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# taz.de -- Beschneidung als Kur gegen Masturbation: Hände auf die Bettdecke!
> Die männliche Beschneidung ist nicht nur ein Teil der jüdischen und
> islamischen Identität – auch Christen propagierten sie: um die Onanie zu
> bekämpfen.
Bild: Na, wer wird denn da...?
Gibt es ein Menschenrecht auf Vorhaut? Auf diese Formel ließe sich die
derzeit in Deutschland geführte Beschneidungsdebatte bringen – doch der
Diskurs ist vielfältig überlagert, vor allem von religiösen Interessen.
Längst geht es nicht mehr nur um die Vorhaut des Mannes, sondern um
Weltumspannendes: Christen gegen Islam und Judentum, westliche Moderne
versus Tradition. Um Identität, um Integration. Aber wie halten es
eigentlich die Christen mit der Beschneidung?
Das Christentum, jene sektiererische Abspaltung des Judentums, grenzte sich
zunächst von der jüdischen Praxis ab, um Differenz herzustellen; schon
Paulus von Tarsus propagierte: „Wer glaubt, durch die Beschneidung heilig
zu werden, ist auf dem Irrweg.“ Die weltweit schätzungsweise 400 Millionen
muslimischen Männer verdanken ihren beschnittenen Penis hingegen – wenn die
Überlieferung stimmt – dem Umstand, dass Mohammed ohne beziehungsweise mit
verkürzter Vorhaut auf die Welt gekommen sein soll. Die Beschneidung wird
zwar im Koran nicht erwähnt, ist aber in der Sunna beschrieben, heute
wichtiger Bestandteil des Islam, und wurde zu einem wichtigen Baustein
kultureller Identität.
Der moderne angloamerikanisch-christliche Beschneidungsdiskurs beginnt
hingegen erst in der Neuzeit und fußt auf Sexualkontrolle. Bereits im 18.
Jahrhundert empfahl der katholische Schweizer Arzt Samuel Tissot die
Beschneidung als Kur gegen Masturbation, die er nicht nur als Ursache
jugendlicher Rebellion, sondern auch von Hysterie und Neurosen ansah. Die
„Krankheit Onania“ galt es mit allen Mitteln zu bekämpfen, sei es mit Hilfe
abenteuerlichster Apparaturen wie einem umschnallbaren Metallprotektor –
oder eben der Beschneidung.
Eine Idee, die vor allem in der britischen Oberschicht breiten Widerhall
fand – bis heute übrigens – und sich über das Commonwealth verbreitete. In
den puritanisch geprägten USA fiel die Idee schließlich auf fruchtbaren
Boden, etliche Publikationen priesen dort ab Mitte des 19. Jahrhunderts die
Beschneidung als probates Mittel der Triebkontrolle.
So schrieb der Arzt Athol A. W. Johnson im Jahr 1860 in einem medizinischen
Fachblatt: „In Fällen von Masturbation müssen wir, wie ich glaube, die
Angewohnheit brechen, indem wir die betreffenden Körperteile in einen
solchen Zustand bringen, dass es zu viel Mühe macht, mit der Praktik
fortzufahren. Zu diesem Zweck, falls die Vorhaut lang ist, können wir den
Patienten beschneiden. Auch sollte die Operation nicht unter Chloroform
vorgenommen werden, so dass der erlittene Schmerz mit der Angewohnheit, die
wir auszurotten wünschen, in Verbindung gebracht werden kann.“
## Komplett veränderte Sensorik
In der Tat gestaltet sich die Masturbation nach einer Entfernung der
Vorhaut oft schwieriger, manchmal kann sie nur noch unter Zuhilfenahme von
Gleitflüssigkeiten bewerkstelligt werden. Bei den meisten
Beschneidungsformen wird ein großer Teil der sogenannten Meissner’schen
Tastkörper entfernt, die sich im vorderen Drittel der Vorhaut befinden und
von zentraler Bedeutung für die Sensibilität des Organs sind. Kombiniert
mit der „Verhornung“ beziehungsweise „Keratinisierung“ der Eichel ergibt
sich so eine komplett veränderte Sensorik: eine Desensibilisierung.
Bis heute gehen etwa die Hälfte der amerikanischen Jungen nach der Geburt
ihrer Vorhaut verlustig, argumentiert wird jedoch nicht mehr
autoritär-moralisch, sondern hygienisch-medizinisch. Der Diskurs hat sich
verschoben, das tradierte Handlungsmuster bleibt – auch wenn sich
Widerstand in Form von organisierten Beschneidungsgegnern regt, in den USA
wie auch in Israel.
Im „gesunden Volksempfinden“ hat sich jedenfalls in Bezug auf die
Beschneidung der Juden wie auch auf die der Muslime eine Deutung in der
Tradition des Gesundheits- und Hygienediskurses durchgesetzt: Angesichts
der Wasserknappheit und der Hitze in der Region des Nahen Ostens sei es –
Robert Kochs bakteriologische Erkenntnisse quasi weit vorwegnehmend – eine
gesundheitspolitisch kluge Idee gewesen, den Männern die Beschneidung
abzufordern.
Auch in vielen anderen – etwa afrikanischen – Kulturen finden sich Formen
der Beschneidung; es handelt sich fast immer um Initiationsrituale, in
denen eine bewusste Krisensituation herbeigeführt wird, um Männlichkeit
herzustellen. Auch das Motiv der Sexualkontrolle ist durchweg von Bedeutung
– eine etwas spielverderberisch anmutende Desensibilisierung, die zugleich
die überlebensnotwendige Fruchtbarkeit nicht einschränkt.
Entwurfstechnisch betrachtet, ist die Vorhaut übrigens ganz einfach ein
Stück Zusatzhaut, das den Größenunterschied zwischen erschlafftem und
erigiertem Penis ausgleicht. Wer immer sich das ausgedacht hat – das Ding
ist, kühl betrachtet, sinnvoll.
20 Jul 2012
## AUTOREN
Martin Reichert
## TAGS
Besser
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