# taz.de -- Kinderschutz wird immer schwieriger: Jugendamt-Mitarbeiter in Not | |
> Hamburgs Allgemeine Soziale Dienste sind nicht arbeitsfähig, davor warnt | |
> Studie der Uni-Koblenz. Eine sehr hohe Belastung und die Skandalisierung | |
> dramatischer Einzelfälle führten zu einer Negativ-Spirale | |
Bild: Nach dem Tod von Chantal hat ein Forscher-Team Hamburgs Jugendämter unte… | |
HAMBURG taz | Tun Politik und Medien im Einklang nach dramatischen | |
Todesfällen von Kindern in guter Absicht das Falsche? Dieser Vorwurf zieht | |
sich wie ein roter Faden durch die 75-seitige Organisationsanalyse, die | |
Professor [1][Christian Schrapper] von der Uni Koblenz für die Allgemeinen | |
Sozialen Dienste (ASD) der Stadt Hamburg durchführte. In etlichen der 35 | |
Abteilungen, so sein Fazit, sei „die Grenze einer noch ausreichend | |
zuverlässigen Kinderschutzarbeit bereits deutlich unterschritten“. | |
Die ASDs, wie in Hamburg die Jugendämter heißen, sind im Fokus der | |
Aufmerksamkeit, seit 2005 die siebenjährige Jessica ohne Wissen der | |
Behörden verhungerte. Und mit jedem neuen Todesfall, wie Lara-Mia 2009 und | |
Chantal 2012, flammt die Debatte wieder auf. Es gebe in Hamburgs | |
Jugendämtern „viel Kompetenz und Engagement“, schreibt Schrapper, der mit | |
einem 13-köpfigen Expertenteam Anfang Mai insgesamt 63 Einzelgespräche vor | |
Ort führte. Doch der Dienst sei in eine „negativ Spirale“ geraten. Das | |
vorrangige Problem sei eine über Jahre gewachsene Grundstimmung, in der es | |
kaum noch Zuversicht gebe, die ASD-Arbeit zufriedenstellend leisten zu | |
können. Seit dem Tod von Jessica sähen sich viele Fachkräfte von „immer | |
neuen Wellen besonderer Anforderungen und konzeptioneller Vorgaben | |
überrollt“. Dies führe aber nicht zu mehr Kompetenz. Die „gefühlte | |
Verunsicherung“ nehme sogar zu, so der Bericht. | |
So gebe es heute kaum noch den ASD-Mitarbeiter als „helfenden | |
Sozialarbeiter“, vielmehr sei er „Fallmanager“ und somit Vermittler von | |
Hilfen, aber „kein Helfer im direkten Sinne“. Doch das Jugendamt müsse vor | |
Ort sein, bevor das Kind in den Brunnen fällt. Dazu, so Schrapper, bedürfe | |
es einer „geistigen, konzeptionellen, aber auch persönlichen und | |
emotionalen Anwesenheit im Feld“. Die sei bei den meisten ASD-Abteilungen | |
„nur sehr eingeschränkt möglich“. | |
Die Politik richte sich zudem zu sehr nach der veröffentlichten Meinung. | |
Die Presse tue ihr Übriges, um Probleme in die Diskussion zu bringen und | |
dort „auflagenstabilisierend zu halten“. Wenn in nur einer der 35 | |
ASD-Abteilungen etwas vorfalle, seien gleich alle im Fokus. | |
Schrapper führt die Lage auch auf die Situation einer Großstadt zurück und | |
fordert eine andere Medienarbeit vom Senat. Notwendig sei eine Kampagne für | |
mehr Anerkennung der ASDs. Sie solle zum Auftrag des Kinderschutzes stehen | |
aber „keine falschen Versprechungen machen“. | |
Zuforderst aber müsse die Arbeitsfähigkeit der 35 ASD-Abteilungen | |
„erhalten, gepflegt oder überhaupt erst wieder hergestellt werden“. | |
Die Fallzahl pro Mitarbeiter sei in vielen Abteilungen so hoch, dass | |
Risikolagen nicht qualifiziert überprüft werden könnten und nicht | |
offensichtliche Krisenfälle „unterkomplex“ bearbeitet würden. Das führe | |
auch zu einer sehr schnellen Verfügung von externen Erziehungshilfen. | |
Hamburg solle im Zuge eines Expertenworkshops eine „Fallobergrenze“ für den | |
einzelnen Mitarbeiter festlegen. Außerdem soll dafür gesorgt werden, dass | |
es in den Teams auch erfahrene Mitarbeiter sowie ausreichend | |
Krankenvertretung und Verwaltungsentlastung gibt. | |
Die Arbeitsfähigkeit der Teams soll regelmäßig durch die Mitarbeiter selbst | |
bewertet werden. Deutliche Kritik gibt es am Auftraggeber, der Hamburger | |
Sozialbehörde. So müsse künftig durch eine neue „Verträglichkeits-Prüfun… | |
