# taz.de -- Marsch der Asylbewerber: Die Deutschen aufrütteln | |
> 30 AsylbewerberInnen, die von Bayern nach Berlin marschieren, kommen am | |
> Freitag am Ziel an. Sie prangern die Schikane der Residenzpflicht an. | |
Bild: Teilnehmer des Flüchtlingsmarsches. Hier in Leipzig. | |
Die Sportschuhe von Mohammed Tamin sinken in den Ackerboden, abgeerntete | |
Maisstängel brechen unter seinen Schritten. Links, am Ackerrand, wuchern | |
hüfthoch Brennnesseln und Unkraut. Schon einmal ist der 19-jährige Afghane | |
durch solches Gestrüpp gelaufen – im Jahr 2010, auf seiner Flucht in den | |
Bergen zwischen dem Iran und der Türkei. | |
Am Donnerstag ist er tief im Süden Brandenburgs unterwegs, zwischen Klein | |
Marzehns und Bad Belzig. Mit 29 anderen Flüchtlingen zieht er über den | |
Acker, Rucksack an Rucksack. Vorne läuft Turgay Ulu, der türkische | |
Kommunist mit der gelben „Freiheit“-Fahne, hinten schiebt Omid Moradian, | |
Kurde aus dem Iran, sein Fahrrad. | |
Gut 400 Kilometer hat der Tross da schon hinter sich, 100 Kilometer noch | |
vor sich: vom bayrischen Würzburg, wo die Asylbewerber am 8. September | |
aufbrachen, bis nach Berlin. „Wir treten in eine neue Phase des Protests“, | |
haben sie in einem Manifest erklärt. „Wir laufen, um die Isolation zu | |
durchbrechen.“ | |
Ein Protestmarsch von Flüchtlingen, quer durch die Republik, das hat es | |
noch nicht gegeben. Die Stimmung ist an diesem Tag gelöst. Ein Mann lässt | |
persische Popschnulzen über ein Megafon tönen, eine Frau schimpft darüber. | |
Andere singen, einer schlägt mit einer rot-schwarzen Fahne Äpfel vom Baum. | |
## Im Heim verzweifelt | |
Als der iranische Kurde Moradian erzählt, warum er unterwegs ist, verfliegt | |
die Leichtigkeit: Der 28-Jährige war als Student in der Opposition aktiv | |
und musste fliehen. Im Iran, sagt er, werden Menschen mit Waffen getötet, | |
„hier werden sie mit Lagern getötet“. Nachdem sich im Januar in Würzburg | |
wieder ein Flüchtling erhängt hatte, zogen Moradian und andere Asylbewerber | |
mit Zelten auf Marktplätze – zuerst in Würzburg, später auch in Regensburg, | |
Berlin, Düsseldorf, Osnabrück. Dann entschieden sie sich für den Marsch | |
nach Berlin. | |
Es soll Schluss sein mit Abschiebungen, sagen die Marschierer, mit der | |
isolierten Unterbringung, mit der Residenzpflicht, die ihnen untersagt, | |
ohne Erlaubnis ihren Landkreis zu verlassen. Diese Auflage haben die 30 | |
schon vor drei Wochen gebrochen, als sie die bayrische Grenze zu Thüringen | |
überschritten, ihre Aufenthaltspapiere zerrissen und in weiße Umschläge | |
packten, um sie nach Nürnberg zu schicken, ans Bundesamt für Migration. Die | |
Polizei stoppte sie nicht. Die Flüchtlinge seien ja namentlich bekannt, | |
hieß es. Salomon Wantchoucou, der aus Benin stammt, im | |
sächsisch-anhaltinischen Möhlau im Heim lebt und dort eine | |
Flüchtlingsinitiative gegründet hat, sagt, er habe keine Angst vor Strafe: | |
„Wir leben doch in Repression. Irgendwann muss man sich wehren.“ | |
Als sie das Dorf Rädigke erreichen, hallen ihre „Kein Mensch ist | |
illegal“-Rufe ins Leere. Die Jalousien an den Häusern links und rechts der | |
