# taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Vom Glück Europas | |
> Europa erscheint in der Krise nur als ein technokratisches Gebilde. Doch | |
> in seiner Geschichte gibt es Kapitel von gelebter Freiheit und | |
> Gleichheit. | |
Bild: Nur selten können die Bürger Europas die EU mitgestalten: Näherin in S… | |
Es klingt auf düstere Weise prophetisch: "Der Tod der heutigen Formen der | |
sozialen Ordnung sollte die Seele eher erfreuen als beunruhigen. Das | |
Erschreckende ist jedoch, dass die scheidende Welt nicht etwa einen | |
Erbfolger hinterlässt, sondern eine schwangere Witwe. Zwischen dem Tod der | |
einen und der Geburt der anderen Ordnung wird viel Wasser fließen, wird es | |
eine lange Nacht voller Chaos und Verwüstung geben." | |
Diese Sätze stammen von Alexander Herzen. Der russische Demokrat schrieb | |
sie im Exil, kurz nachdem die Revolutionen von 1848 in ganz Europa | |
gescheitert waren. Danach hatten die alten Imperien alles wieder im Griff. | |
Aber dass 1848 ein Vorbote ihres endgültigen Untergangs war, das war Herzen | |
bewusst. Wie dieser Untergang aussehen und welche neue Ordnung die alten | |
Reiche ablösen würde, darüber konnte er nur Spekulationen und Befürchtungen | |
äußern. | |
Wie vieles, was Herzen damals geschrieben hat, scheinen die zitierten Sätze | |
zunächst mehr über Russland auszusagen als über den Westen und | |
Zentraleuropa. In seinen Londoner Exiljahren hat er einmal die Traditionen | |
der russischen und der polnischen Revolutionäre verglichen: Die Polen | |
hätten zahllose Reliquien der Vergangenheit, von denen sie sich inspirieren | |
lassen könnten, die Russen dagegen hätten nichts als "leere Wiegen". Auch | |
nach dem Aufstieg und Fall der bolschewistischen Revolution, die für das | |
kurze 20. Jahrhundert so ungeheuer folgenreich war, und nach zehn | |
rätselhaften Putin-Jahren wissen wir immer noch nicht, was für ein Kind die | |
schwangere Witwe Russland am Ende in ihre Wiege legen wird. | |
Wenn ich heute Herzens Sätze lese, muss ich an die große "Matrjoschka" | |
Europa denken: ein Kontinent, der vom Atlantik bis zum Ural reicht, in dem | |
aber eine kleinere EU steckt und darin eine wiederum kleinere Eurozone - | |
die noch weiter schrumpfen könnte. In dem großen Europa sind seit Ende der | |
1980er Jahre zwei Formen sozialer Ordnung abgestorben: die kommunistische, | |
die in das mehr als 40 Jahre währende System des Kalten Kriegs eingebettet | |
war, und der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat, der sich in Westeuropa | |
nach 1945 herausgebildet hat. Der erste Tod mag die Seele erfreuen, der | |
zweite sollte sie verstören. | |
## Im dunklen Korridor zwischen alter und neuer Ordnung | |
Hat uns die von Herzen prophezeite "lange Nacht voller Chaos und | |
Verwüstung" heimgesucht? Die letzten 25 Jahre konnten in Europa allenfalls | |
diejenigen als Verwüstung erfahren, die der neoliberal entfesselte | |
Kapitalismus zu Verlierern gemacht hat. Chaos dagegen haben wir europa- und | |
weltweit reichlich erlebt, ausgelöst durch die Finanzkrise und die | |
politischen Umwälzungen, die schon vorher die Blockdisziplin des Kalten | |
Kriegs aufgebrochen hatten. | |
Zwanzig Jahre danach schwindet die Begeisterung für eine ungezähmte | |
Marktwirtschaft zusehends, und wir haben - wie Herzen nach 1848 - das | |
Gefühl, in einem dunklen Korridor, am Übergang zwischen alter und neuer | |
Ordnung angelangt zu sein. Wobei die ersten schmerzhaften Wehen, die in | |
ganz Europa und im eurasischen Raum zu spüren sind, nicht unbedingt | |
anzeigen, dass die Geburt unmittelbar bevorsteht. | |
Es gibt eine Geschichte über "displaced persons", die sich am Ende des | |
Zweiten Weltkriegs in einem Auffanglager irgendwo in Deutschland zugetragen | |
haben soll. Ein KZ-Überlebender wird von Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes | |
und der UN-Flüchtlingsorganisation gefragt: "Nun, Mr Lemberger, und wohin | |
würden sie jetzt gerne gehen?" - "Nach Neuseeland." - "Neuseeland? Aber das | |
ist furchtbar weit weg!" - "Weit weg von was?" | |
Für mich, der ich noch zu Kriegszeiten geboren wurde, bedeutete Europa | |
nichts Gutes. Von dort kamen die Heinkel- und Dornier-Flugzeuge, Europa war | |
das Feindesland jenseits des Kanals, das uns erst dank des D-Days in der | |
Normandie wieder zugänglich wurde. Auf dem Kontinent dort drüben hatte es | |
