# taz.de -- Türkischer Botschafter in Deutschland: „Wir haben mehr Fragen al… | |
> Noch immer fühlen sich viele Migranten bedroht, sagt der türkische | |
> Botschafter Hüseyin Karslioglu. Der deutsche Staat könne mehr dagegen | |
> tun. | |
Bild: Deutsch-Türken in Berlin. | |
taz: Herr Karslioglu, Sie sind seit Januar als Botschafter der Türkei in | |
Deutschland. Zu Ihren ersten Amtshandlungen gehörte es, am Staatsakt für | |
die Opfer der NSU-Terrorzelle, unter denen mehrere türkische Staatsbürger | |
waren, teilzunehmen. Wie erklären Sie es sich, dass diese Morde so lange | |
unaufgeklärt bleiben konnten? | |
Hüseyin Karslioglu: Das können wir uns nicht erklären. Das müssen sich die | |
Deutschen und die deutschen Behörden selbst erklären. | |
Wie beurteilen Sie den Stand der Aufklärungsbemühungen? | |
Wir haben jetzt mehr Fragen als zuvor. V-Leute beim Thüringer Heimatschutz, | |
Verfassungsschutzleute, die in Kassel am Tatort waren, geschredderte Akten | |
in verschiedenen Behörden – das wirft ständig neue Fragen auf. | |
Glauben Sie, dass die vielen Untersuchungsausschüsse etwas bringen? | |
Ich hoffe es. | |
Zwei Drittel aller Einwanderer aus der Türkei sind türkische Staatsbürger, | |
rechtlich gesehen also Ausländer. Hält die Türkei zu sehr an ihren | |
Staatsbürgern fest? | |
Wir wollen, dass sich die Menschen aus der Türkei hier gesellschaftlich | |
engagieren, dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen. Aber | |
Integration ist keine Einbahnstraße. Waren die Opfer der NSU nicht | |
integriert? Trotzdem wurden sie ermordet. Ich glaube, dass die deutsche | |
Seite da mehr tun muss als die türkische – indem sie den Menschen Mut macht | |
und dafür sorgt, dass sie sich hier sicher fühlen. | |
Das ist seit den Morden des NSU nicht mehr so? | |
Nein, viele Migranten fühlen sich bedroht. Sie schauen sich um, ob ihnen | |
jemand mit einem Kanister in der Hand ins Haus folgt. Die Menschen melden | |
sich bei uns, wenn sie Hetzpost in ihrem Briefkasten finden, in ihrem | |
Keller ein Brand gelegt oder im Treppenhaus ein Kinderwagen angezündet | |
wurde. Wir führen bei uns eine Liste mit solchen Delikten, die meistens | |
nicht in die Presse kommen. | |
Was kann Deutschland tun, um das Vertrauen der Migranten in den deutschen | |
Staat wieder zu stärken? | |
Mehr Partizipationsmöglichkeiten schaffen. Merkwürdige Kampagnen wie diese | |
Vermisstenanzeigen … | |
… mit denen Innenminister Friedrich die Radikalisierung junger Muslime | |
bekämpfen will… | |
… tragen jedenfalls überhaupt nichts zur Integration bei. Die Zahl der | |
rechtsradikalen Straftaten ist um ein Vielfaches höher als die der | |
sogenannten islamistischen Delikte. Viele fragen sich, warum solche Plakate | |
nicht mit der Zeile versehen werden: Wir sehen unseren Sohn Hans nicht | |
mehr, vielleicht ist er in der rechtsradikalen Szene oder bei der | |
NSU-Zelle? | |
Das Innenministerium hat die Plakatkampagne vorerst gestoppt. Haben Sie | |
schon mit Herrn Friedrich darüber gesprochen? | |
Ich werde ihn demnächst treffen und das ansprechen. Wir sagen allen | |
türkischen Moscheevereinen, dass sie ihre Türen vor Extremisten | |
verschließen und nicht einmal mit ihnen reden sollen – weder mit Salafisten | |
