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# taz.de -- Ökonom über Euro-Krise und EM: „Die EM ist ein Fest, kein Krieg…
> Der ehemalige Banker und bekennende Europäer Norbert Walter über
> europäische Identität, Eurokrise und die segensreiche Wirkung junger
> Frauen beim Public Viewing.
Bild: Norbert Walter findet, dass sich dank Public Viewing der Blick des Zuscha…
taz: Herr Walter, Ihr jüngstes Buch heißt „Warum unser Kontinent es wert
ist, dass wir um ihn kämpfen“. Das heißt im Hinblick auf die Fußball-EM in
der Ukraine und Polen was?
Norbert Walter: Beim europäischen Fußballwettbewerb wie beim Eurovision
Song Contest gibt es das, was wir für gesellschaftliche und ökonomische
Prozesse auf unserem Kontinent leider nicht haben, nämlich Staatsbürger,
die sich für dieses Thema richtig engagieren.
Staatsbürger?
Ja, wir haben bei beiden Events eine private Community, die an diesen
leidenschaftlich interessiert sind. Aber Staatsbürger, die sich politisch
und gesellschaftlich für Europa verantwortlich fühlen? Nein, die haben wir
leider nicht.
Was heißt das denn - sich für Europa verantwortlich fühlen?
Es hat keinen Sinn, ewig auf politische Eliten zu hoffen, die im leeren
Raum ohne Bürgerengagement dieses Europa bauen können. Es fehlt an der
Vorstellung in Europa, diesen Kontinent als gemeinsames Erbe zu begreifen.
An Menschen, die stolz auf diesen Kontinent sind, die ihn als ihr Projekt
von Identität empfinden. Cicero sagte: Ich liebe meine Heimat Apulien und
bin stolzer Bürger Roms. Man stelle sich vor, ein deutscher Wissenschaftler
sagt, ich bin stolzer Niedersachse und engagierter Bürger Europas. Das wäre
komisch – noch.
Weshalb eigentlich?
Es mangelt am Bewusstsein, über das Nationale hinauszugehen. Denn die
Wirklichkeit Europas gibt es ja schon lange. Wir nehmen sie nur nicht so
richtig wahr. Wir tun so, als ob die dominierende Realität im Politischen
der Nationalstaat sei. Das ist falsch. Weder Deutschland noch Italien
existieren schon lange. Europa ist ein vielfältiger, aber gemeinsamer Raum.
Der Nationalstaat ist oft künstlich.
Wie meinen Sie das?
Wenn man sich von Köln nach Paris begibt, ändert sich äußerlich vielleicht
graduell etwas, in Nuancen, aber niemals dramatisch. Wir essen alle
ähnlich, trinken ziemlich die gleichen Getränke, wir freuen uns über die
gleichen Feste. Und schaut man sich Gebäude an, scheint alles nah und
verwandt. Italienische Architektur haben wir auch in München und Görlitz.
Aber ist Europa, nicht zuletzt durch die EU, inzwischen stark nach innen
entgrenzt und kulturell stärker harmonisiert denn je?
In der Tat. Ich selber gehörte früher zu den bösen Buben, die bayerische
Grenzpfähle umgesägt haben. Die gab es damals nämlich noch. Heute sind wir,
dank Schengen, in einem Europa fast ohne Grenzen. Und schaut man sich den
Handel an, ist die Wirklichkeit europäischen Austausches offenkundig.
Nun, im Fußball spielt die Europäisierung nur auf Vereinsebene eine Rolle.
Jetzt bei der EM geht es um Nationales.
Richtig, doch zugleich ist ganz offenkundig, dass es sich dabei um einen
Wettbewerb handelt, der als Fest, nicht als Krieg inszeniert wird und der
gemeinsame Stärke erzeugt. Das werden wir auch in Polen und der Ukraine
erleben. Die erregten Gemüter wie vor zwanzig, dreißig Jahren wird es auch
wieder geben. Und das gefällt mir. Aber es hat nicht mehr diese Aufladung
wie in meinen Jugendjahren.