herzzerreißendes Leid und Grausamkeiten gegeben, aber auch mutigen | |
Widerstand, und doch behielt das Wort "Europa" für mich wie für viele | |
Briten noch lange einen unheilvollen Klang. | |
## Grenzen als Schutzanlagen | |
In den 1950er Jahren ging ich zu Kundgebungen des britischen | |
Faschistenführers Oswald Mosley, dessen Rhetorik billig war und doch | |
berauschend wie der Flug im Kettenkarussell auf dem Rummelplatz. Mosley | |
predigte ein Vereintes Europa, das die Zivilisation vor dem Bolschewismus | |
retten sollte. Später glaubte ich wie die meisten meiner Freunde - wir | |
waren eher der Labour-Linken zugeneigt -, die europäische Einigung sei ein | |
Komplott von katholischen Konservativen (von denen wir die meisten für | |
Nazikollaborateure hielten) mit dem Ziel, die deutsche Wiederbewaffnung | |
zuzulassen und die Sowjetunion mit Atombomben einzudecken. | |
Als ich später in Westdeutschland lebte, hörte ich bald auf, mich über die | |
jungen Deutschen zu mokieren, die ernsthaft erklärten, dass sie sich als | |
Europäer und nicht als Deutsche fühlten. Europa bedeutete für sie: | |
Neutralität, Versöhnung, offene Grenzen. Schon Jahre vorher waren einige | |
von ihnen über die Rheinbrücke zwischen Kehl und Strasbourg gezogen, um im | |
Namen des neuen Europas die Grenzbarrieren einzureißen. Zu ihrer | |
Überraschung wurden sie von den französischen Grenzern nicht etwa | |
brüderlich begrüßt, sondern verprügelt und in Polizeiautos abtransportiert. | |
Damals empfand ich Grenzen noch eher als Schutzanlagen, da in meinem Kopf | |
noch die Bilder von den lachenden Wehrmachtssoldaten steckten, die am 1. | |
September 1939 den polnischen Grenzschlagbaum aus den Angeln hoben.(1) Aber | |
dann entdeckte ich einen polnischen Roman. | |
Die Handlung spielte, um den Zensor zu beschwichtigen, in einem winzigen | |
Streifen zwischen Belgien und Deutschland, den die Landvermesser bei der | |
Neufestlegung der europäischen Grenzen nach den Napoleonischen Kriegen | |
schlicht übersehen hatten. Auf diesem Fleckchen lebte eine Handvoll freier | |
Menschen - ohne Militärdienst, Ausweispapiere, Steuern und Zensoren. | |
Glückliche staatenlose Europäer. | |
## Der Code Napoléon | |
Vierzig Jahre lang hielt ich die Geschichte für eine sentimentale | |
Erfindung. Dann fand ich heraus, dass dieser Fleck Erde tatsächlich | |
existiert. Und inzwischen bin ich hingefahren. Das heute zu Belgien | |
gehörende Gebiet wurde schon mit vielen Namen belegt. Am besten gefällt mir | |
die "Akwizgranische Diskrepanz". Häufiger wurde es auch als | |
Neutral-Moresnet, als Kelmis oder als La Calamine bezeichnet. Die Bewohner | |
selbst wollten es "Amikejo" nennen. | |
Für den polnischen Autor war der Ort nichts als ein kartografischer Fehler, | |
weil da, wo drei Linien zusammentreffen sollten, ein kleines Dreieck weiß | |
geblieben war. In Wirklichkeit war es so, dass sich auf dem Wiener Kongress | |
die preußischen und niederländischen Diplomaten nicht einigen konnten, an | |
wen eine wertvolle Zinkspatmine fallen sollte, weshalb sie das Gebiet für | |
neutral erklärten. 1830 entstand das Königreich Belgien. Jetzt trafen die | |
vier Territorien (preußische Rheinprovinz, Niederlande, Belgien und | |
Neutral-Moresnet) auf einer bewaldeten Kuppe zusammen, auf der noch heute | |
die vier Grenzsteine stehen.(2) | |
Die "Diskrepanz" ist ein winziges Dreieck, an dessen südlichem Ende das | |
triste Städtchen Kelmis/La Calamine liegt. Für mehr als hundert Jahre | |
lebten die Einwohner vom Schnapsschmuggel (insbesondere nachdem die | |
Zinkspatmine erschöpft war) und von den etwa siebzig Bars und Cafés, die in | |
ihrem Eckchen aufmachten. Als im Lauf der Zeit dann Flüchtlinge und | |
Vertriebene aus anderen europäischen Ländern dazukamen, wuchs die | |
Bevölkerung um das Zehnfache. | |
1886 brachte ein schnauzbärtiger Arzt namens Wilhelm Molly einen Satz | |
Briefmarken heraus, die jedoch von den Preußen und Niederländern aus dem | |
Verkehr gezogen wurden. Beide beriefen sich dabei auf den Code Napoléon, | |
dem zufolge Postangelegenheiten ein Monopol des französischen Kaiserreichs | |
waren. Dieses Gesetz war also nach preußisch-niederländischer Auffassung | |
auch siebzig Jahre nach Ende des napoleonischen Reichs in der Enklave noch | |
irgendwie in Kraft. | |
## "Hier schert sich niemand darum, was du sprichst" | |
1908 riefen Molly und seine Freunde einen Esperanto-Staat aus, den sie | |