noch mit Hetzern wie Pro NRW oder Pro Deutschland. Aber wir würden es | |
begrüßen, wenn auch die deutsche Politik mehr tun würde. | |
Zum Beispiel? | |
Seit der Mordserie ist bei vielen der Wunsch, neben der deutschen auch die | |
türkische Staatsbürgerschaft zu behalten, wieder stärker geworden – die | |
Menschen möchten einfach diese Sicherheit haben. Ich würde sowohl die | |
doppelte Staatsbürgerschaft wie auch das kommunale Wahlrecht begrüßen. | |
Die hiesigen Migrantenorganisationen fordern das schon seit 30 Jahren. Wie | |
sehen Sie deren Rolle? | |
Die Organisationen finden bei den Behörden nur dann Gehör, wenn es denen | |
gelegen kommt. Nehmen Sie diese Vermisstenanzeigen: Man sagt, dass die | |
muslimischen Organisationen über diese Kampagne informiert worden seien. | |
Das stimmt: Man hat ihnen gesagt, dass man eine solche Kampagne starten | |
will. Aber wie ich höre, hat man ihnen nicht die endgültige Version des | |
Plakats gezeigt. | |
Die Einwanderer aus der Türkei bestehen aus sehr unterschiedlichen Gruppen | |
– Türken, Kurden, Aleviten, Sunniten … | |
Ja, und das ist auch gut so. | |
Wie gehen Sie mit dieser Vielfalt um? | |
Ich bin der Botschafter aller, die sich der Türkei verbunden fühlen. Für | |
mich sind alle Menschen gleich, das schreibt mir schon mein Glaube vor – ob | |
sie Türken sind oder nicht, schwul oder lesbisch, gläubig oder ungläubig. | |
Für mich macht es keinen Unterschied, wer an was glaubt, deswegen habe ich | |
auch die armenische und die aramäische Gemeinde besucht. | |
Die türkisch-sunnitischen Organisationen in Deutschland rücken stärker | |
zusammen. Hat das mit der religiösen AKP-Regierung in der Türkei zu tun? | |
Auch die Menschen hier haben sich geändert. Man ändert sich in einer | |
Gesellschaft, die demokratische Werte pflegt. Auch eine Organisation wie | |
Milli Görüs ist nicht mehr das, was sie in den 70er und 80er Jahren war – | |
sie hat sich geändert und ist demokratisch geworden. | |
Aleviten sehen diese Annäherung mit Skepsis. Was sagen Sie denen? | |
Wenn sich die Menschen zusammentun, was kann man dagegen haben? Ich | |
schreibe niemandem etwas vor. Und auch die Aleviten sind ja untereinander | |
gespalten: Die einen glauben, sie gehören dem Islam an, die anderen sagen, | |
sie seien eine ganz andere Religion. Wenn sie sich so empfinden, dann ist | |
das so. In Deutschland werden sie ja als eigene Gruppe mit eigenem | |
Religionsunterricht akzeptiert. | |
Sie haben selbst große Teile Ihrer Kindheit und Jugend in Deutschland | |
verbracht. Wie kam es dazu? | |
Mein Vater hat die Türkei nach dem Militärputsch Anfang der 60er Jahre | |
verlassen, weil er sich dort nicht mehr wohl fühlte. Er blieb in | |
Deutschland und wurde deutscher Staatsbürger. Seit 1975 lebt er in | |
Regensburg. | |
Und Sie? | |
Ich pendelte – erst zurück in die Türkei, dann wieder nach Deutschland, | |
dann habe ich in Istanbul ein deutschsprachiges Internat besucht. | |
Was sagt Ihr Vater dazu, dass sein Sohn heute Botschafter der Türkei in | |
Deutschland ist? | |
Anfangs war er wenig begeistert. Ich habe ihm gesagt: „Du hast immer über | |
die türkischen Diplomaten geschimpft, jetzt ist einer da, der sich mit | |
Deutschland auskennt, Deutsch kann und ein Gefühl für das Leben hier hat.“ | |
