# taz.de -- Asyl in Mecklenburg-Vorpommern: Mitten im Leben | |
> 220 Asylbewerber sollen in Wolgast unterkommen. Nicht alle Wolgaster | |
> freut das. Jetzt gibt es einen Crashkurs in Willkommenskultur. | |
Bild: „Noch fremd in unserer Stadt“: Asylbewerber aus Ghana beim Erntedankg… | |
WOLGAST taz | Vom jüngsten Vorkommnis erzählt keiner von sich aus. Nicht | |
der Heimleiter, nicht der Bürgermeister, nicht der Pastor. Am Freitagabend | |
hat jemand einen dicken Knaller auf den Balkon geworfen. Die Fassade wurde | |
leicht beschädigt, die Flaschen im abgestellten Mineralwasserkasten | |
zerbarsten. Der Knall war so laut, dass die Nachbarn aufschreckten. | |
Vielleicht war es nur ein dummer Streich von gelangweilten Jugendlichen. | |
Vielleicht war es aber ein gezielter Angriff auf das Asylbewerberheim. Das | |
würde gar nicht ins Bild passen, das die Stadt vermitteln will: dass die | |
Wolgaster die Ausländer herzlich willkommen heißen. | |
Sonntagmorgen, die evangelische St.-Petri-Kirche ist voll, in der ersten | |
Reihe sitzt der Bürgermeister. Pastor Jürgen Hanke begrüßt die „noch | |
Fremden in der Stadt“, die Handvoll Flüchtlinge, die gekommen sind. Er | |
redet über Wohlstand und Überfluss. Asyl sei doch ein Menschenrecht, sagt | |
er. Niemand verlasse seine Heimat freiwillig. „Lassen Sie uns das tun, was | |
nötig ist, das diese Menschen hier heimisch werden.“ Nach dem | |
Erntedankgottesdienst gibt es einige Happen zu essen. | |
## Pastor Hankes Eifer | |
Dass der Pastor so eindrücklich redet, liegt daran, dass sich einige in | |
Wolgast drastisch gegen das neue Asylbewerberheim ausgesprochen haben. | |
[1][Diese Leute wurden vor drei Wochen im Fernsehen gezeigt.] Seitdem dreht | |
sich hier alles um die Flüchtlingsunterkunft. In Wolgast, einem | |
12.000-Einwohner-Städtchen im Norden von Mecklenburg-Vorpommern, dem „Tor | |
zur Insel Usedom“, machen Politiker und Einwohner eine Lehrstunde durch: Es | |
geht um den Umgang mit Fremden und Rechtsextremismus – und um die Angst vor | |
schlechtem Image. | |
Das Plattenbauviertel Wolgast-Nord liegt ein Stück vom Stadtzentrum | |
entfernt, den Hügel hinauf. In einem der sechsstöckigen Blöcke wohnen jetzt | |
Flüchtlinge aus Afghanistan, Iran, Russland, der Türkei und Ghana, 75 sind | |
es inzwischen. | |
Im Eingang Nr. 42 hat Heimleiter Jörg Wojciechowski sein Büro, die Tür | |
steht offen, ihn und seine zwei Kolleginnen nennen sie hier liebevoll | |
„Chef“. Im Nebenraum werden die Erntedankgaben verteilt, Mehl, Müsli, | |
Äpfel. Viele Wolgaster haben ihre Hilfe angeboten. So wie die Frau, die | |
sich am Montagnachmittag mit zwei afghanischen Müttern und ein paar Kindern | |
an den Tisch setzt. Sie spielen Karten und lernen deutsche Wörter. Die | |
Stadt plant eine Willkommensfeier, auch die Landrätin will die Flüchtlinge | |
persönlich begrüßen. Vieles war ohnehin angedacht, aber durch die Aufregung | |
um den Fernsehbeitrag passiert jetzt alles schneller und intensiver. Ein | |
Crashkurs in Willkommenskultur. | |
[2][Die Bilder, die das Fernsehteam des NDR eingefangen hatte, waren | |
erschreckend.] „Heute sind vor tolerant – morgen fremd im eigenen Land“, | |
hat jemand an eine Hauswand gesprüht. Zu recht, meint eine Nachbarin. | |
„Reicht das nicht, dass die Kanacken hier sind?“ Ein anderer erzählt von | |
dem Gerücht, dass jemand das Haus anstecken möchte. Es werden Erinnerungen | |
wach an das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Aus einem Fenster des | |
Nachbarblocks schallt laute Nazi-Musik auf die Wiese hinter dem Heim. | |
