit von Moskau. | |
Bis 1989 lag Polen hinter dem Eisernen Vorhang, litt unter Zensur und | |
Mangelwirtschaft - und musste sich aus dem Kreml immer wieder Lügen auf die | |
Massenmorde von Katyn anhören. Bis heute konnte sich Russland nicht dazu | |
durchringen, die knapp 22.000 polnischen Offiziere zu rehabilitieren, die | |
der sowjetische Geheimdienst 1940 erschossen hatte. Ausgerechnet in | |
Smolensk, nahe den Massengräbern von Katyn, stürzte dann auch noch vor zwei | |
Jahren das Flugzeug mit dem damaligen Präsidenten Lech Kaczynski und | |
hochrangigen polnischen Politikern und Beamten ab. | |
Damals bekundeten viele Russen Mitgefühl, brachten Blumen zur Unfallstelle | |
und trugen sich in die Kondolenzbücher in den Botschaften und Konsulaten | |
ein. Im russischen Fernsehen lief zur besten Sendezeit der Film „Katyn“ von | |
Andrzej Wajda, dem Altmeister des polnischen Kinos. | |
Die schleppende Aufklärung der Katastrophe, die Weigerung auf russischer | |
Seite, das Wrack und die Blackbox der Unglücksmaschine herauszugeben, aber | |
auch absurde Verschwörungstheorien der Kaczynski-Anhänger in Polen ließen | |
den Willen, aufeinander zuzugehen und sich zu versöhnen, schnell wieder | |
erlahmen. | |
## Denkwürtige Spiele | |
Ähnlich wie die historische Bilanz fällt auch die sportliche für Polen | |
negativ aus. Dennoch - und darauf verweisen alle polnischen Kommentatoren | |
vor dem großen Spiel - gab es auch Siege, hin und wieder zumindest. | |
Insgesamt spielten die Nationalmannschaften Polens und Russlands (bzw. der | |
Sowjetunion) 17-mal gegeneinander. 9-mal verloren die Polen, 4-mal gewannen | |
sie, und 4-mal endete das Spiel mit einem Unentschieden. | |
Ein besonders denkwürdiges Spiel fand 1957 im Schlesischen Stadion von | |
Chorzów (Königshütte) statt. 400.000 polnische Fußballfans wollten das | |
Spiel sehen, nur 100.000 kamen ins Stadion. Noch heute sind die Polen davon | |
überzeugt, dass die von allen Fans immer wieder lautstark gesungene Hymne | |
"Noch ist Polen nicht verloren" einen so tiefen Eindruck bei den Sowjets | |
hinterließ, dass auch der legendäre Torwart Lew Iwanowitsch Jaschin - | |
damals der beste Torhüter der Welt - nicht in der Lage war, die beiden Tore | |
von Gerard Cieslik zu halten. Am Ende gewann Polen 2:1. | |
1982 wiederum, in der zweiten Finalrunde der Fußballweltmeisterschaft in | |
Spanien, trennten sich Polen und die UdSSR mit einem Unentschieden 0:0. Die | |
Stimmung war kurz nach der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 | |
in Polen so angespannt, dass polnische Fans im Stadion lauthals die | |
Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land anprangerten. Vor den Grenzen | |
Polens standen damals sowjetische Panzer. | |
Bis heute ist nicht einwandfrei geklärt, ob die Sowjetarmee kurz vor einem | |
Einmarsch stand oder die Panzer nur der Abschreckung dienten. Nach dem 0:0 | |
- das Polen zum Weg ins Halbfinale genügte - weigerten sich die polnischen | |
Fußballer nach dem Spiel, ihre Trikots mit den Sowjets zu tauschen. Am Ende | |
wurden die von Zbigniew Boniek angeführten Polen, wie schon bei der WM | |
1974, Dritter. | |
In Warschau legte die russischen Elf am Wochenende Blumen an der | |
Gedenktafel für die Unglücksopfer von Smolensk nieder und zeigte so ihren | |
guten Willen. Zugleich aber verärgern die russischen Fußballfans die Polen. | |
Heute, am Tag des Matches, wollen sie mit einem „roten Marsch“ durch | |
Warschau ziehen und den „Tag Russlands“ feiern. | |
Doch Polen wird den Marsch nicht verbieten. Das Land ist heute eine | |
Demokratie. Freiheit geht den Polen über alles. Und diese Freiheit gilt | |
auch für die Russen. Sie dürfen an diesem Dienstag ihren nationalen | |
Feiertag in Warschau mit einem Marsch feiern. Vorsorglich erklärte die | |
Polizei, dass sie den Zug mit einem Großaufgebot schützen werde. | |
12 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
Gabriele Lesser | |
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