Hauptstraße sind geschlossen. Ein Hund bellt hinter einem Hoftor. | |
Schließlich treffen sie vor einem Haus mit mintgrün-bröckelndem Putz doch | |
noch zwei Frauen und einen Mann in grüner Latzhose. | |
Ja ja, sagt der Latzhosenträger, das mit dem Asyl gehe so nicht weiter. | |
Einer seiner Verwandten arbeite in einem Asylheim. „Ist kein Leben da drin, | |
viel zu klein, und die Hygiene! Also ich bin auf eurer Seite.“ Die | |
Protestierer lächeln. Die meisten, denen sie begegneten, sagt der iranische | |
Kurde Omid Moradian, wüssten gar nichts über Asylbewerber. Fast alle von | |
ihnen lebten ja außerhalb der Städte, in alten Plattenbauten, unsichtbar. | |
Ihr Marsch bringt sie wieder zurück in die Gesellschaft. Und rede man mit | |
den Leuten, sagt Moradian, seien fast alle „sehr, sehr nett“. | |
Die anderen, wie die Neonazis der NPD, die aufrief, den Flüchtlingstreck | |
mit „kreativen Aktionen“ zu stören, die, sagt Moradian, „gibt es überal… | |
Als die Rechten in Erfurt tatsächlich auftauchten, haben die Flüchtlinge | |
sie allerdings vertrieben. Schon vor ihrem Protestzug hatten sich die | |
Asylbewerber zwischen den Unterkünften vernetzt. In den Zeltlagern traten | |
einige in Hungerstreik, andere nähten sich den Mund zu. Schließlich | |
entschieden sie sich zum Marsch. | |
## Nur nicht aufgeben | |
Turguy Ulu, der Kommunist, der 15 Jahre in der Türkei in Haft saß, weil er | |
einem inhaftierten Oppositionellen zur Flucht verholfen haben soll, ist | |
schon einmal marschiert: von Istanbul nach Ankara, für Arbeiter einer | |
geschlossenen Fabrik. Er lehne ein Leben ohne Menschlichkeit ab, sagt Ulu, | |
blinzelt freundlich durch seine runde Brille. „Überall.“ | |
Nach fünf Stunden erreicht die Gruppe ihr Etappenziel, Bad Belzig. Zwei | |
Polizisten kommen vorbei. „Alles ruhig?“, fragt einer. Er ziehe ja den Hut | |
vor diesem Marsch und den Strapazen. | |
Würde die Polizei doch nur immer so sein, sagt Omid Moradian später. Er | |
denkt an gezielte Ausweiskontrollen: „Nur weil ich dunkel bin.“ Letzter | |
Stopp an diesem Tag ist das Asylbewerberheim am Stadtrand. „Bleiberecht | |
überall“, rufen die Protestläufer, als sie durch das offene Tor kommen, vor | |
die weißen Baracken mit den Hagebuttensträuchern. Ein paar Bewohner kommen | |
aus der Tür, darunter ein Liberianer, der seit neun Jahren hier lebt. „No | |
good here“, sagt er leise. | |
Die iranische Fotografin Mahdiyeh Kalhor, ehemals Philosophiestudentin und | |
eine der zwei Flüchtlingsfrauen auf dem Marsch, weiß, dass sich aus diesem | |
Heim wieder nur wenige ihnen anschließen werden. Sie weiß auch, dass die | |
Asylgesetze nicht gekippt werden, sobald sie nach Berlin kommen. Die junge | |
Frau mit den langen Locken und der Sonnenbrille hat acht Jahre in | |
Asylheimen verbracht – eine Zeit, die nicht vergehen wollte. „Die | |
Hauptsache ist“, sagt Kalhor, „dass wir jetzt wieder etwas tun, dass wir | |
kämpfen.“ | |
5 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
## TAGS | |
Unterbringung von Geflüchteten | |
Flüchtlinge | |
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