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# taz.de -- Abtreibungsverbot in Polen: Lebensschützer und der „Fall Agata“
> Vergewaltigungsopfer haben in Polen ein Recht auf Abtreibung. Doch das
> hilft weder gegen Mobbing noch gegen falsche Beratung.
Bild: Neben Kinowerbung, Kampagnenbilder gegen Abtreibungen – Straßenszene i…
WARSCHAU taz | Vor vier Jahren suchte die 14-jährige Agata aus dem
südostpolnischen Lublin verzweifelt einen Arzt, der ihr helfen konnte. Sie
war nach einer Vergewaltigung schwanger geworden – und fühlte sich doch
selbst noch als Kind. Agata wollte abtreiben. Doch obwohl der Teenager das
Recht auf ihrer Seite hatte, begann für sie und ihre Mutter ein
Spießrutenlauf durch halb Polen.
Schuld daran waren vor allem radikale Pro-Life-Aktivisten und
sensationslüsterne Journalisten, die mit allen Mitteln versuchten, einen
Schwangerschaftsabbruch zu verhindern. Jetzt, vier Jahre später, gab der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg den beiden Frauen
recht – und verurteilte Polen zur Zahlung von 45.000 Euro Entschädigung und
16.000 Euro Prozesskosten.
Begonnen hatte die ganze Geschichte am 9. April 2008, als Mutter und
Tochter beim Staatsanwalt Lublin Agatas Vergewaltigung durch ihren
ebenfalls 14-jährigen Freund anzeigten. Als sich herausstellte, dass die
Jugendliche schwanger war, stellte der Staatsanwalt das Attest aus, das
nach polnischem Gesetz das Recht auf einen Abbruch bescheinigt. Doch das
staatliche Krankenhaus in Lublin forderte zusätzlich ein – rechtlich
nirgends vorgesehenes – Gutachten des Bezirksgynäkologen an.
## Einen Priester hinzugezogen
Mutter und Tochter suchten ein weiteres Krankenhaus auf. Dort teilte man
ihnen mit, dass der Eingriff lebensgefährlich für Agata sein könnte. Die
Mutter müsse per Unterschrift versichern, dass sie über dieses Risiko
aufgeklärt worden sei. Anschließend rief der zuständige Gynäkologe einen
Priester an und forderte diesen auf, ins Krankenhaus zu kommen und dem
Teenager ins Gewissen zu reden.
Nach der Sonderbehandlung* durch den Kleriker unterschrieb die 14-Jährige,
dass sie das Kind doch austragen wollte. Agata hatte es nicht gewagt, einem
Priester zu widersprechen. Ihre so gewonnene Erklärung präsentierte der
Gynäkologe triumphierend Agatas Mutter – und weigerte sich, den Eingriff
vorzunehmen.
Inzwischen hatten sich die Pro-Life-Anhänger Polens organisiert. Sie
forderten die Staatsanwaltschaft auf, Agatas Mutter das Sorgerecht für ihre
Tochter abzuerkennen. Das zuständige Familiengericht entschied blitzschnell
– im Sinne der Abtreibungsgegner: Noch in der Nacht wurde das Mädchen von
der Polizei von zu Hause abgeholt und in ein geschlossenes Heim für
Minderjährige in ihrer Heimatstadt Lublin gebracht.
## Einen Tag vor Ablauf der Frist
Dort wurde Agatas Handy weggeschlossen. Dann erschien ein weiterer
Priester, der der Jugendlichen erklärte, dass sie in eine neue Familie
eingewiesen werde, die die katholische Kirche für sie aussuchen werde.
Anschließend stieß noch ein Psychologe hinzu. Beide Männer versuchten, das
Mädchen zu überreden, das Kind doch zur Welt zu bringen. Vor Angst und
Aufregung setzten Wehen ein. Agata begann zu bluten, musste ins Lubliner
Krankenhaus gebracht werden, vor dem bereits Pro-Life-Anhänger und
Journalisten warteten.
Völlig verzweifelt wandten sich Mutter und Tochter nun an das Warschauer
Gesundheitsministerium. Dieses forderte – gegen in Polen geltendes Recht –
die Unterschrift dreier unabhängigen Zeugen. Diese sollten bestätigten,
dass Agata tatsächlich einen Schwangerschaftsabbruch wollte. Dann schickten
die Beamten Mutter und Tochter ins 500 Kilometer entfernte Danzig. Dort
endlich, am letzten möglichen Tag vor dem Verstreichen der legalen Frist,
nahm ein Gynäkologe den Abbruch vor.
Nun, vier Jahre später, urteilten die Richter am Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte in Straßburg, dass Polen als Staat Agata grausam
behandelt und erniedrigt habe, sie willkürlich in einer geschlossenen
Anstalt festgehalten und ihr Recht auf eine geschützte Privatsphäre
verletzt habe.
Damit habe Polen nicht nur in drei Fällen gegen die Europäische
Menschenrechtskonvention verstoßen, sondern auch eine Staatsbürgerin Polens
daran gehindert, von dem ihr gesetzlich zustehenden Recht Gebrauch zu
machen. Polen als Rechtsstaat müsse seinen Bürgern garantieren, dass das
vom Gesetzgeber geschaffene Recht nicht „illusorisch“ sei, sondern
tatsächlich erfolgreich eingefordert werden könne, so die Straßburger
Richter.
*Anmerkung der Redaktion: Der Begriff „Sonderbehandlung“ wurde der Autorin
von der Redaktion in den Text redigiert. Wir entschuldigen uns für diese
missliche Wortwahl. Da bereits Leser auf diese Fehlleistung hingewiesen
haben, lassen wir den Ausdruck stehen.
31 Oct 2012
## AUTOREN
Gabriele Lesser
Gabriele Lesser
## TAGS
Schwerpunkt Abtreibung
Polen
Schwangerschaft
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