# taz.de -- Europäische Union: Weil Europa großartig ist | |
> Die Staatengemeinschaft ist weder Wolkenkuckucksheim noch notwendiges | |
> Übel. Sie bietet die Chance für ein solidarisches Leben der Nationen – | |
> man muss nur anfangen. | |
Bild: Gemeinsam durch dick und dünn – das müssen Europäer wirklich wollen. | |
BERLIN taz | Der Ökonom John Maynard Keynes hat einmal darauf hingewiesen, | |
dass es eine etwas blauäugige Annahme sei, Handel und wirtschaftliche | |
Verflechtung würden nationale Konflikte notwendigerweise reduzieren. | |
Im Gegenteil, wandte er ein: Sehr oft geht zunehmende ökonomische | |
Verflechtung mit einem Mehr an Konflikten einher, weil sich Handelspartner | |
wechselseitig übervorteilt fühlen. Das wäre ja nicht der Fall, würden sie | |
autark und gleichgültig nebeneinanderher leben. Kurz: Wirtschaftliche | |
Integration kann nationalistische Spannungen abbauen, kann sie aber auch | |
verschärfen. | |
Man versteht in den letzten Monaten besser, was Keynes damit gemeint hat. | |
Der Euro wurde im guten Glauben eingeführt. Man hoffte, eine gemeinsame | |
Währung würde den Europäern noch ein wenig mehr Gemeinschaftsgefühl geben | |
und wäre damit ein wichtiger Schritt zur europäischen Integration. Aber das | |
Gegenteil war der Fall: Die gemeinsame Währung ist drauf und dran, die | |
Europäer auseinanderzudividieren. | |
Aus der Sicht der Deutschen und anderer Nordeuropäer leben die im Süden | |
„auf unsere Kosten“. Aus der Sicht der Griechen, Spanier und anderer führen | |
sich die Deutschen wie Kolonialisten auf. So wie es jetzt läuft, war der | |
Euro eine gut gemeinte Idee, die aber genau das Gegenteil von dem bewirkt, | |
was beabsichtigt war. | |
Dieses Fiasko gebiert jetzt zwei weitere Gefahren: dass bei der hektischen | |
„Reparatur“ der schlimmsten Schäden die Idee auf der Strecke bleibt; oder | |
dass man, umgekehrt, idealistisch die Idee hochhält, weil einem dieser | |
ökonomische Praktizismus irgendwie kleinlich, niedrig erscheint. Man ist | |
ein wenig angewidert von dem Milliardenverschieben und will am liebsten | |
ausrufen: Aber vergesst doch nicht, dass es um Europa geht! | |
Aber was ist das, die europäische Idee? Gibt es so etwas überhaupt? „Idee“ | |
klingt nach Wolkenkuckucksheim und Idealismus, und bei pathetischen | |
Sonntagsreden mag davon gelegentlich etwas angeklungen sein. Aber die | |
Verwirklichung der Europäischen Union war immer eine seltsame Melange aus | |
Idee und pragmatischem Handeln. | |
## Idee mit wenigen Idealen | |
Die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft hatten eine „Idee“: Europa | |
zu vereinigen, damit nie wieder Krieg zwischen den großen europäischen | |
Nationen geführt werden kann. Aber sie haben diese mit viel Sinn fürs | |
Praktische angegangen: Sie haben die Stahl- und Kohleindustrie so | |
aufgebaut, dass sich keine Nation den Verlust von Handelspartnern hätte | |
leisten können. Die europäische Integration war von Anfang an eine „Idee“, | |
die versuchte, mit möglichst wenig „Idealen“ auszukommen. Und das war ihre | |
Stärke, solange sie „Ideale“ als – durchaus intendierte – Nebenfolge | |
entwickelte. | |
Und das tat sie. Auch wenn sich die Bürger Europas immer noch primär als | |
Deutsche, Österreicher, Spanier oder Polen verstehen, so wandelte sich das | |
Lebensgefühl in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren doch merklich. Wir | |
nehmen es als selbstverständlich, dass wir innerhalb von Schengen-Europa | |
problemlos überall hinreisen können, ohne dass wir unseren Pass vorzeigen | |
müssen. Junge Leute in Wien studieren wie selbstverständlich mit ihren | |
griechischen, deutschen, bulgarischen Kommilitonen und Kommilitoninnen. | |
Wenn in Deutschland, Frankreich oder Griechenland eine Wahl stattfindet, | |
wissen wir instinktiv: Das geht nicht nur die Deutschen, Franzosen und | |
