# taz.de -- Kommentar Beschneidungen: Männer kennen keinen Schmerz | |
> Politisch ist einiges in Schieflage geraten. Die Unversehrtheit des | |
> Kindes ist dem deutschen Bundestag egal. Weil man den Schmerz des Jungen | |
> nicht ernst nimmt. | |
Du bist für das Kopftuch, aber gegen Beschneidungen“, sagte kürzlich | |
kopfschüttelnd der Kollege Daniel Bax – als sei das ein Paradox. Daraufhin | |
verfasste er einen Leitartikel, in dem er die Bundestagsresolution für eine | |
straflose Beschneidung kleiner Jungen lobte. | |
Deren Gegner seien Menschen, die mit „zu viel Fremdheit ein Problem haben“, | |
seien es Minarette, Kopftücher oder andere „Bräuche“ – wie die | |
Beschneidung. In den Augen meines Kollegen bin ich, platt gesprochen, von | |
der Fraktion der Islamversteher („Kopftuch ist okay“) zu der der | |
Islamhasser mit antisemitischem Touch („Beschneidung ist falsch“) | |
übergetreten. | |
Wirklich? Ich habe eher den Eindruck, als sei im Moment religionspolitisch | |
einiges in Schieflage geraten. Ergebnis: Eine Mehrheit des Bundestages | |
beeilt sich, eine Körperverletzung an Kindern zu legalisieren. Bei der | |
Abwägung der Religionsfreiheit gegen die körperliche Unversehrtheit geben | |
sie der Religionsfreiheit den Vortritt. Das ist ein unglaublicher Vorgang. | |
Mit demselben Argument könnte man die Genitalverstümmelung an Mädchen | |
legalisieren. Bei der wir uns aber im Gegenteil größte Mühe geben, sie | |
weltweit zu ächten. | |
Die Verletzung des Jungen bei der Beschneidung sei damit nicht | |
vergleichbar, heißt es. Er könne im Gegenteil zu dem Mädchen keine | |
dauerhaften Verletzungen und Einschränkungen erleiden. Das aber stimmt | |
nicht. Verwachsungen und Entzündungen drohen. Und eine verhornte Eichel | |
ohne Schutz ist weniger sensibel als die Eichel samt Vorhautgewebe. | |
Das ist sicherlich weniger furchtbar als die weibliche | |
Genitalverstümmelung. Aber es ist ebenfalls ein schmerzhaftes Risiko, ein | |
Eingriff in die Unversehrtheit des Jungen, die in extremen Fällen zum | |
Verlust des Penis oder auch zum Tod führen kann, in harmloseren aber | |
ebenfalls so schiefgehen kann, dass er keinen Geschlechtsverkehr ohne | |
Schmerz erlaubt. | |
## Schmerz der Beschneidung ist ein unmittelbarer Eingriff | |
Die Unversehrtheit des Kindes aber ist dem deutschen Bundestag offenkundig | |
egal. Warum? Weil man den Schmerz des Jungen nicht ernst nimmt. Männer | |
kennen keinen Schmerz. Sie ertragen auch den Eingriff in ihre Intimzone, | |
ohne zu klagen. Wer wollte noch mal neue, sensible Männer? Anscheinend nur | |
zahlreiche Schwule in den USA, die auf der Suche nach Sexualpartnern vor | |
allem nach Unbeschnittenen Ausschau halten. | |
Haben die deutschen Christen und Atheisten das Recht, über die „Bräuche“ | |
ihrer Minderheiten, Juden und Muslimen, den Stab zu brechen? Nein, sagt | |
Daniel Bax. Diese Gruppen sollen lieber interne Debatten führen. Das kann | |
als Standpunkt nicht ausreichen. Denn ebenso wie die | |
Religionsgemeinschaften stehen auch die Kinder unter besonderem Schutz des | |
Staates, und zwar auch die, die einer Minderheit angehören. | |
Man kann Minarette, Kopftücher und Körperverletzungen nicht in einen Topf | |
werfen. Minarette tun niemandem weh. Kopftücher können abgesetzt werden. | |
Aber der Schmerz der Beschneidung ist ein unmittelbarer Eingriff. Ohrfeigen | |
sind verboten, aber Organe zerschneiden ist erlaubt? Die Beschneidung ist | |
nicht nur ein „Brauch“. | |
Was aber tun mit dem religiös so eindeutigen Diktat des partiellen | |
Menschenopfers, das Gott Abraham abverlangte und das auch Muslime als | |
Zeichen des männlichen Bundes mit Allah praktizieren? Von der mindestens | |
genauso apodiktischen Drohung mit Parallele zum Holocaust, dass jüdisches | |
Leben dann in Deutschland nicht mehr möglich sei, sollten wir noch einmal | |
in Ruhe zurücktreten. Ins Gespräch kommen. Die innerjüdische und | |
innermuslimische Debatte bekannt machen. Und dann: Alternativen suchen. | |
Weniger wegschneiden, später schneiden mit Einwilligung des Patienten, | |
Ersatzrituale finden. | |
Dafür braucht es Zeit und eine gesellschaftliche Debatte. Die Regierung | |
täte also gut daran, die Debatte nicht abzuwürgen mit einem | |
Schnellschussgesetz. Stattdessen könnte in das Gesetz ein Moratorium | |
eingebaut werden: Vorerst wird nicht bestraft, aber wir müssen uns in den | |
nächsten Monaten und Jahren etwas überlegen. Mit dieser Zumutung müssen | |
religiöse Minderheiten in Deutschland leben. Wenn sie die Debatte völlig | |
abblocken, negieren sie ein fundamentales Menschenrecht. Das geht nicht. | |
Denn die Religionsfreiheit wiegt viel – aber keinesfalls mehr als das | |
Recht, ein vollständiger Mensch zu bleiben. | |
23 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Heide Oestreich | |
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