verhindert werden, dass diese die ASD-Arbeitsfähigkeit durch neue Vorgaben | |
beeinträchtigt. | |
Landesjugendamtsleiter Uwe Riez sieht keinen Anlass zur Selbstkritik. Man | |
sei mit der 2005 begonnen Neuausrichtung der ASD, zu der die neue Software | |
„JUS IT“ gehört, auf dem richtigen Weg. Riez: „Wir glauben, dass das vor | |
Ort nicht konsequent genug umgesetzt wurde.“ Das Problem liege in der | |
mittleren Führungsebene. | |
Das Lagebild habe die Behördenleitung nicht überrascht, ergänzte Staatsrat | |
[2][Jan Pörksen]. Es sei Basis für ein Qualitätsmanagement, das der | |
SPD-Senat im Frühjahr nach dem Tod von Chantal angekündigt hatte. „An den | |
meisten Problemen arbeiten wir schon.“ So bemühe man sich verstärkt, freie | |
Stellen zu besetzen und die Fluktuation der Mitarbeiter einzudämmen. Auch | |
werde das Papier bald Thema einer Personalversammlung sein. | |
Eine Fallzahlobergrenze pro Mitarbeiter soll es so nicht geben. Stattdessen | |
soll das im Mai eingeführte Software-System messen, wie viel Zeit ein | |
Mitarbeiter für einen Vorgang braucht und dann der Aufwand nach Fallarten | |
sortiert werden. Ab 2013 dann soll ein „work flow basiertes | |
Personalbemessungssystem“ entwickelt werden. | |
Ver.di fordert schnellere Konsequenzen. „Es besteht die Gefahr, dass dies | |
wieder Jahre dauert und nur die Zeit, die am Computer gearbeitet wird, | |
misst“, sagt Fachsekretärin Sieglinde Friess. Ver.di warne seit Jahren vor | |
der hohen Belastung der ASDs durch gestiegene Armut und erhöhte | |
Dokumentationspflichten. Die Studie sei „ein Armutszeugnis für die | |
Politik“. Es sei gut, dass die Kollegen angehört wurden. Friess: „Nun muss | |
man sie auch ernst nehmen.“ | |
19 Jul 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.vpk.de/documents_public/schwierige_kinder.doc | |
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Jan_P%C3%B6rksen | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
## TAGS | |
Jugendamt | |
Jugendamt | |
Hamburg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Probleme mit dem Jugendamt: Hamburg richtet Ombudsstelle ein | |
Als erster Bezirk hat Mitte nun eine Ombudsstelle für Bürger eingerichtet, | |
die Probleme mit dem Jugendamt haben. Kritiker bezweifeln Unabhängigkeit. | |
Daten-Verwaltung im Jugendamt: Umstrittene Software gestoppt | |
Sozialsenator lehnt Ausweitung des Verwaltungsprogramms JUS IT auf | |
Sozialämter ab. Linke fordert Abschaffung auch bei Jugendämtern | |
Sonderausschuss "Chantal": Drogentests für Familien | |
Der Sonderausschuss "Chantal" endet mit nicht ganz einstimmiger Empfehlung. | |
Personalbedarf, Kontrolle der Jugendämter und Drogentests sind weiter | |
umstritten. | |
Problemfall Jugendämter: Mängel in Pflege-Akten | |
Bericht deckt Fehler bei Fallbearbeitung der Jugendämter auf. Sozialsenator | |
verspricht Personalbemessung. | |
Konsequenzen aus dem Fall Chantal: Ärzte sollen Kinder schützen | |
In Hamburg sollen substituierte Eltern ihre Ärzte von der Schweigepflicht | |
entbinden, damit sie das Jugendamt informieren können. Es gibt aber keinen | |
Zwang. | |
Nicht hingucken geht nicht: Tragischer Kreislauf | |
Den Tod von Kindern können wir nicht hinnehmen. Aber ein anderer Blick wäre | |
nicht schlecht.Kinderschutz heißt auch Eltern stärken, braucht Zeit und | |
Vertrauen. | |
Jugendstrafe für Mutter von Lara Mia: Nie Schlimmes gewollt | |
Ihre Tochter starb, unterernährt, mit zehn Monaten. Jessica R. habe den Tod | |
in Kauf genommen, urteilt das Hamburger Landgericht - drei Jahre | |
Jugendhaft. Ein milderes Urteil hatte der Bundesgerichtshof verworfen. | |
Unterstützung für Eltern: Helfen will erforscht sein | |
Der Hamburger Senat will Einzelfall-Hilfen zur Ausnahme erklären, doch | |
Experten warnen davor. Die Wohlfahrtsverbände wollen am neuen Konzept | |
mitarbeiten. |