Heißt das nicht auch, dass Hochmut immer vor dem Fall kommt? Dass etwa bald
nach dem arroganten Statement Franz Beckenbauers nach dem WM-Titel 1990,
Deutschland sei auf Jahre unschlagbar, eine Krise sondergleichen den
deutschen Fußball erfasste?
Aber das war damals ein Zeichen eines alten Phänomens - das sehen wir in
Betrieben, in der Familie, im Sport. Wer im Kopf schon glaubt, der Beste zu
sein und das komplett verinnerlicht hat, ist in Gefahr, nicht mehr im
rechten Wettbewerbsgeist in die Veranstaltung zu gehen. Ich bin deshalb
auch in Sorge, dass wir vor dieser Europameisterschaft schon den Titel
gewonnen zu haben scheinen.
Nach zwei dritten Plätzen bei Weltmeisterschaften und einer Finalteilnahme
vor vier Jahren bei der EM erwartet jetzt alle deutsche Welt: Wer, wenn
nicht Deutschland, kann denn gewinnen?
Das hoffe ich doch auch. Aber mehr als gute Voraussetzungen gibt es für
diese Hoffnung nicht. Wer wie ich den Fußball durch eigenes Mitmachen
kennt, weiß, dass ein Element wie unbändiger Wille, gepaart mit Engagement,
eine große Rolle spielt. Deshalb würde ich sagen: Achtung! Für die
polnische Mannschaft gilt das in viel besserer Weise als für die deutsche.
Und so könnten die Deutschen als höchst qualifizierte Verlierer enden,
siehe die Bayern in der Champions League.
Zumal die DFB-Kicker die Sympathien geben können, die deutsche Kanzlerin
europäisch gesehen die herzlose Eurogeizhälsin verkörpert.
Wer eine reale Welt kennt, in der es Führungsaufgaben gibt, die von
jemandem wahrgenommen werden, weiß, dass Liebe und Wertschätzung für
jemanden, der diese Rolle übernimmt, nicht realistisch sind. Frau Merkel
muss angesichts der Rolle, die sie wahrnimmt, damit rechnen, dass sie
deshalb zur – man kann fast sagen: gehassten, mindestens aber angefeindeten
Person wird. Schön, dass diese Anfeindungen nicht auf die deutschen
Fußballer übertragen werden.
Anfang der Neunziger, als Franz Beckenbauer vom überlegenen deutschen
Fußball albträumte, sorgte Helmut Kohl für europäische Grundlagen, die
niemandem auf dem Kontinent Angst machen sollten. Ein Kanzler, der keinen
Ärger machte. Würden Sie auch für mehr europapolitische Kuschelei
plädieren?
Ich bin nicht fürs Kuscheln bekannt. Ich würde es auch nicht empfehlen,
denn wir haben keine Zeit und keine Freiräume mehr. Schwierige Botschaften
müssen umgehend formuliert werden. Aber in geschickter Weise. Die Deutschen
mit ihrem „tausendjährigen Reich“, das einige in Europa noch nicht
vergessen haben, sind besonders Verdächtige – und deshalb in einigen Fällen
nicht die idealen Vermittler von bestimmten unkuscheligen Botschaften.
Sie meinen die zur Finanzkrise?
In der Tat. Ich habe von Anfang an gesagt: Nehmt für die Erledigung der
Aufgaben lieber den Internationalen Währungsfonds. Eine Institution, die
international durch Regierungen repräsentiert ist und die dann nicht das
große nachbarliche Deutschland als den bösen Buben leicht identifizierbar
macht. Das wäre klug gewesen und wäre es immer noch.
Auf den Fußball bezogen: Welchen Ratschlag würden Sie dem Team um Joachim
Löw geben?