Amikejo - nach dem Esperanto-Wort für Freundschaft - nennen wollten. Die | |
Amikejaner begannen mit großem Eifer, Esperanto zu lernen, bald gab es auch | |
eine Flagge und eine Hymne. Doch inzwischen machte das Deutsche Kaiserreich | |
Ansprüche auf das Territorium geltend und unterstrich diese durch | |
wiederholtes Kappen der Strom- und Telefonleitungen. 1914 marschierten | |
deutsche Truppen auf ihrem Weg nach Belgien in Moresnet ein und | |
annektierten Amikejo. Dabei sollen sie mehrere Esperantisten erschossen | |
haben. In den Versailler Verträgen wurde das Dreieck samt der umliegenden | |
Gebiete Belgien zugesprochen. Es war das Ende einer hundertjährigen | |
verstohlenen Unabhängigkeit. | |
Heute erinnert sich kaum noch jemand an die verlorene Freiheit. Es gibt | |
keine Amikejo-Fähnchen, keine Briefmarkenreproduktionen, nichts. Die | |
Kneipe, wo die Einwohner ihre feierliche Entscheidung für Esperanto trafen, | |
wurde zur Skyline-Disco, von der heute nur noch ein vollgeregnetes Loch im | |
Boden übrig ist. Geblieben sind nur die alten Grenzsteine im Wald. | |
Das Vergessen hat einen Grund. Diese Ecke von Belgien ist ein | |
linguistischer Flickenteppich aus französisch- und deutschsprachigen | |
Gemeinden, bisweilen wechselt die Beschriftung der Verkehrsschilder alle | |
paar Kilometer. Kelmis (oder La Calamine) ist zweisprachig, obwohl die | |
meisten Leute im Alltag Deutsch sprechen. Aber im Gegensatz zu den | |
erbitterten Fehden zwischen dem französisch- und flämischsprachigen Belgien | |
gibt es hier keinen Streit. In der Friterie an der Rue de Liège sagt man | |
mir: "Hier schert sich niemand darum, was du sprichst." Und die Leute | |
wollen, dass das so bleibt. | |
Diese Geschichte hat aber auch eine gesamteuropäische Bedeutung. Sie | |
beweist, dass ein Kleinsteuropa ohne Grenzen existieren konnte. Sie erzählt | |
von einer Zeit, da Nationalstaaten weniger unter einem Horror Vacui litten | |
und bei ungeklärter Souveränität nicht gleich in Panik verfielen. Die | |
"Akwizgranische Diskrepanz" verhieß Europäern, die in Diktaturen lebten, | |
einen sanften Traum von einem Niemandsland zwischen den bewaffneten | |
Mächten, in dem sie Zuflucht finden und auf winzig kleinem Raum ein | |
authentisches Leben führen könnten. | |
Zugleich war Le Moresnet/Amikejo auch eine Art Wurmloch, das durch zwei | |
Kriege hindurch bis in unser heutiges Maastricht-Europa führt: keine | |
Zollschranken, keine Grenzsperren, die allgemeine Wehrpflicht meist nur | |
noch ferne Erinnerung, keine nationalen Währungen, keine Angst, wegen mehr | |
oder weniger kurioser Minderheitenpositionen verhaftet zu werden. | |
## Ein Niemandsland namens Freundschaft | |
Und doch ist Europa noch heute, in unserer unbestreitbar humaneren Zeit, | |
eine Region geblieben, in der sich immer wieder ein Überdruck aufbaut, der | |
mal kreative, manchmal aber auch destruktive Wirkungen haben kann - was | |
unter anderem mit seiner kulturellen und ethnischen Heterogenität zu tun | |
hat, die bei jedem Vergleich mit den USA ins Auge springt. | |
Das auffälligste Merkmal des modernen Europa ist seine Vielfalt. Doch das | |
war nicht immer so, wie Perry Anderson in seinem klugen Buch über die "Neue | |
Alte Welt" gezeigt hat.(3) Die kritischen Köpfe der Aufklärung waren, | |
anders als wir, begeistert von den Ähnlichkeiten und Symmetrien zwischen | |
den europäischen Staaten. | |
Ihre Vorstellung von Europa als einem Körper mit harmonisch | |
proportionierten Gliedmaßen rührte von der weitgehenden Ähnlichkeit der | |
Umgangsformen, Gebräuche, Gesetze und religiösen Überzeugungen her. Für | |
Voltaire war Europa "eine Art großer Republik, die in mehrere teils rein | |
monarchische, teils konstitutionelle, teils aristokratische, teils | |
demokratische Staaten zerfiel, welche jedoch sämtlich miteinander | |
harmonierten".(4) | |
Der schottische Historiker William Robertson (1721-1793) beschrieb die | |
Staaten Europas als eine einzige Gemeinschaft, die sich durch eine | |
allgemeine Ähnlichkeit und eine "große Überlegenheit gegenüber dem Rest der | |
Menschheit" auszeichne. Nur Rousseau versetzte der Idee vom universellen | |
Europäer einen Dämpfer, als er 1770 schrieb: "Wir haben heutzutage nur | |
Europäer, durchweg mit demselben Geschmack, denselben Leidenschaften, | |
denselben Gebräuchen, die alle vom Gemeinwohl reden und dabei nur an sich | |
selber denken, die alle Mäßigung vortäuschen und wie Krösus sein wollen [�… | |
