Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Berliner Lebensentwürfe: Das andere Lab
> Am Kreuzberger Spreeufer, wo einst das BMW Guggenheim Lab hinsollte,
> campieren 19 Aussteiger. Was kann die Stadt von diesem Lab lernen?
Bild: Hier wird inzwischen campiert.
Das Wichtigste, sagt Jerry, sei das Boot. Ein Langboot, mit dem er und sein
Kumpel „Flieger“ irgendwann davonpaddeln würden. Deshalb seien sie ja auch
hier am Spreeufer.
Man solle das jetzt nicht falsch verstehen, sagt der ganz in Schwarz
gekleidete Mann, lange Haare, Gitarre auf dem Schoß. „Wir sind nicht blöd.
Das hier draußen ist unser Leben.“ Wenn er, Jerry, also eine Zukunftsfrage
an Berlin stelle, dann die: „Kann ich so leben, wie ich möchte? In dieser
Stadt? Hier?“
Keine schlechte Frage. Und eine, die auch ein paar Kilometer weiter auf der
Agenda steht. In dem Lab, das eigentlich an der Stelle ablaufen sollte, wo
jetzt Jerrys Tipi in die Höhe ragt: am Kreuzberger Spreeufer, auf der
Brache an der Cuvrystraße. Das BMW Guggenheim Lab, eine Denkwerkstatt in
einem luftigen Carbonbau, in dem bis Ende Juli über die Zukunft von
Großstädten sinniert wird.
Nun aber steht der Kasten auf dem Pfefferberggelände in Prenzlauer Berg.
Und auf der Cuvry-Brache wackeln 19 Zelte im Wind, zwei davon Tipis. Gräser
wuchern drum herum, nebenan schnurrt die gelbe U-Bahn über die
Oberbaumbrücke. „Dies ist ein Platz für Frieden und Freiheit“, steht dort
gepinselt, wo sich der Zaun zur Brache öffnet.
Dahinter haben sich Ausgestiegene niedergelassen, die meisten Männer.
Einige hatten Probleme mit ihren Vermietern, andere mit ihren Frauen,
andere mit Drogen. Manche alles zusammen. Jeder sei hier irgendwie
„angeschlagen vom Leben und der Stadt“, sagt Jerry, der Tipi-Mann. Nun
zelten alle gemeinsam. Man pflege eine „friedliche Koexistenz“, heißt es
aus einem anderen Zelt. Im Grunde ist aber auch das ein Lab, ein soziales.
Und vielleicht sogar ein berlinerischeres: authentisch, kreativ, dreckig.
Was kann die Stadt von den Cuvry-Experten lernen?
Mickey, schwarze Mütze, Selbstgedrehte, sagt, wenn er gerade etwas ändern
könnte, würde er Heroin legalisieren. Damit blieben der Welt auch einige
Kriege erspart. Der Mittdreißiger blickt von seinem Zelt auf die Spree. Ein
Junkie, Substitution. Heroin legalisieren – erwartbar.
Dann aber holt Mickey aus. Wie die Gesellschaft mit ihren Schwachen umgehe,
sei doch bezeichnend. In der „Plötze“, im Knast, säßen fast nur noch
Schuldner, Schwarzfahrer und Junkies. „Dahinter steckt was Strukturelles.“
Der hagere Mann ist belesen; in der Zeitung, die in seinem Zelt liegt, hat
er wichtige Sätze unterstrichen. Schon in der Schule werde der
Klassengegensatz eingetrichtert, sagt Mickey. Hier Gymnasium, da der Rest.
„Es geht nur um Unterordnung.“ Bald werde es knallen, prophezeit er. „Und
das soll’s auch.“
## Das Leben genießen
Ein paar Zelte weiter steht Thomas, Lederjacke, in die Haare hat er sich
kleine Zöpfchen geknotet. Als sein Vermieter ihm immer wieder die Miete
erhöht habe, habe er irgendwann „überhaupt kein Bock mehr auf Wohnung
gehabt“ und sei hier raus. Das Wichtigste jetzt? „Hierbleiben“, sagt der
46-Jährige. „Einfach ein normales Leben genießen.“ Vielleicht sei ja ein
Pachtvertrag drin, er würde hier auch überwintern. Jahrelang habe er in
Neukölln gewohnt, erzählt Thomas. In der Pannierstraße, anfangs für 570
Mark. Da gehe er jetzt bestimmt nicht in einen Randbezirk.
Thomas schlug vor anderthalb Monaten auf der Cuvry-Brache sein Zelt auf.