Ich würde ihnen vermitteln, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ein
nennenswertes Risiko tragen müssen, zu verlieren. Und wenn Löw und seine
Spieler dieses Risiko nicht klar genug erkennen und sich innerlich nicht
darauf einstellen, dann wird der Fall vom Sockel der Reputation, auf dem
sie längst stehen, besonders unsanft ausfallen. Ich würde ihre Erwartungen
runtersteuern, ich würde ihre Bereitschaft, zu kämpfen, mobilisieren –
zumal mit dem Hinweis auf den Verlust des guten Rufs. Wer hoch steht, kann
tief fallen!
Wem drücken Sie, als Europäer, ab Freitag die Daumen?
Den Deutschen, natürlich, da hat auch meine kosmopolitische Prägung durch
Achtundsechzig nichts geändert. Philipp Lahm gehört meine besondere
Sympathie. Ich bin im Beirat seiner Stiftung. Ein junger Mann, der mit 25
aus dem Einkommen und Vermögen, das er gebildet hat, bereits eine Stiftung
für die Integration vor allem von benachteiligten Mädchen gegründet hat.
Den bewundere ich sehr. Und ich finde es richtig schön, dass ein so Stiller
der Kapitän dieser großartigen Mannschaft ist.
Daniel Cohn-Bendit, wie Sie bekennender Achtundsechziger, begeistert sich
für Frankreich. Sie nicht auch ein bisschen?
Ich kann mir vorstellen, dass wir in Europa neben der Achse Berlin-Paris
dringend der Achse Berlin-Warschau bedürfen. Insofern könnte ich mich
richtig darüber freuen, wenn die polnischen Gastgeber das Rennen machen.
Nur einer kann gewinnen. Wer?
Europa! Wenn man wie ich oft in Asien ist und sieht, wie die Asiaten uns
Europäer beispielsweise über die Bundesliga schätzen, dann ist das wirklich
etwas, was von Bedeutung ist, neben den großen kulturellen Leistungen, die
wir eben auch noch haben. Aber oftmals werden unsere kulturellen Leistungen
nur entdeckt, wenn es vorher über etwas so Profanes wie Fußball
Aufmerksamkeit für diesen Kontinent gab. Fußball, ein schöner Botschafter.
Wie 2006 bei der WM in Deutschland, beim Sommermärchen.
Oh ja. Und das war deshalb eines, weil es Public Viewing gab – und weil
über dieses Public Viewing der Blick der Welt eben nicht nur auf die
deutschen Fußballplätze und die Fußballer gerichtet wurde, sondern auf die
freundschaftlichen und erfreuten Gesichter eines friedlichen, eines
engagierten, eines hoch erfreuten Landes. Diejenigen haben dazu am
stärksten beigetragen, die gewöhnlich beim Fußball nicht vermutet werden:
die jungen Frauen.
Ein Korrektiv …
… zum Bild der kloppenden, harten Männer wurde stark revidiert. Ein
profanes Ereignis wie die EM ist ein idealer Weg, Brücken zu bauen. Vor
sechs Jahren waren es die Brücken, die zu unserer Wissenschaft, zu unserer
Architektur, zu unserer wirtschaftlichen Leistung führten.
Und Europa - ein Netz von Nationen?
Mehr! Die größte Leistung unseres Kontinents ist die Überwindung der
nationalen Gegensätze und die Stärke, die wir aus der Zusammenarbeit
ziehen.
Sind Sie stolz, ein Europäer zu sein?
Ja, von Herzen. Ich liebe seine Landschaften, ich liebe seine Architektur,
ich liebe europäische Musik. Ich habe ein Leben lang überall in der Welt
gearbeitet und wusste, als ich pensioniert wurde, dass mein Standort nicht
Tokio und nicht Washington, sondern dieses Mitteleuropa ist. Am liebsten,
muss ich gestehen, bin ich irgendwie in gefühlter Nähe zu den Alpen.
6 Jun 2012
## AUTOREN
Jan Feddersen
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