Was schert sie, welchem Herren sie dienen, welches Staates Gesetzen sie | |
gehorchen? Sie sind überall zu Hause, wenn sie nur Gelegenheit finden, Geld | |
zu stehlen und Frauen zu verderben." | |
## Napoleonische Kriege | |
Mit der Französischen Revolution, oder genauer: den anschließenden | |
Napoleonischen Kriegen, hat sich die noch auf der Aufklärung beruhende | |
Sichtweise stark verändert. Im damaligen Nachkriegseuropa gab es keine | |
natürliche Balance: Nach Napoleon waren die Pläne zur europäischen Einheit | |
zugleich Allianzen, mit denen sich die mächtigen Staaten gegenseitig in | |
Schach hielten. Aber die Regelung von 1815 hielt gerade deshalb so lange, | |
weil die "Heilige Allianz" aus den übermächtigen und expansionistischen | |
Staaten Europas bestand und sich auf einen dynastischen Absolutismus und | |
die Unterdrückung jeglicher - sozialer oder nationaler - Revolution | |
verpflichtet hatte. | |
Der Wiener Kongress ließ das winzige Le Moresnet entstehen, betonierte aber | |
die Herrschaftsverhältnisse in einem Großteil des Territoriums, das zuvor | |
das unabhängige Polen ausgemacht hatte. Intellektuelle und einzelne | |
Politiker entwarfen zwar weiter Pläne für eine europäische Einigung. Anders | |
als ihre Vorläufer im 18. Jahrhundert erklärten sie jedoch nicht die | |
Parallelen, sondern die Unterschiede zwischen den europäischen Staaten zu | |
einem Vorzug. | |
Der nach 1830 überaus einflussreiche französische Politiker François Guizot | |
betrachtete die Konflikte zwischen den disparaten Einheiten auf ziemlich | |
dialektische Weise als gemeinsame Kraftquelle Europas. Eine ähnliche | |
Ansicht vertraten im deutschsprachigen Raum die Historiker Jacob Burckhardt | |
und Leopold von Ranke. Burckhardt feierte Europas "vielartigen Reichtum" | |
und wertete die große Vielfalt widerstreitender Ideen, Individuen und | |
Nationen nachgerade als historischen Glücksfall. | |
Sie alle waren mehr oder weniger konservative Geister. Doch auch die | |
europäische Linke träumte im 19. Jahrhundert von den "Vereinigten Staaten | |
von Europa", aber für die republikanischen Kräfte und die frühen | |
Sozialisten sollte das vereinte - oder föderale - Europa in erster Linie | |
einen Krieg verhindern. Diese pazifistische Strömung erhielt durch den | |
Ersten Weltkrieg neuen Auftrieb. | |
In der europäischen Linken wurde der Gedanke so leidenschaftlich | |
vorgetragen, dass er Debatten über die wirtschaftliche und soziale | |
Ausgestaltung eines vereinten Europas in den Hintergrund drängte und | |
konkretere Entwürfe einer solchen Union eher verhinderte. In der | |
Zwischenkriegszeit herrschte an hochfliegenden föderativen Visionen kein | |
Mangel, doch der erste praktische Schritt kam von der französischen | |
Regierung, deren Außenminister Aristide Briand 1929 vor der Versammlung des | |
Völkerbunds eine europäische Union vorschlug. | |
## Der "Aufbau Europas" | |
Aus dem Plan wurde damals nichts. Doch nach 1945 wurden immerhin drei | |
seiner Elemente unter den Kriegstrümmern hervorgezogen. Das war erstens der | |
Gedanke, dass das politische Projekt einer europäischen Union einen | |
internationalen Rahmen braucht, der auch Deutschland einbezieht, und zwar | |
um die deutsche Macht im Zaum zu halten. Zweitens hatte jede Union mit | |
einer Vereinbarung über die wirtschaftliche und industrielle Kooperation | |
zwischen Frankreich und Deutschland zu beginnen. | |
Drittens musste der "Aufbau Europas" institutionell und ökonomisch von oben | |
nach unten erfolgen, bewerkstelligt von internationalen Technokraten und | |
unter Schirmherrschaft der Regierungen. Die Idee, dass "das Volk von | |
Europa" eine aktive Rolle spielen oder auch nur befragt werden sollte, kam | |
den Politikern nicht. Es gab ja auch gar kein europäisches Volk. Irgendwann | |
würde es vielleicht so weit sein, dann könnte eine echte, demokratisch | |
legitimierte Föderation möglich werden, nach dem Vorbild der Vereinigten | |
Staaten von Amerika. Aber darauf zu warten war sinnlos. | |
Perry Anderson verfolgt diese "technokratische Linie" bis auf die Schriften | |
von Henri de Saint-Simon im frühen 19. Jahrhundert zurück. Auch der | |
französische Frühsozialist habe lediglich gewollt, dass "Europa selbst | |
nicht mehr von Krieg bedroht war und sich um industrielles Wachstum und | |
wissenschaftlichen Fortschritt zum Wohle aller seiner Klassen bemühte". Wo | |