Griechen etwas an, sondern uns alle. | |
Ein solcher schwer fassbarer, „entspannter Kosmopolitismus“ ist ganz sicher | |
ein Resultat der europäischen Einigung. Binnenmarkt, Währungsunion und | |
andere ökonomische Neuerungen lösten auch einen politischen | |
Integrationsdruck aus. Es entstanden Institutionen wie die EU-Kommission, | |
der Europäische Rat, das EU-Parlament. | |
Emotional haben die Bürger zu all dem ein widersprüchliches Verhältnis: Sie | |
wissen, das alles ist – irgendwie – zu weit weg, und sie können nicht | |
wirklich Einfluss nehmen. Sie reagieren darauf auch mit Verdruss. | |
## Institutionelles Tohuwabohu | |
Die Macht diffundierte in eine Vielzahl von Institutionen, sodass oft nicht | |
einmal mehr klar ist, wer eigentlich wofür verantwortlich ist; wir haben | |
ein ausbalanciertes Mehrebenensystem geschaffen, das man auch als | |
institutionelles Tohuwabohu beschreiben kann. | |
All das steckt irgendwo auf halbem Wege. Die Bürger wissen nicht recht, wie | |
man den ganzen Weg zu Ende gehen kann – und ob sie das überhaupt wollen | |
würden. Wenn die politische Integration bisher immer wirtschaftlichen | |
Integrationsschritten nachfolgte, die gut funktioniert haben, so ist die | |
Lage heute anders: Heute muss die politische einer ökonomischen Integration | |
nachfolgen, die schlecht funktioniert hat, nämlich der Währungsunion. | |
Das macht die Sache dringlicher wie auch schwieriger. Schwieriger, weil die | |
Legitimation für weitere Integration durch das Fiasko der Währungsunion | |
geringer geworden ist. Dringender, weil man nicht einfach darauf vertrauen | |
kann, dass die Dinge schon „irgendwie“ funktionieren. Das tun sie nicht. | |
Entweder wir kriegen mehr Integration hin – oder wir müssen die Sache | |
rückabwickeln. | |
Von einem Zurückdrängen Europas hätte aber keiner etwas. Die Öffentlichkeit | |
der Mitgliedsländer würde den jeweils anderen die Schuld an den damit | |
verbundenen Wohlstandsverlusten geben. Der Euro und sein Zerbrechen würden | |
zur Quelle nationalen Zwistes in Europa werden. | |
„Never miss a good crisis“, lautet ein bekanntes, etwas zynisches | |
amerikanisches Bonmot – „Verschwende niemals eine gute Krise“. Soll heiß… | |
In einer Krise kann man manchmal Dinge, die ohnehin getan werden müssten, | |
leichter und schneller verwirklichen, als unter normalen Umständen. Das | |
gewohnte Verschieben auf morgen und übermorgen ist dann keine Option mehr. | |
## Wie weit gehen wir? | |
Insofern ist auch diese Krise für Europa der Moment, weiter zu gehen. Aber | |
wie weit? Eigentlich, sagen manche, brauchten wir die Vereinigten Staaten | |
von Europa: mit einer Art europäischer Regierung, mit Steuerhoheit, | |
demokratisch kontrolliert und gewählt von einem richtigen Parlament, mit | |
einem durch wirkliche Wahlen legitimierten europäischen Premier oder einer | |
Kanzlerin. Die Nationalstaaten wären dann nur noch so bedeutsam wie | |
Bundesländer in Deutschland oder die Mitgliedsstaaten in den USA. Und in | |
diesem „eigentlich“ steckt schon ein wenig Reserviertheit – im Sinne von: | |
Wir werden es nicht hinbekommen. | |
Aber vielleicht ist nicht so sehr das Ziel unrealistisch als die | |
Zielbeschreibung falsch. Es ist nicht klug, das Ziel so zu definieren, dass | |
es unerreichbar wird. Es wird noch lange dauern, bis wir ein „europäisches | |
Parteiensystem“ haben, das dem der Nationalstaaten oder dem der USA | |
vergleichbar ist. | |
Dafür fehlt es nicht zuletzt an einer gemeinsamen Öffentlichkeit – die | |
nationalen Öffentlichkeiten sind ja nicht zuletzt durch Sprachgrenzen | |
getrennt, und daran lässt sich so schnell nichts ändern. Auch wenn so etwas | |
wie ein europäisches „Wir“ entstanden sein mag, so empfinden sich die | |
Bürger Europas immer noch sehr stark als Deutsche, Spanier oder Polen. Das | |