„Flieger“ und Jerry, die Ersten, waren schon ein paar Wochen früher da.
Nach und nach wurden es immer mehr. Vom Eigentümer, der Ritter Holding,
würden sie geduldet, sagen die Zelter. Sie sammelten ja auch jeden Morgen
den Müll der Touristen auf. Die Holding aus München hat angekündigt, auf
dem Gelände „Wohnungen, Einzelhandel, Büros“ zu bauen. Auf Plakaten sieht
man Fünfstöcker und Cabrios davor.
„So was geht echt nur in Berlin!“, sagt Maximilian und grinst. Ein
Österreicher, Künstler, mit riesiger Brille und zerschlissener Weste. „Da
hast du hier so einen Edelinvestor, und der duldet das!“ Das Zelt des
30-Jährigen steht etwas abseits, er will hier bald Mode verkaufen,
Fairtrade von tibetischen Flüchtlingen. „Radikale Selbstverantwortung“,
sagt Maximilian, das müsse die Stadt lernen. „Den Überfluss recyceln, es
gibt ja alles.“ Essen, Möbel, Fernseher schmissen die Leute auf die Straße.
Er selbst, sagt Maximilian, lehne alle staatlichen Gelder ab. Das Leben
funktioniere trotzdem. „Gut sogar.“
Im weißen Tipi klimpert Jerry weiter auf seiner Gitarre, eine Feuerstelle
raucht. Gegen das Lab, sagt der 50-Jährige, hätte er gar nichts gehabt.
„Dann hätten wir unter deren Dach ziehen können, und die Besucher wären
durchs Zeltdorf gebummelt.“ Nun sei man eben unter sich, sagt Jerry. Und
„Flieger“ und er seien die „Häuptlinge“. „Wenn’s einem dreckig geh…
wir dem.“ Eine Frau kommt in Jerrys Zelt. Sie sagt, sie hoffe, dass Berlin
„respektvoller“ werde. „Genau“, stimmt Jerry zu. Jeder solle einfach so
leben, wie er wolle. Er glaube eben an Brahmanen.
Mit Politik, betont Jerry, habe all das nichts zu tun. „Wir sind hier,
weil’s eben Freigelände ist. Wenn wir gehen, kommen andere.“ So könnte man
das sehen. Man könnte aber auch sagen: Mehr „confronting comfort“ –
Leitthema des Labs im Pfefferberg – als hier geht nicht.
28 Jun 2012
## AUTOREN
Konrad Litschko
## TAGS
Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Cuvry-Brache in Berlin soll verschwinden: Bambule gegen Baupläne
Und wieder soll die Cuvrybrache am Kreuzberger Spreeufer bebaut werden. Nun
stellte der Investor seine Pläne vor – und erntete wütenden Widerspruch.
Guggenheim Lab in Berlin: Eine Nummer kleiner
Was bleibt, wenn am Sonntag die gesponserte Denkfabrik abgebaut wird? Nicht
viel, abgesehen von der Erkenntnis: Berlin diskutiert seine Zukunft längst
selbst.
Spreeufer II: An der Promenade promenieren
Einen durchgängigen Uferweg gibt es noch nicht, mit ein paar Umwegen und
ein wenig Fantasie lässt sich aber bereits erahnen, wie schön das alles
einmal sein wird.
Debatte um Verdrängung: Senat labert sich raus
Die Finanzverwaltung sagt die Teilnahme am Guggenheim-Lab ab. Dessen
Veranstalter vermuten dahinter Streit zwischen zwei Senatoren.
Guggenheim-Lab: Druck aus dem Norden
Mit einem alten Feuerwehrauto will das Lab mit Bürgern über lokale
Bauvorhaben diskutieren. Die zeigen am Blumengroßmarkt in Kreuzberg
allerdings wenig Interesse.
Guggenheim Lab: Ungetrübte Bastelstunde
Von Aufregung gibt es am Pfefferberg keine Spur: Das umstrittene Lab bleibt
zur Eröffnung unbehelligt.
BMW Guggenheim Lab startet: Die offenen Fragen vom Pfefferberg
Ab Freitag will das BMW Guggenheim Lab ausloten, was urbane Zukunft
ausmacht. Die taz hat bei Berliner Experten nachgehakt, worum es für die
Metropole von morgen tatsächlich geht.
Kulturpolitik in Zeiten knapper Kassen: Aufwerten und verdrängen
Berliner vertrieben kürzlich das BMW-Guggenheim-Lab aus Kreuzberg. Dennoch
halten viele Unternehmen den Imagegewinn durch private Kulturförderung für
lukrativ.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.