immer die Idee herkam, jedenfalls setzte sich nach 1945 erneut die | |
Vorstellung durch, dass die Integration Europas nur von oben durchgesetzt | |
werden könne. | |
Im Folgenden will ich gegen diese Version der Geschichte drei ketzerische | |
Einwände vorbringen, wobei nur einer von mir stammt. Der erste Einwand | |
lautet, dass viele Historiker, die über das 20. Jahrhundert schreiben, ein | |
Kapitel aus den Augen verloren haben, das man mit "Widerstandsfrühling" | |
überschreiben könnte. Die europäische Résistance war ja nicht nur ein | |
Aufstand gegen die faschistischen Besatzer. | |
Sie war zugleich ein Aufbruch in die Zukunft, getragen von Hoffnung und | |
Idealismus, und von Männern und Frauen aller Nationen auf dem gesamten | |
Kontinent. Sie brachte Programme für soziale Gerechtigkeit und | |
gesellschaftlichen Wandel hervor, die anfangs in den verschiedenen Ländern | |
verblüffend ähnlich formuliert waren. Ihr historischer Kontext war | |
national-patriotisch. Deshalb gehört sie ganz klar in die Folge nationaler | |
Erhebungen, die 1848 begonnen und 1989 ihren - vorläufigen - Höhepunkt | |
erreicht haben. | |
## Im Widerstand | |
Dieser Widerstandsfrühling begann im Laufe des Jahres 1943 und endete gegen | |
1948, als er durch den Kalten Krieg überlagert wurde, der dann neue | |
Bündnisse erzwang. Die Sowjetunion wies die Kommunisten im Westen an, die | |
antifaschistische Solidarität aufzukündigen und mit ihren alten | |
Kampfgenossen im sozialdemokratischen, liberalen oder christdemokratischen | |
Lager zu brechen. Diesen Bruch wollten auch die US-Amerikaner, die vor | |
allem darauf bedacht waren, den sowjetischen Einfluss vom Westen | |
Deutschlands fernzuhalten. | |
Die Widerstandsbewegungen waren sich in zwei Grundgedanken einig: Erstens | |
hatte in ihren Ländern die Vorkriegsordnung bei der Verteidigung der | |
Demokratie oder der nationalen Unabhängigkeit versagt. Für den | |
Zusammenbruch dieser liberalkapitalistischen Systeme war zum Teil die an | |
Hochverrat grenzende Korruption der alten Eliten verantwortlich. Da unter | |
ihnen tatsächlich Leute waren, die mit den Nazibesatzern kollaboriert | |
hatten, musste die Befreiung mit tiefgreifenden institutionellen und | |
gesellschaftlichen Veränderungen einhergehen. | |
Zweitens waren diese Veränderungen in alle Programme der Résistance - von | |
Polen über Italien und Griechenland bis Frankreich und den Niederlanden - | |
in eine Form stabiler, wohlfahrtsstaatlicher Demokratie eingebettet. Es war | |
eine Art von "sozialistischem" System, das aber wenig mit dem sowjetischen | |
Modell zu tun hatte, weil es eine pluralistische politische Demokratie | |
vorsah, in der alle "bürgerlichen Freiheiten" garantiert sein sollten. | |
Hinzu kommen sollten allerdings ein progressives Steuer- und | |
Wirtschaftssystem, eine allgemeine Krankenversicherung und die weitgehende | |
Nationalisierung der Industrie, des Finanzsektors und des | |
Transportwesens.(5) | |
Nicht ganz so eindeutig war die Haltung der führenden Kräfte der Résistance | |
und der in London sitzenden Exilregierungen der besetzten Länder in Bezug | |
auf eine gesamteuropäische Nachkriegsordnung. Schließlich kämpften und | |
starben ihre Anhänger, um eine Form des vereinigten Europa, nämlich Hitlers | |
neue Kontinentalordnung, zu bezwingen. | |
Proeuropäische Bekenntnisse hörte man damals zumeist von Leuten, die sich | |
den Waffen-SS-Divisionen "Nordland" oder der "légion des volontaires | |
français" anschließen wollten, um die "westeuropäische Zivilisation" gegen | |
die bolschewistischen Horden zu verteidigen. Zwar hofften die | |
Widerstandsbewegungen auf einen brüderlichen, antifaschistischen Kontinent | |
unter Einschluss Großbritanniens, in dem die neu erstandenen Nationen in | |
Frieden und Wohlstand nebeneinander leben konnten. Doch ihre Vorstellungen | |
von den europäischen Institutionen waren verschwommen. | |
## "The European Rescue of the Nation-State" | |
Wir malen uns gern aus, dass die jungen Männer und Frauen, die damals in | |
den Wäldern auf den nächsten Fallschirm mit Waffen für ihren | |
Partisanenkampf warteten, von einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft | |
träumten. Aber das taten sie nicht. Sie kämpften, um ihr Land zu befreien. | |
Ihr Antrieb war ein altmodischer Patriotismus, der Wunsch, ihre | |
geschändeten Staaten zu befreien, auszumisten und neu aufzubauen. Das | |