Das fand er okay. | |
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Jugend in Deutschland? | |
Die besten! Ich kam Anfang 1962, da war ich sechs Jahre alt, und ging hier | |
auf die Grundschule. Die schönsten Erinnerungen habe ich an „Oma Frieda“ �… | |
sie war Witwe, ihr Mann und ihre zwei Söhne waren im Zweiten Weltkrieg | |
umgekommen. Wir waren ihre Untermieter, und sie war so etwas wie eine | |
Ziehoma für mich – wir haben mit ihr Kreuzworträtsel gelöst, Fernsehen | |
dagegen mochte sie nicht. Ich erinnere mich auch gut an meinen Nachbarn | |
Harald, der mir beibrachte, wie man die Reifen vom Fahrrad flickt, an | |
meinen Freund Andreas und dessen Bruder Thomas, der 1.-FC-Köln-Fan war. | |
Wie hat diese Erfahrung ihren Blick auf die Türken in Deutschland geprägt? | |
Ich habe auch später viel Zeit in Deutschland verbracht und hier in den | |
Ferien gearbeitet – auf dem Feld bei dem Bauern, bei dem mein Vater wohnte, | |
oder im Krankenhaus. Und ich habe Landsleuten als Dolmetscher zu Behörden | |
begleitet und weiß, wie sie dort behandelt wurden – auch von türkischen | |
Konsulaten. Was ich da erlebt habe, hat mich auch motiviert, in den | |
diplomatischen Dienst einzutreten. | |
Inwiefern? | |
Die Menschen hier wurden von den Mitarbeitern in den Konsulaten geduzt, | |
herumkommandiert und verachtet. Die Staatsdiener benahmen sich nicht wie | |
Diener, sondern wie Herren. | |
Hat sich das verändert? | |
Ja – den Botschaftsmitarbeitern heute wird beigebracht, dass man die | |
Menschen nicht wie Bittsteller zu behandeln hat. Und die hiesigen | |
Gastarbeiter von einst haben heute ein höheres Bildungsniveau und lassen | |
sich auch nicht mehr alles gefallen. | |
Sie unterscheiden sich auch äußerlich stark von Ihren Vorgängern. Seit wann | |
tragen Sie Ihren Ohrring? | |
Seit ein paar Jahren. Ich trage ihn auch als Ermahnung an mich selbst. | |
Früher, im Osmanischen Reich, trugen die Sklaven Ohrringe, um sie von den | |
freien Menschen zu unterscheiden. Auch manche osmanische Sultane und | |
turkmenische Schahs trugen Ohrringe, um sich daran zu erinnern, dass sie | |
ein Diener Gottes und des Volkes sind. Auch ich bin ein Diener des Volkes. | |
Wegen Ihrer langen Haare wurden Sie in Zeitungsartikeln schon häufiger mit | |
einem Rockstar verglichen. Wie passen Sie damit zur religiös-konservativen | |
AKP, der Sie ja ihre Karriere verdanken? | |
Ich bin kein Parteimitglied. Diplomaten dienen dem Staat, nicht einer | |
Partei. Und Gitarre spielen kann ich auch nicht – würde ich aber gerne | |
können! | |
Sie waren ein enger Berater von Präsident Abdullah Gül. Wie eng ist Ihr | |
Verhältnis heute? | |
Wir telefonieren ab und zu – etwa wenn ich ihn bitte, mehr Druck zu machen, | |
damit die geplante deutsch-türkische Universität vorankommt. | |
Hören Sie denn wenigstens Rockmusik? | |
Wenig, eher Jazz oder Klassik. Meine Lieblingsseite auf meinem Tablet-PC | |
ist die, auf der man sich alle Radiostationen der Welt anhören kann – sogar | |
meinen Heimatsender aus Yozgat. | |
25 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
A. Wierth | |
D. Bax | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Türkei | |
Türken | |
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