Flüchtlingskinder, die den Text nicht verstehen, tanzen dazu. | |
Die Fernsehmacher haben Wellen ausgelöst, die teils parallel liefen, teils | |
gegenläufig. Die Stadt wurde aufgewühlt, der Kreis, das Bundesland und dann | |
schwappte eine Welle auch in den Rest der Republik. Beleidigte Wolgaster | |
schickten Briefe an den Sender, beschwerten sich über die | |
„Sensationshascherei und grottenschlechte Recherche“. | |
## Flüchtlinge im sozialen Brennpunkt | |
Es kam aber auch ein offener Brief nach Wolgast. Die Kampagne „Stop it!“, | |
die sich für die Abschaffung von Flüchtlingslagern einsetzt, hat ihn | |
initiiert. [3][Man sehe die Entwicklungen in Wolgast „mit Sorge“, heißt es | |
darin.] „Was tun Sie dafür, dass sich die Flüchtlinge frei und ohne Angst | |
in Wolgast und Umgebung bewegen können?“, fragen die Unterzeichner, | |
darunter auch Claudia Roth und Renate Künast von den Grünen und | |
Bundestagsabgeordnete der Linkspartei. Kritik kam auf: Warum wurde das | |
Wohnheim ausgerechnet in einen sozialen Brennpunkt gesetzt? | |
Stefan Weigler ist Wolgasts Bürgermeister, parteilos, 33 Jahre alt. Den | |
Fernsehbeitrag fand er unterirdisch, sagt er, die Stadt sei diffamiert | |
worden. Hetze statt Aufklärung, indem man ein paar Verlierern das Mikrofon | |
hinstreckt. Dabei sei Wolgast doch 2008 als „Ort der Vielfalt“ | |
ausgezeichnet worden. | |
Zuständig für die Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber, wie das Heim | |
offiziell heißt, ist der Landkreis. Nachdem man im Frühjahr von der | |
Zuweisung erfahren habe, habe man den bestmöglichen Standort gesucht und | |
gefunden, heißt es dort. Der Leiter des Sozialamtes betonte, die Unterkunft | |
liege „mitten im Leben“. | |
Es scheint, als haben die Verantwortlichen die Brisanz unterschätzt. Sie | |
haben offenbar nicht bedacht, dass es nicht viele Leute braucht, um die | |
Stadt in ein schlechtes Licht zu rücken. Nun haben sie reagiert: | |
Naziparolen und rassistische Aufkleber sind nicht mehr zu sehen. Der | |
nächtliche Wachschutz wurde verstärkt, die Polizei kommt regelmäßig auf | |
Streife vorbei. | |
## „Wolgast good“ | |
An diese Sicherheitsmaßnahmen denkt Gorav Sethy nicht, wenn er sagt: | |
„Wolgast good. Ich mag die Freiheit hier.“ Der Mann lächelt selig. Er ist | |
Ende zwanzig, hat bisher in Kabul gelebt. Als Hindu sei er dort | |
diskriminiert worden, sagt er. Er konnte den Tempel, in dem er wohnte, kaum | |
verlassen. Zu gefährlich. Er hat jemanden gefunden, der ihn, seine Frau und | |
seinen zweijährigen Sohn rausbringt. Als er aus dem Flugzeug stieg, sagte | |
man ihm, dass sie jetzt in Deutschland sind. | |
Es steht jetzt schon fest, dass mehr Flüchtlinge kommen werden, 220 sollen | |
es bald sein. Drei Eingänge des Wohnblocks sind schon in Benutzung, der | |
vierte Teil steht bereit, im fünften sind gerade Handwerker. Bernhard | |
Mierzwa arbeitet hier, Mitte 50, in Wolgast geboren und aufgewachsen. Was | |
der Elektriker im Blaumann sagt, zeigt, dass eine uneingeschränkte | |
Willkommenskultur ein Wunschtraum ist. | |
„Ich will nicht, dass was passiert“, sagt er. „Ich will nicht, dass es hi… | |
brennt.“ Aber ihm komme das alles ein bisschen komisch vor: „Sind ja nicht | |
mal alte Neger.“ Die haben ja neue Handys, so arm können sie also gar nicht | |
sein. Und sie müssen ja ihren Schlepper bezahlen. Und wenn sie dann klauen? | |
Viele in Wolgast sähen es gar nicht gern, dass die Asylbewerber hier sind, | |
sagt Bernhard Mierzwa. „Es sind zu viele für unsere kleine Stadt.“ Er füh… | |