bringt mich zu meinem zweiten ketzerischen Einwand, der auf den 2010 | |
verstorbenen Wirtschaftshistoriker Alan Milward zurückgeht. | |
In seinem mit zwei Kollegen verfassten und noch heute viel diskutierten | |
Buch "The European Rescue of the Nation-State"(6) nimmt Milward die | |
Standarddarstellungen über den Weg zur Europäischen Gemeinschaft | |
auseinander und spöttelt insbesondere über die verbreitete Idee, dass | |
Europas Gründungsheilige darauf aus waren, den Nationalstaat abzuschaffen | |
und auf eine neue Ebene zu heben. Zweck und Ziel der frühen EWG war aber | |
ganz im Gegenteil, die durch den Krieg physisch wie moralisch schwer | |
angeschlagenen Nationalstaaten zu retten, zu reorganisieren und mit neuer | |
Legitimation auszustatten. | |
Die supranationalen Institutionen waren also kein Zweck an sich, sondern | |
ein Mittel zu diesen nationalen Zweck. Die Gründerväter haben den | |
Nationalstaat als "Fundament einer besseren europäischen Ordnung" also | |
keineswegs verworfen, argumentiert Milward, ihr Ruhm und ihre Erfolge | |
beruhten vielmehr just darauf, dass sie sich über die positive Rolle des | |
Nationalstaats beim Aufbau einer Nachkriegsordnung genau im Klaren waren. | |
Zugleich aber "erkannten sie auch - oder stolperten über - die | |
Notwendigkeit einer begrenzten Aufgabe von nationaler Souveränität, durch | |
die der Nationalstaat und Westeuropa gestärkt wurden, und zwar nicht als | |
separate und gegensätzlich Einheiten, sondern in einem Prozess der | |
gegenseitigen Stärkung". | |
Das ist sicher richtig. Die Regierungen des befreiten Europa gingen, wie | |
die Widerstandskämpfer, vom Primat der Nation aus, von der Notwendigkeit, | |
den diskreditierten Staat durch einen besseren zu ersetzen, durch einen, | |
der sich Legitimität in den Augen seiner Bürger verschaffen konnte. | |
Dasselbe gilt für die Volksrepubliken von Ost- und Zentraleuropa in den | |
paar Jahren, bevor die volle Sowjetisierung mittels Terror durchgesetzt | |
war. | |
Doch die allerersten Voraussetzungen für einen legitimen Staat - also | |
Nahrungsmittel und Bekleidung in die Läden zu bringen oder die zerstörten | |
Verkehrsnetze instand zu setzen - waren nur durch übernationale Vereinigung | |
und Vernetzung der Produktionskapazitäten zu schaffen. | |
So kam es denn auch. Jean Monnet organisierte die Montanunion (die | |
offiziell "Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl" hieß) nicht etwa, | |
weil er von einer Union träumte. Was immer seine Bewunderer später sagten, | |
er tat dies, um die französische Stahlindustrie am Leben zu halten und | |
Frankreich den Zugriff auf einen Teil der deutschen Kohleproduktion zu | |
sichern. Und das funktionierte. Die ökonomische und politische Integration | |
hat im Laufe von mehr als fünfzig Jahren eine Union überwiegend | |
selbstbewusster und stabiler Nationalstaaten entstehen lassen, die - | |
ernährt durch eine erstaunlich schlanke Brüsseler Bürokratie - noch weiter | |
anwächst. | |
## Die Europäische Union - ein kostbares Kollektivwesen | |
Sind die 27 EU-Staaten, von denen die meisten bis zum Ausbruch der sich wie | |
die Schweinegrippe ausbreitenden Verschuldungskrise gesund und stabil | |
waren, tatsächlich noch auf die EU-Institutionen angewiesen? Milward | |
glaubt, dass das historische Selbstporträt der EU wie in Cinemascope | |
aufgemotzt und im Grunde großer Unfug ist. | |
In den dreißig "glorreichen Jahren", die 1975 zu Ende gingen, erlebte | |
Westeuropa die längste Friedensperiode seiner Geschichte und einen rasanten | |
Anstieg der Realeinkommen. Aber verdanken wir diesen Frieden und Wohlstand | |
der alten EWG? "Wir haben Krieg zwischen europäischen Nationen undenkbar | |
gemacht", lautete die Behauptung, aber haben dafür nicht vielmehr die | |
Amerikaner und der Kalte Krieg gesorgt? Und der Wohlstand? Die Abschaffung | |
der Zölle und der freie Verkehr von Gütern, Geld und Menschen waren | |
zweifellos eine Voraussetzung für den Wirtschaftsboom. Aber dazu hat | |
Brüssel wenig beigetragen, wenn wir Milwards ebenso bitterer wie | |
messerscharfer Analyse folgen. Es waren eher die restaurierten | |
Nationalstaaten, die für die Investitionen sorgten und die Risiken | |
übernahmen. | |
In diesen dreißig Jahren bestand ein sozialdemokratischer Konsens: starke | |
interventionistische Staaten mit einem großen öffentlichen Sektor und dem | |
Ziel, für Vollbeschäftigung und die Umverteilung von Einkommen und Vermögen | |