ist ein Hindernis für Solidarität. Sind Finanztransfers wie der | |
Bundesfinanzausgleich (dessen Verhandlungen ja schon im Nationalstaat mit | |
Hauen und Stechen abgehen), in Europa denkbar? | |
Auch viele Befürworter von mehr Integration beantworten diese Frage mit | |
Nein, weil sie glauben, dass die Bürger das nicht akzeptieren würden. | |
## Gleiche Sozialstandards schaffen | |
Aber stimmt das auch? Womöglich hängt es eher davon ab, wie man die Dinge | |
organisiert. Man sieht das ja auch im Nationalstaat. Direkte finanzielle | |
Überweisungen von reichen in ärmere Bundesländer sind immer eine | |
Konfliktquelle. Aber es ist kaum umstritten, dass die Beschäftigten | |
prosperierender Länder überproportional in die Arbeitslosenversicherung | |
einbezahlen und die Beschäftigungslosen strukturschwacher Regionen | |
überproportional „profitieren“. | |
Das geschieht einfach automatisch. Wer arbeitslos ist, kriegt die Knete. | |
Wenn irgendwo mehr Arbeitslose leben als anderswo, dann ist das ein | |
automatischer Transfer von einer Region in die andere, ohne dass es | |
besonders auffällt. So oder so ähnlich würde das vielleicht auch in Europa | |
funktionieren. | |
Vorausgesetzt wären aber vergleichbare Sozialstandards. Vergessen wir | |
nicht: Wir mögen uns noch so viel auf unser europäisches Sozialmodell | |
einbilden, Europa ist dennoch nur innerhalb der einzelnen Nationalstaaten | |
relativ egalitär. Europa als Ganzes ist sehr ungleich. Die Frage ist also: | |
Sind wir in den wohlhabenderen europäischen Regionen bereit, jene | |
Umverteilung zu akzeptieren, die notwendig ist, um Europa „gleicher“ zu | |
machen? | |
Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble haben mit ihrer | |
Herrenreitermentalität und ihrem stetigen „Zu spät, zu wenig“ Europa in d… | |
vergangenen Monaten immens geschadet. Jetzt sagt aber auch Schäuble – im | |
jüngsten Spiegel-Interview –, dass ein großer Sprung zu mehr Integration | |
möglich und notwendig ist: Bankenunion, Fiskalunion, gemeinsame | |
Bankenaufsicht, Eurobonds, gemeinsame Haftung. | |
Dafür brauchte es dann eine wirkliche europäische Regierung mit wirklich | |
demokratisch legitimiertem Premier und Finanzminister. Der Plan, den | |
Kommissionspräsident Manuel Barroso, Eurogruppenchef Juncker & Co. jetzt | |
vorgelegt haben, geht wenigstens ein bisschen in diese Richtung, wenngleich | |
man aufpassen muss, dass die Konservativen nicht etwas etablieren, was sie | |
so gern tun: mehr Exekutivvollmachten ohne demokratische Legitimation und | |
automatisierte Austeritätsmechaniken. Aber die Richtung stimmt. | |
## Ja, wir wollen das | |
Wollen wir das? Und wenn ja: Warum wollen wir das? Vielleicht sollten wir | |
die Frage wirklich einmal so simpel stellen. Wir haben uns in den letzten | |
Jahrzehnten angewöhnt, sie etwa so zu beantworten: Wir müssen das tun, weil | |
wir uns nur so in der Globalisierung behaupten können; wir müssen mehr | |
europäische Integration schaffen, weil der Nationalstaat heute ohnehin viel | |
zu klein ist. | |
Kurzum: Man hat nie gesagt, dass man etwas tut, weil man es für wirklich | |
gut und richtig hält, sondern weil es ohnehin keine Alternative gibt – oder | |
die Alternativen sehr unpraktisch wären. Vielleicht sollte man wieder damit | |
beginnen, zu sagen: Ja, wir wollen das, nicht weil wir irgendwie dazu | |
gezwungen sind, sondern weil wir das wirklich wollen. | |
Weil dieses Europa großartig ist. Weil wir diesem großartigen Europäischen | |
Parlament mehr demokratische Macht geben wollen. Und weil es eine Aufgabe | |
gibt in diesem Europa: annähernd gleiche – und zwar gleich gute – | |
Lebensbedingungen für alle Bürger dieser Europäischen Union zu schaffen. | |
28 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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