in die Wohnung, die gerade hergerichtet wird und zeigt aus dem Fenster. Man | |
erzähle sich schon, sagt er, dass im ganzen Karree Ausländer angesiedelt | |
werden sollen. Er wähle nicht braun, das vorneweg, aber als er den Flyer | |
las, da hab er sich schon gedacht, ob nicht was dran sei, dass alles zu | |
teuer ist. Nicht nur er, viele in Wolgast erfuhren von dem Asylbewerberheim | |
als Erstes durch ein Flugblatt im Briefkasten – von der NPD. | |
## Aufklärung per Infozettel | |
„Vielleicht hätte man schneller reagieren müssen“, sagt der Bürgermeister | |
heute. Aber sie hätten selbst noch gar nicht genügend Informationen gehabt. | |
Jetzt will die Stadt ein Infoblatt an alle Haushalte verteilen. | |
Ob das Osei Yan Poku helfen wird, wenn er in der Stadt unterwegs ist? Er | |
ist 28, kommt aus Ghana, ein stämmiger Typ. „Deutschland ist hart“, sagt | |
er. Er meint die Kälte, die Langeweile und wie sie ihm begegnen. Er zeigt | |
dem Heimleiter, wie die Leute ihn feindselig mit verschränkten Armen | |
anschauen, wenn er in der Stadt unterwegs ist. Für manche sei es eben das | |
erste Mal, dass sie einen schwarzen Menschen sehen, entgegnet Wojciechowski | |
freundlich. | |
Wolgast hat keine ausgeprägte Nazi-Szene, wie es sie in vielen anderen | |
Teilen der Region gibt. Schon eher hat die Stadt ein Problem mit | |
Einwohnern, die für rechtsextreme Parolen empfänglich sind. 9,7 Prozent | |
wählten bei der Landtagswahl vor einem Jahr die NPD. | |
Wojciechowski sagt den Nachbarn, schaut euch die Wohnungen an! Es ist gar | |
nicht alles so luxuriös wie behauptet, enge Zimmer, Doppelstockbetten, nur | |
das Nötigste. Und er sagt, die Flüchtlinge nehmen euch keine Arbeit weg, | |
weil sie gar nicht arbeiten dürfen, auch wenn sie das wollen. Überhaupt, | |
die meisten sind doch gut ausgebildet, Informatiker, Ingenieure. Sobald sie | |
dürfen, sind sie weg, nach Berlin, Hamburg oder sonst wohin. Bis es so weit | |
ist, kann es Jahre dauern. „Es macht ganz viel Spaß, hier zu arbeiten. Ich | |
würde nichts anderes machen wollen“, sagt Jörg Wojciechowski. Er war vorher | |
in der Erwachsenenbildung und hat sich spontan auf die Stelle beworben. | |
## „Das kriegen Sie nicht weg“ | |
„Es muss ja furchtbar für die Asylbewerber sein, wenn jetzt alle an ihnen | |
rumzerren“, sagt Pastor Hanke. Seit dreieinhalb Jahren lebt er in Wolgast, | |
es ist seine letzte Stelle vor dem Ruhestand. Es brauche „keine | |
übertriebene Herzlichkeit“, sondern man müsse genau schauen, was die | |
Flüchtlinge eigentlich benötigen. | |
„Trotz allem ziehe ich nach dem Fernsehbeitrag ein positives Fazit“, sagt | |
Stefan Weigler, der Bürgermeister. Es bewege sich jetzt viel in der Stadt. | |
Aber es werde immer Leute geben, die gegen Asylbewerber sind, sagt Weigler. | |
„Das kriegen Sie auch nicht weg.“ | |
Zumindest der Mann, der mit der Nazimusik den ganzen Block beschallte, | |
macht das jetzt nicht mehr. Die Polizei durchsuchte seine Wohnung und | |
stellte CDs sicher. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn. Es stellte | |
sich heraus, dass der polizeibekannte Rechtsextremist gar nicht hier | |
gemeldet war. Er ist, das ist dem Bürgermeister wichtig, gar kein | |
Wolgaster. Der Nazi kommt aus Saarbrücken. | |
10 Oct 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.ndr.de/regional/mecklenburg-vorpommern/wolgast115.html | |
[2] http://www.youtube.com/watch?v=9gV3LK3PjA8&feature=related | |
[3] http://stopitkampagne.blogsport.de/2012/09/28/offener-brief-an-verantwortli… | |
## AUTOREN | |
Sebastian Erb | |
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