zu sorgen. Der im August 2010 verstorbene Tony Judt(7) hat uns | |
aufgefordert, vom 20. Jahrhundert nicht nur die Schrecken im Gedächtnis zu | |
behalten. In der Tat gehören die Stabilität und die soziale Gerechtigkeit | |
in Westeuropa nach 1945 zu den großen Errungenschaften der Menschheit. | |
Auf diese Phase folgten dreißig Jahre des - inzwischen verblassenden - | |
neoliberalen Dogmas, das uns den Schlamassel beschert hat, in dem wir heute | |
sitzen. Dass der Nationalstaat seine mühsam gewonnene Legitimität einbüßt, | |
wenn er öffentliche Einrichtungen privatisiert, die für das Leben der | |
Menschen wichtig sind, war keine Überraschung. Je mehr sich der Staat von | |
den Bürgern entfernte, umso mehr verloren die das Interesse an den | |
demokratischen Prozessen. In jüngster Zeit bemühen sich die europäischen | |
Regierungen, die verlorene Autorität neu zu begründen. Bezeichnenderweise | |
versuchen sie das unter anderem dadurch, dass sie die supranationale | |
Integration beschleunigen, statt sie zu verlangsamen. | |
Mein eigenes Bild von unserem heutigen Europa ist das eines lebenden | |
Schwamms, eines knautschigen Gebildes unbestimmter Ausdehnung, eines | |
kostbaren und wunderschönen Kollektivwesens, in dessen offenen Poren | |
ungezählte Gastorganismen schwimmen oder sich einnisten und vermehren. Es | |
wird nie ein klirrender, stählerner Superstaat sein, der blitzartig über | |
Krieg und Frieden entscheiden kann. Und es wird für seine eigene | |
Verteidigung in Wahrheit immer auf andere Mächte angewiesen sein. | |
## 400 Jahre lang nicht klar umrissen | |
Der Rechtsphilosoph Samuel von Pufendorf hat in seinem 1667 | |
veröffentlichten Werk "De statu imperii Germanici" das Heilige Römische | |
Reich als "irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper" ("irregulare | |
aliquod corpus et monstro simile") beschrieben. Ein paar hundert Jahre | |
später wurde der verschachtelte Irrsinn von Regeln und Ausnahmen, der den | |
völkerrechtlichen Status Westberlins ausmachte, oft als Monstrum | |
beschrieben. | |
Das sanftmütige europäische Monstrum unserer Tage hat noch andere Vorläufer | |
aus vormodernen Zeiten. Zum Beispiel die Polnisch-Litauische Union. Diese | |
alte Rzeczpospolita wurde 1795 im Zuge der dritten Teilung Polens von ihren | |
autoritären Nachbarstaaten (Russland, Preußen, Habsburger Monarchie) | |
gemordet, zuvor aber hatte sie fast 400 Jahre lang als nicht klar | |
umrissene, ineffiziente, gastfreundliche, dezentralisierte, ziemlich | |
tolerante multikulturelle Föderation existiert, über längere Zeiten auch | |
als größtes Staatsgebilde Osteuropas. | |
Der Zerfall dieser Union war auch auf ihre eigenen demokratischen | |
Strukturen, oder sagen wir, auf die Ablehnung jeglicher Autoritäten | |
zurückzuführen. Im polnischen Sejm - dem Reichstag der Adelsrepublik - galt | |
das Prinzip der Einstimmigkeit: Das Veto eines einzigen Mitglieds reichte, | |
um ein Gesetz zu blockieren oder sogar alle vorangegangenen Beschlüsse | |
wieder aufzuheben. Nach demselben Prinzip werden heute, wie wir nur zu gut | |
wissen, die wichtigsten Entscheidungen in der EU getroffen: monstro simile. | |
Der polnische Außenminister Radek Sikorski hat in seiner bedeutenden | |
Berliner Rede vom 28. November 2011 nachdrücklich und warnend auf das | |
Schicksal der Rzeczpospolita hingewiesen: Die Teilung Polens sei damals | |
nicht abzuwenden gewesen, weil man die nötigen Reformen verschleppt habe. | |
In der heutigen Eurokrise müsse die EU schnell handeln. "Wahrscheinlich bin | |
ich der erste polnische Außenminister, der dies sagt, aber hiermit tue ich | |
es: Meine Angst vor deutscher Macht ist geringer als meine einsetzende | |
Angst vor deutscher Untätigkeit." | |
Laut Sikorski steht die EU vor der Wahl zwischen vertiefter Integration und | |
Auflösung. Er selbst plädiere, als Vertreter eines Landes, das bald der | |
Eurozone beitreten will, für das beschleunigte Vorantreiben einer | |
föderativen, integrierten Union. | |
Diese Rede war wie eine Kavallerieattacke. Ich bin nicht mit allem | |
einverstanden, was der draufgängerische Sikorski sagt - schon weil er noch | |
immer ein bekennender Neoliberaler ist. Und ich sehe auch in Zukunft keine | |
Brüsseler Armee, die mehr Schrecken verbreiten könnte als der Europäische | |
Rechnungshof. Aber ich glaube, dass er in der Frage der weiteren | |
Integration richtig liegt. Die Eurokrise wird sich zunächst weiter | |
zuspitzen, aber irgendwann wird sich eine Lösung finden. Schon weil Europa | |
ohne gemeinsame Währung undenkbar geworden ist. Mit seiner Berliner Rede | |
rückte Sikorski in die Nähe der Milward'schen Position, nach der die EU | |
nicht die Antithese, sondern die Ergänzung zum Nationalstaat darstellt. | |
"Je mehr Macht und Legitimität wir den gemeinschaftlichen Institutionen | |
geben, desto sicherer sollten sich die Mitgliedstaaten fühlen, dass | |
bestimmte privilegierte Bereiche für immer in der Zuständigkeit der Staaten | |
verbleiben."(8) Erstaunlich genug, dass ein Marktliberaler wie Sikorski | |
dieses Argument vorbringt. Denn es besagt ja gerade, dass die gewählten | |
Regierungen, die sich zwanzig Jahre lang in kleinstaatlichem Geschwafel | |
verausgabt haben, durch eine vertiefte Integration zu neuem | |
Selbstbewusstsein finden werden und das Vertrauen ihrer Bürger | |
zurückgewinnen können. | |
Und was wird mit Großbritannien? Über den Rückzug der Briten ist die | |
gesamte - oder sagen wir fast die gesamte - EU traurig. Aber mir scheint, | |
dass die Union und die Eurozone heute ohne Großbritannien besser dran sein | |
würden. Stattdessen brauchen sie ein anderes Partnerland, nämlich England. | |
Das kleine Schottland würde sich auch allein in die EU und eine reformierte | |
Währungsunion einfügen. England dagegen wird erst dann an der Gestaltung | |
Europas selbstbewusst mitwirken können, wenn es seine großbritischen | |
Ansprüche, seine archaische Auffassung von Souveränität und seine | |
Illusionen über eine "special relationship" zu den USA aufgegeben hat. | |
Seit das Absterben der sozialdemokratischen Ordnung begonnen hat, sind über | |
dreißig Jahre vergangen. Jetzt endlich scheint die schwangere Witwe, von | |
der Alexander Herzen vor 160 Jahren gesprochen hat, erste Vorwehen zu | |
verspüren. Aber was kündigen sie an? Das Wiedererstehen eines "reformierten | |
Kapitalismus"? Einen unerwarteten Wurf kleiner Geschwister, also die | |
Aufspaltung einiger alter Staaten? Oder eine europäische Ordnung, in der | |
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ihre Wiedergeburt erleben - der wir | |
also, wie Tony Judt hoffte, "die Frage nach der Substanz des Allgemeinwohls | |
neu stellen können"? Wenn es so kommt, werde ich die Amikejo-Flagge hissen. | |
Fußnoten: | |
(1) Das Nazi-Propaganda-Foto unter: | |
[1][germanhistorydocs.ghi-dc.org/images/highres_30002211%20copy1.jpg]. Die | |
Szene wurde übrigens nachträglich gestellt. | |
(2) Es handelt sich um den Vaalserberg; weitere historische Einzelheiten | |
unter: [2][de.wikipedia.org/wiki/Neutral-Moresnet]. | |
(3) Perry Anderson, "The New Old World", London (Verso) 2009. | |
(4) Voltaire, "Das Zeitalter Ludwigs XIV.", 2 Bde., Leipzig 1887, Bd. 1, S. | |
25 f. (frz. Orig. 1751). | |
(5) Im 1947 bei Gründung der CDU beschlossenen Ahlener Programm stand der | |
Satz: "Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und | |
sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden." | |
Entsprechend war eine teilweise Vergesellschaftung der Schwerindustrie | |
vorgesehen. | |
(6) Alan S. Milward, George Brennan und Federico Romero, "The Rescue of the | |
European Nation-State", London (Taylor & Francis) 1992. Die Bedeutung des | |
berühmten Wirtschaftshistorikers würdigt der Nachruf im "Guardian vom 28. | |
Oktober 2010: | |
[3][www.guardian.co.uk/books/2010/oct/28/alan-milward-obituary]. | |
(7) Siehe: Tony Judt, "Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart", | |
München/Wien (Hanser) 2006. | |
(8) Gemeint ist beispielsweise die Kultur und alles, was mit nationalen | |
Identitäten zu tun hat. Sikorskis Rede auf Englisch unter: | |
[4][www.msz.gov.pl/files/docs/komunikaty/20111128BERLIN/radoslaw_sikorski_p | |
oland_and_the_future_of_the_eu.pdf]. | |
Aus dem Englischen von Niels Kadritzk. © "London Review of Books, für die | |
deutsche Übersetzung" Le Monde diplomatique, Berlin | |
29 Apr 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/images/highres_30002211%2520copy1.jpg | |
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Neutral-Moresnet | |
[3] http://www.guardian.co.uk/books/2010/oct/28/alan-milward-obituary | |
[4] http://www.msz.gov.pl/files/docs/komunikaty/20111128BERLIN/radoslaw_sikorsk… | |
## AUTOREN | |
Neal Ascherson | |
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